Re-habitar: Wiederaneignung des Raumes durch Kunst

Von Emilio Fuentes Traverso.

Mit der zweiten Auflage des vom Goethe-Institut Chile (GI) und dem Institut Franҫais du Chili (IFC) organisierten Residenzprogramms Resonancias sollen die Beziehungen zwischen Chile, Deutschland und Frankreich durch verschiedene künstlerische Praktiken gefördert werden. Durch experimentelle Methodologien legt Resonancias den Schwerpunkt auf die Förderung von auf Theorie und Praxis gestützten künstlerischen Forschungen, die aktuelle Problematiken des Territoriums aufgreifen und sichtbar machen. Dabei wird insbesondere nach transdisziplinärer Interaktion in den Bereichen Bildende und Darstellende Künste, Klangkunst, Film, Wissenschaft und Umwelt gesucht. All das dank der Unterstützung durch den deutsch-französischen Kulturfonds, die Kollaboration mit dem chilenischen Kulturenministerium (Ministerio de las Culturas, las Artes y el Patrimonio de Chile (MINCAP) und anderer Kultureinrichtungen.

Resonancias ist ein Programm, das Verbindungen zwischen unterschiedlichen  Kulturmechanismen herstellt. Dadurch kommt es zu gemeinschaftlichen Interaktionen, bei denen der kollektiven Arbeit besondere Bedeutung zukommt, zusammen mit kreativen Prozessen, die zu mobilisierenden Kräften innerhalb dieser physisch-temporären Räume werden. Dabei soll nicht nur ein bestimmtes künstlerisches Werk bzw. ein "Produkt" erstellt werden, sondern auf diesen experimentellen Pfaden kommen auf natürliche Weise auch Fragestellungen auf, die wie Faktoren einer Gleichung fungieren und den künstlerischen Praktiken neue Zukunftsperspektiven geben können.

Einer der Ausrichter*innen dieser Residenzen ist das seit 2010 bestehende Festival de Fotografía de Valparaíso (FIFV),  das sich in dieser Version mit dem Konzept der Wiederaneignung (re-habitar) auseinandersetzt. Diese Fragestellung entspringt aus den gesellschaftlichen Veränderungen im Land seit den sozialen Unruhen 2019 und den durch die Pandemie veränderten Lebensbedingungen. Der dafür ausgewählte Ort ist die Casa Espacio Buenos Aires 824 in Valparaíso, in der von Oktober bis Anfang November 2022 drei Künstler*innen im Rahmen einer von der Fotografie bestimmten experimentellen Residenz gearbeitet haben, die sich vor allem mit unserer Fähigkeit, zu träumen beschäftigt hat sowie mit der Frage, wie wir uns unsere gemeinschaftlichen Territorien wiederaneignen (re-habitar) können.

In einer Stadt, in der einmal im Jahr die Fotografie zum Kommunikationskanal der aktuellen Entwicklungen wird, hatte jede*e Künstler*in die Möglichkeit, aus seiner*ihrer eigenen Erfahrung heraus Resonanzen mit anderen Körperlichkeiten und Kulturen, Energien, Überlieferungen, privaten und öffentlichen Gegenständen und besonders mit der Frage der Zeit zu erzeugen.

Javiera Véliz 1 © Javiera Véliz, Details ihres Bild- und Klangwerks, entstanden im Residenzprogramm Resonancias im Rahmen des Festivals FIFV, 2021. © Javiera Véliz. Javiera Véliz 1 Javiera Véliz, Details ihres Bild- und Klangwerks, entstanden im Residenzprogramm Resonancias im Rahmen des Festivals FIFV, 2021. © Javiera Véliz.
Javiera Véliz, geboren 1986 in Copiapó, Region Atacama, hat visuelle Kunst und Film in Santiago de Chile studiert. 2011 gründete sie zusammen mit Bárbara Pestan die Produktionsfirma Pocilga. Einige Jahre später belegte sie Weiterbildungskurse an der EICTV auf Kuba und absolvierte dann einen Master in Kameraleitung an der ESCAC in Spanien. Seitdem hat sie als Produzentin und Aufnahmeleiterin gearbeitet. Ihr Interesse gilt den Beziehungen zwischen Mensch und ihrer physischen Umgebung - insbesondere aufgrund ihrer persönlichen Beziehung zum Element Wasser. Diese motivierte sie dazu, im Rahmen von Resonancias ein Projekt zu präsentieren, dessen Protagonist der Pazifische Ozean auf dieser Seite des Kontinents ist. Das das Projekt geht von der Frage nach der Allwissenheit dieser lebenswichtigen Komponente unseres Planeten aus.

Ihre Erfahrung in dieser Residenz beginnt mit dem Impuls, zu einem öffentlichen Raum in Valparaíso zu gehören: Die Caleta El Membrillo, ein kleiner Fischereihafen, der dazu noch als touristische Attraktion der Stadt bekannt ist. Zunächst einmal nimmt die Künstlerin sich vor, Beziehungen zu den Menschen zu knüpfen, die Tag für Tag dort arbeiten, um danach Video- und Tonaufnahmen von typischen Situationen, Objekten, Gesten und Handlungen ihres Alltags zu machen. Diese Wiederaneignung (nuevo habitar), ausgehend vom Gefühl, Teil der Fischergemeinschaft zu sein, hat sie ein großes Volumen bewegter Bilder und lokaler Klänge aufnehmen lassen, die als Symbole der Beziehung zwischen dem Element Wasser und dem Überleben an Land miteinander verknüpft werden.

Bei der Bearbeitung des Materials verbindet Javiera die Bilder nicht nur durch Überlagerungen, sondern es gelingt ihr, dem visuellen Register durch den Ton Körper zu verleihen. Hierbei vermittelt der Protagonismus des Klangs in manchen Momenten Harmonie, in anderen stellt er eine mit dem Visuellen kontrastierende Ergänzung dar. Interessant ist dabei die Abwesenheit des Wassers, das als offensichtlicher Bestandteil ihres laufenden Projekts dienen könnte. Das Wasser ist jedoch durch die an dem ausgewählten Ort stattfindenden Handlungen der Menschen präsent. Fischernetze, gefangene Fische, Vögel und Geräusche der Stadt sind Elemente, die uns auf die Interaktion verweisen, die die Künstlerin durch ihre eigene Aneignung des Raums ausdrücken will.     

Angetrieben durch den Drang, kollaborative Arbeiten zu produzieren, die in der Lage sind, die dem Visuellen heutzutage zugesprochene vermeintliche Objektivität infrage zu stellen, beteiligt sich Laura Fiorio an dieser Residenz, um Reflexionen ausgehend von der Neuaneignung und den Begriffen Utopie und Nicht-Ort anzustellen. Sie wurde 1985 in Verona, Italien, geboren, studierte Visuelle und Szenische Kunst in Venedig und war mehrere Jahre lang im Bildungsbereich tätig. Ihre künstlerischen - vor allem fotografischen - Projekte, greifen jene Orte auf, denen es aufgrund ihrer Vergänglichkeit und Austauschbarkeit an Bedeutung fehlt. Aus einer anderen Perspektive stellen einige ihrer Projekte das dar, was die Künstlerin als ideal versteht. In diesem Fall werden die verschiedenen zeitlichen Dimensionen, derer wir uns bewusst sind, betrachtet.
Laura Fiorio 1  © Laura Fiorio, Foto eines von ihr aufgestellten Altars in einer Wohnung in Valparaíso. Das Werk entstand im Rahmen des Residenzprogramms Resonancias während des Festivals FIFV 2021. © Laura Fiorio. Laura Fiorio 1 Laura Fiorio, Foto eines von ihr aufgestellten Altars in einer Wohnung in Valparaíso. Das Werk entstand im Rahmen des Residenzprogramms Resonancias während des Festivals FIFV 2021. © Laura Fiorio.
Mit einer Technik, die sie im Rahmen eines Mexikoaufenthalts kennengelernt und in den letzten Jahren praktiziert hat, wählt Laura typische Wohnungen in Valparaíso aus, um dort vorübergehend Altare mit persönlichen Objekten der aktuellen oder vorherigen Bewohner*innen aufzustellen. Der Prozess beginnt mit dem Aufbau einer Vertrauensbeziehung zu den Bewohner*innen, die ihr ihre Wohnungen öffneten. Dieser teils sehr intime Kontakt erlaubte es ihr, mit den privaten Objekten zu arbeiten, die von ihr in Ecken oder offenen Räumen der Wohnung positioniert und dann fotografiert wurden. Die Entkontextualisierung - zusammen mit der Akkumulation der nach der Logik der Künstlerin geordneten Stücke  - führt zur Kreation von Altaren, die verschiedene Schichten der Existenz, sowie Symbolismen beinhalten, zu denen unter anderem Materialismus, Abwesenheiten, Anwesenheiten, das Alltägliche, die Aneignung und das Privateigentum gehören.
Laura Fiorio 3 © © Laura Fiorio Laura Fiorio 3 © Laura Fiorio










Man könnte sagen, dass Lauras Werk trotz der zahlreichen Facetten, multiplen Interpretationen und Bedeutungen sich als ein direktes und geradliniges Werk darstellt. Dabei wird die Poetik der Raumecke durch die geordnete und experimentelle Akkumulation der sorgfältig ausgewählten Objekte erschaffen. Ihre Wiederaneignung verortet sich im Privaten, nachdem sie die Interaktion mit den Besitzer*innen dieser Objekte aufgenommen hat. Dabei ist ihr bewusst, dass einige von ihnen verstorbenen Personen gehörten. Daher erzeugt die Künstlerin Szenarien mit einer Ikonographie, die durch die Dichotomie Anwesenheit-Abwesenheit geprägt ist. Man kommt jedoch nicht umhin zu denken, dass beim Aufbau dieser allegorischen Räume das Zelebrieren auch Teil ihrer künstlerischen Praxis ist. Eine synkretistische Praxis, die durch die multikulturellen Repräsentationen harmonisiert wird, wobei sich ihre eigene Vorstellungswelt mit den unterschiedlichen Glaubensvorstellungen an verschiedenen Orten des Planeten verbindet.

Der französische Künstler Bruno Roy, geboren 1965 in Paris, studierte Kunst und Design in der französischen Hauptstadt, bevor er einige Jahre in Lateinamerika lebte, wo er verschiedene Fotografieprojekte entwickelte. Seine Fotografie wird vor allem von der Reise und der visuellen Erforschung der männlichen Körperlichkeit bestimmt. Nach Aussage des Künstlers führt ihn das Aufeinandertreffen seines Körpers mit denen anderer Männer zu seinen Wurzeln zurück. Aus dieser Position entwickelt Bruno einen kreativen Prozess, dessen Ziel nicht die Suche des Lichts oder spezifische Orte sind. Anscheinend hat er nur die Gewissheit seiner Beteiligung an der Kreation der Fotografien, sowohl vor wie auch hinter der Kamera.
Bruno Roy 1 © Fotografie aus dem Residenzprogramm Resonancias im Rahmen des Festivals FIFV, 2021. © Bruno Roy. Bruno Roy 1 Fotografie aus dem Residenzprogramm Resonancias im Rahmen des Festivals FIFV, 2021. © Bruno Roy.
In diesem Sinne hat seine eigene Wiederaneignung eine klare Zielsetzung: die Suche nach männlichen Körpern, die zusammen mit ihm Modell stehen wollen. Im Rahmen dieser Experimente schafft der Künstler Porträts mit der Technik der Mehrfachbelichtung. Das Ergebnis ist die Schöpfung symbiotischer Körper, gesättigt von einer intimen Atmosphäre, die sich aus einer Verbindung ableitet, die sich im Vorfeld zwischen den Personen herstellt, die sich zur Beteiligung am Werk bereit erklären. Die von Bruno geschaffenen Körperfusionen zeigen Spiegelungen, Transparenzen, Abstraktionen, Figuratives, Fiktionen und Wiederholungen, die uns die Reflexion über unseren biologischen Ursprung ermöglichen; bis zu dem Punkt, dass man den Stammbaum erforschen möchte, der uns als Spezies verbindet.

Das Aufeinandertreffen des Ich mit dem Anderen beschränkt sich nicht auf die Technik oder Methodologie mit der der Künstler arbeitet, sondern beinhaltet auch den Antrieb, diesen anderen zu erkennen und sich in ihm wiederzuerkennen. Somit werden in der Schöpfung der hybriden Körperlichkeit andere Aspekte sichtbar, wie der Kontrollverlust im Umgang mit dem Maskulinen und die mit dem Organischen verknüpften Symbolismen der sozialen Bewegungen in Chile, wie es der Autor beschreibt.
Bruno Roy 2 © Fotografie aus dem Residenzprogramm Resonancias im Rahmen des Festivals FIFV, 2021. © Bruno Roy. Bruno Roy 2 Fotografie aus dem Residenzprogramm Resonancias im Rahmen des Festivals FIFV, 2021. © Bruno Roy.
Es könnte sinnvoll sein, das Zusammentreffen von drei Künstler*innen im Rahmen des Fotografiefestivals in Valparaíso im Sinne dessen zu sehen, was Philippe Dubois über das Fotografische[1] sagt. Der Autor stellt es als eine echte epistemische Kategorie dar, in der Zeichen, Zeit, Raum, Realität, Subjekte, Sein und Tun beim Fotografieren präsent und mit ihm verknüpft sind. Somit könnte das Fotografische in diesem Kontext sowohl die Summe der fotografischen Praktiken, wie auch die Diskurse über sie beinhalten, die Gegensätze zwischen dem analogen und dem digitalen, die Verschiebung der Fotografie in den Bereich der Visuellen Künste und die theoretischen Reflexionen, die ausgehend von den durch die Künstler*innen im Rahmen der Residenz geäußerten Interessen entstanden sind. Dadurch entsteht ein Gefüge, das das neue Bewohnen, das Wiederaneignen (re-habitar) ausgehend von den Gestaltungen der zwischenmenschlichen Beziehungen als eine neue epistemische Kategorie beinhalten könnte. Ebenso könnte man hierzu die Vorkenntnisse der Künstler*innen addieren, wie auch die schon angesprochenen Übereinstimmungen mit der Realität, die Validierung der erarbeiteten Werke durch Kolleg*innen und externe Akteur*innen und schließlich die verschiedenen eingesetzten Methodologien.

Resonancias im Rahmen des FIFV hat Zeit, Räumlichkeiten und Mittel zur Verfügung gestellt, die das individuelle und kollektive Experimentieren durch multikulturelle Vorstellungswelten beinhaltende Aktionen ermöglicht haben. In diesem Fall Praktiken, die nicht nur den Abschluss eines künstlerischen Projekts zum Ziel haben, sondern sich auf den kreativen Prozess konzentrieren. Die Transdisziplinarität fördert hier die Beziehungen innerhalb der Gemeinschaft, die auf der harmonischen Anerkennung der Vielfalt beruhen. Von daher die Bedeutung des Prozesshaften und der Fragestellungen, die daraus hervorgehen. Vielleicht liegt die konkrete Umsetzung eines künstlerischen Werks näher am Statischen, wobei der kreative Weg abgesteckt ist und ein Gefühl von Bequemlichkeit zurückbleibt. Der Prozess hingegen fungiert als ein Mechanismus, der Fragen aufwirft, die ihrerseits neue Wege eröffnen und Werkzeuge für das experimentell-künstlerische Überleben sein können.

Die Artikulierung verschiedener Vorstellungswelten durch eine Kamera oder einen anderen technischen bewegte Bilder produzierenden Apparat macht aus diesem Treffen einen inklusiven und horizontalen Austausch. Hier werden die zeitlichen Varianten in jedem der entwickelten Projekte deutlich. Dabei gibt es Werke, die ihre Wurzeln eindeutig in der Konzeptualisierung der Vergangenheit haben, sich aber einer Reihe zukünftiger Transformationen vor ihrer Ausstellung beim Festival FIFV 2022 nicht verschließen.



[1] Ein Begriff von Philippe Dubois aus seinem Text El acto fotográfico.

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Bibliografie:

Dubois, Philippe. El acto fotográfico. Übersetzung Víctor Goldstein. Buenos Aires: La marca, 2008. Digitaldruck.



Der Autor.

Emilio Fuentes Traverso (Santiago, Chile, 1983) hat einen Magister für Pädagogik in Biologie (UMCE), ein Diplom in Digitalfotografie: Ästhetik und Techniken (PUC) und einen Master in Bildstudien der Universität Alberto Hurtado. Er hat seinen Beruf mit verschiedenen Aktivitäten im Bereich der Fotografie und der visuellen Künste verbunden. Seit 2008 beteiligt er sich an kollektiven und Einzelausstellungen, Workshops, Kunstmessen und Kunstwettbewerben, öffentlichen Präsentationen von Fotografien und Sichtungen von Mappen in Chile, Spanien, Brasilien, Slowenien, Argentinien und Mexiko. Gegenwärtig besucht er einen Workshop zur Produktion und Analyse von Werken, geleitet von den visuellen Künstlern Rodrigo Zamora und Raimundo Edwards.
 

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