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Afterhour in der Taiga

Der Hinterhof des Nudelhauses in Nowosibirsk
Der Hinterhof des berühmt-berüchtigten Nudelhauses in Nowosibirsk. Hier wurde nach der Musik die Party gefeiert. | Foto: Graw Böckler

Internationale Elektro-Künstler*innen reisten 2015 nach Sibirien. Dort fand erstmals ein ausländischer Ableger des berühmten Berliner CTM – Festival for Adventurous Music and Art statt. Diejenigen, die dabei waren, erzählen von Asianudeln, Tanzwut und viel Wodka.
 

Von Silvia Silko

Ein sibirisches Sprichwort lautet: „Hundert Jahre sind kein Alter und tausend Kilometer keine Entfernung.“ Raum und Zeit unterliegen in Nowosibirsk, der Hauptstadt Sibiriens, den Maßstäben ihrer Bewohner*innen. Das vergangene Jahrhundert dürfte der Metropole tatsächlich rasant vorgekommen sein: Ihre Gründung verdankte die damals überschaubare Gemeinde der „Eisenbahnbrücke Nowosibirsk“, die im Jahr 1893 erbaut wurde und erstmals die Überquerung des Flusses Ob ermöglichte. Die Brücke ist eine der ausgedehntesten Brückenüberfahrten auf der Strecke der Transsibirischen Eisenbahn und Nowosibirsk längst die drittgrößte Stadt Russlands.

Entsprechend markiert Nowosibirsk das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum Sibiriens. Die Menschen zieht es auf der Suche nach Arbeitsplätzen hierher. Wichtige Wirtschaftszweige sind die Rüstungsindustrie und der Flugzeug- und Maschinenbau. Aktuell leben gut 1,6 Millionen Menschen in Nowosibirsk, Tendenz steigend. Trotz der Weite, die die Stadt umgibt, ist der Wohnraum knapp und sind die Mieten hoch. Das Stadtbild ist geprägt von imposanter Architektur, dem bis zu einem Kilometer breiten Fluss und unzähligen schmucklosen Plattenbauten.

„Nowosibirsk hat so eine ganz eigene Atmosphäre. Schon die Fahrt vom Flughafen bleibt einem in Erinnerung: Es kommt erst lange nichts – und auf einmal ist man in so einer spannenden Großstadt. Es herrscht ein direktes Nebeneinander von Moderne und Tradition. Da steht ein Hipstercafé neben viel Beton, neben einem alten Holzverschlag“, sagt die Musikerin Helena Hauff. Sie erzählt von der Farbpalette der Stadt – braun und grau – und davon, dass es ihr vorkam, als läge ein Filter über der Metropole. Dadurch wirke alles ein bisschen surreal, obwohl einem die harten Kanten der Stadt permanent bewusst seien.

2015 kam Helena Hauff das erste und bisher einzige Mal nach Nowosibirsk. Sie folgte damit einer Einladung des Berliner CTM – Festival for Adventurous Music and Art, das hier in Sibirien selbst zu Gast war: „Diese Zusammenarbeit kam durch das Goethe‑Institut zustande“, erklärt Jan Rohlf. Er ist Mitbegründer des CTM Festivals in Berlin, das vor 22 Jahren zum ersten Mal stattfand. Das CTM (ehemals „club transmediale“) konzentriert sich auf elektronische und zeitgenössische Musik und Kunst und findet dezidiert auch abseits üblicher Hotspots des Berliner Nachtlebens statt. Das Festival ist seit seiner ersten Ausgabe eine Kooperation mit der transmediale und gilt als eine der weltweit größten Plattformen für digitale Kultur.

„Eigentlich haben wir nicht die Absicht, unser Modell in andere Regionen zu exportieren und dort der Szene aufzuoktroyieren“, stellt Rohlf klar, „aber wir finden Zusammenarbeit und Vernetzung wichtig.“ Er erzählt, wie die damalige Leitung des Goethe‑Instituts in Nowosibirsk Akteur*innen elektronischer Musik und Kunst vor Ort kennenlernte und eine Zusammenarbeit mit dem CTM Berlin vorschlug. „Die Idee des Goethe‑Instituts war, die Szene in Nowosibirsk zu stärken, ihr Sichtbarkeit zu verleihen, eine Basis zu bilden für gegenseitigen Austausch und im besten Fall einen Impuls für eigene ähnliche Projekte zu setzen“, erklärt Rohlf. In enger Zusammenarbeit wurde ein Programm entworfen, das genau diese Ziele verfolgte und das Konzept des CTM mit sibirischem Leben füllte: Spannende Künstler*innen, lokal und international, trafen sich auf den Bühnen unüblicher oder besonderer Locations, hauptsächlich in Nowosibirsk, aber auch im 800 Kilometer entfernten Krasnojarsk.

„Die finale Show fand an einem ziemlich schrägen Ort in Nowosibirsk statt“, erinnert sich Helena Hauff. „Ich glaube, das war gar kein Klub, da wurden eigentlich gebratene Asianudeln verkauft. Die Betreiber müssen aber ein Faible für elektronische Musik gehabt haben. Jedenfalls klebten an den Wänden der umfunktionierten Nudelküche Sticker und selbstgemalte Porträts von DJs, die nie dort gewesen sind, aber die man offensichtlich gut fand“, erzählt sie. Die staatliche Philharmonie, das stylische RAGU – tagsüber Café, abends Bar, das mit Glasfront über den Dächern der Stadt aufwartet –, die Wissenschaftsbibliothek oder das moderne Globus Theater dienten ebenfalls als Schauplätze der sechstägigen Veranstaltung. „Die Stadt und ihre kulturpolitischen Akteure haben das CTM willkommen geheißen. Es wurde uns viel ermöglicht, wir durften offizielle Orte nutzen, und das ist ein wichtiges Zeichen der Wertschätzung für alternative Kultur“, stellt Jan Rohlf klar.

In Russland gelten Moskau und Sankt Petersburg nach wie vor als kreative Zentren, Nachwuchs wandert gerne dorthin ab. Die Szene in der Region um Nowosibirsk ist zwar vorhanden, aber die einzelnen Musiker*innen und Künstler*innen sehen sich oft als unbeachtete Randfiguren, wie der britische Journalist Luke Turner in seinem Artikel über das CTM Siberia beschreibt. Er schildert eine Szene, die für ein festes Musiknetzwerk manchmal zu weit verstreut ist, die sich zwar wahrnimmt, deren Infrastruktur jedoch noch ausbaufähig ist, und eine Klubkultur, die über wenig konstante Anlaufstellen verfügt – und vielleicht gerade deshalb unergründlich ist.

Turner fragt sich, inwiefern die Klublandschaften in Berlin oder London durch Gentrifizierung und Globalisierung einer gewissen Einheitlichkeit verfallen sind, durch die sie austauschbar werden. Sind die Taiga und ihre jungen Künstler*innen also ehrlicher? Roher? Möglicherweise. Allerdings sollte mit Vorsicht romantisiert werden: Gast sein ist einfach. Es ist ein Leichtes, die Schönheit des Ungeschliffenen zu bewundern, wenn sie nicht zum eigenen Alltag gehört, und man die Herausforderungen, die sie mit sich bringt, nicht selbst meistern muss.

„Ich glaube, die Musik, die in Sibirien entsteht, richtet sich eher nach innen. Es wirkte auf mich so, als würde sie hauptsächlich ohne Publikum, im eigenen Schlafzimmer entstehen. Grundsätzlich finde ich es aber schwierig, einen eigenen Sound der Region auszumachen“, sinniert Rohlf. Für Helena Hauff braucht elektronische Musik ihr Publikum. In einem Interview während der Coronapandemie, als Klubnächte nicht stattfinden konnten, erzählt sie davon, dass sie lieber DJane mit dicht besiedelter Tanzfläche ist, als Musik in einem Studio zu produzieren. Ihr würde sonst die Unmittelbarkeit fehlen und die Energie, die durch die Feiernden ausgelöst werde, erklärt sie. Das Publikum in Nowosibirsk erlebt Hauff vor allem als hungrig und exzessiv. „Vor meinem Set spielte Rabih Beaini aus dem Libanon. Er hat experimentelle Sachen aufgelegt, Krautrock und psychedelische Musik“, erzählt sie, „coole Sachen, auf jeden Fall! Aber eigentlich keine Musik, zu der man sich gut bewegen kann. Das Publikum war aber begeistert. Ich habe nie zuvor jemanden auf diese Art Musik so tanzen sehen!“

Helena Hauff ist 2015 längst eine internationale DJ-Größe. Die 33-Jährige startete ihre Karriere im Hamburger „Golden Pudel Club“, wo sie Resident-DJ war. Von da aus geht es schnell bergauf, sie wird weltweit für renommierte Clubs und Festivals gebucht. Das „Crack Magazine“ etwa bezeichnet sie als aufregendste Künstlerin der Gegenwart, und weltweit wird ihre Musik als konsequente Weiterentwicklung der Detroiter Anfangstage des Techno wahrgenommen und gefeiert. Sie klingt nach Post-Punk und Industrial, Helena Hauffs Kompositionen sind unnachgiebig, düster, energisch und rau. Kurz gesagt: Ihre Musik scheint ganz gut nach Sibirien zu passen. „Es hat großen Spaß gemacht, dort aufzulegen, weil alle so offen waren und Lust hatten. Manchmal braucht das Publikum eine Aufwärmphase – nicht so in Nowosibirsk. Das ging sofort ab, es wurde direkt und bis zum Ende getanzt“, erinnert sie sich. Ob die Asianudeln danach geschmeckt haben? „Klar! Ich war hungrig und es gab Wodka – da sind fettige Nudeln genau das Richtige“, sagt Hauff und lacht.

„Es gab viel Wodka. Er wurde gerne in Halbliter-Karaffen serviert“, erzählt Ursula Böckler. Wenn man in ein unbekanntes Land reise, habe man immer Vorurteile – und manchmal bestätigten sich einige von ihnen, sagt sie. Böckler bildet mit Georg Graw das Berliner Künstlerduo „graw böckler“. Gemeinsam kreieren sie experimentelle Videoarbeiten, Musikvideos und Fotostrecken. Seit 2006 gehören sie zum Orbit des CTM Festivals, nach Sibirien reisten sie, um für ihr Projekt „Let’s talk about the weather“ zu arbeiten. Das Wetter ist ein Smalltalk-Thema, manchmal sogar mit negativem Stigma: Übers Wetter spricht man, wenn man sich sonst nichts zu sagen hat, oder? „Wir finden, dass es eher eine einfache Möglichkeit der Öffnung ist. Über das Wetter kann jeder sprechen. Wenn man nach dem Wetter fragt, kommt immer eine Antwort“, erklärt Böckler. Graw fügt hinzu, dass man auch sehr persönlich über die eigene Situation sprechen könne, ohne dass die Antwort politisch zu brisant werde – etwas, das in Russland nicht unerheblich sei.

In Nowosibirsk stromerte das Duo durch die Stadt, sprach mit Menschen, filmte Regenpfützen und fing Momente der CTM Siberia auf. „Wir waren sehr erstaunt darüber, dass die Menschen dort offenbar den Winter als beste Jahreszeit empfinden. Sie erzählten, dass dann alles so schön hell sei“, erzählt Böckler. Graw und Böckler empfanden Nowosibirsk 2015 als Stadt des Aufruhrs: Es wurde viel gebaut, und das, was gebaut wurde, war wahnsinnig ambitioniert und groß. Die Stadt war in Bewegung und brodelte. Diese Stimmung war auch organisch in das Programm und die Atmosphäre des CTM Siberia eingeflochten. Die Besucher*innen waren vorwiegend jüngere Menschen, die sich zwar freuten, dass endlich internationale Musiker*innen in ihre Heimat kamen. Gleichzeitig hatten die Männer und Frauen dort ziemlich viel Ahnung von der internationalen Szene – vielleicht sogar mehr als diejenigen, die in einer Technohauptstadt wie Berlin leben. „Hier dreht man sich gerne um sich selbst, weil man manchmal denkt, das würde reichen“, gibt Jan Rohlf zu Bedenken.

Das CTM Siberia sollte auch eine Veranstaltung der Hoffnung sein. Hoffnung darauf, dass nun die eigene Szene mehr zusammenarbeitet, auf einen Startschuss für etwas Neues. Die Hoffnung, dass es nach dem CTM einen eigenen Ableger geben würde, wurde erfüllt. 2016 und 2017 fanden zwei Ausgaben des Frontier Siberia Festivals statt – inspiriert vom CTM. Wieder wurden die Macher*innen der Veranstaltung vom Goethe-Institut unterstützt, wieder waren Gäste aus der ganzen Welt in Nowosibirsk und Umgebung. „Leider ging es danach nicht mehr weiter. Vielleicht hat sich die Szene dann doch zu sehr zersplittert, manche Akteure sind aber auch tatsächlich nach Moskau gegangen, wo die Kunstszene etwas etablierter ist“, weiß Rohlf. Vielleicht braucht die Taiga aber auch noch ein bisschen mehr Zeit für Entwicklung und Wachstum, möglicherweise entstehen irgendwann stärkere Allianzen zwischen den Ballungszentren der sibirischen Region. Zeit und Entfernung sind ja, wie eingangs gelerntes Sprichwort sagt, relative Größen.

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