Gemischtes Doppel | Visegrád 4

Unsere Hoffnung stirbt zuletzt

Illustration: © Ulrike Zöllner

#16 | SLOWAKEI

Vergangene Woche meldeten die slowakischen Sicherheitsbehörden Vollzug: Ein Expolizist soll Ján Kuciak ermordet haben. Doch im Dickicht aus Korruption und Mafiastrukturen bleiben die drängendsten Fragen bislang ungeklärt, meint Michal Hvorecký.

Liebe Tereza, liebe Monika, lieber Márton,

ich glaube, so wie sich die Generation meiner Eltern an den 21. August 1968 und den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts erinnert, so wird meine Generation nicht vergessen, was sie am 21. Februar 2018 gemacht hat. An diesem Abend nämlich wurden der slowakische Investigativjournalist Ján Kuciak und seine Verlobte Martina Kušnírová, beide nur 27 Jahre jung, in ihrem Haus im westslowakischen Dorf Veľká Mača mit einer Neun-Millimeter-Waffe erschossen. Innerhalb von fünf Minuten wurde das junge Paar, das kurz davor war, zu heiraten, in ihren eigenen vier Wänden hingerichtet: Ján wurde durch zwei Kugeln ins Herz getötet, Martina starb durch einen Kopfschuss – von vorne.

Die brutale Ermordung löste Massendemonstrationen in der Slowakei aus: Gegen Korruption, gegen den Missbrauch von EU-Förderungen und gegen eine korrupte politische Elite, die das Land moralisch heruntergewirtschaftet hat.

Die Beweise gegen die Festgenommenen sind schwerwiegend.

Am vergangenen Freitag, den 28. September 2018, haben sich wieder Tausende Menschen auf den Straßen von Bratislava versammelt. Unter dem Motto „Wir vergessen nicht, wir gehen nicht weg“ sind sie bis zum Nationalrat marschiert und haben die umfassende Aufklärung beider Morde gefordert.

Nach Polizeiangaben soll Kuciaks Killer Tomáš Szabó heißen. Szabó ist für die Sicherheitsbehörden kein Unbekannter, denn er hat vom Sommer 2006 bis Anfang 2015 selbst als Polizist gearbeitet, war sogar als Ermittler tätig. Für den Auftragsmord an Jan Kuciak habe ihn die 44-jährige mutmaßliche Auftraggeberin, die Italienisch-Übersetzerin Alena Zsuzsová, 70.000 Euro bezahlt, heißt es aus Ermittlerkreisen. Zusammen mit seinen mutmaßlichen Komplizen, dem Ex-Soldaten (!) Miroslav Marček und Zoltán Andruskó, der als Fahrer und Verbindungsmann fungierte, sitzt der vermeintliche Mörder seit Ende letzter Woche in Untersuchungshaft.

Kuciak hatte kurz vor seinem Tod in einer Serie von Reportagen dargelegt, wie enorm korrupt die Regierungskreise sind, wie die Mafia die Slowakische Republik sukzessiv um Steuergelder betrügt, wie sie Agrarsubventionen illegal abschöpft und Verbindungen ins Umfeld des inzwischen zurückgetretenen Premierministers Robert Fico aufgebaut hat.

Sieben Monate nach der Tat sind die Beweise gegen die Festgenommenen, dem Generalstaatsanwalt Jaromír Čižnár zufolge, schwerwiegend. Laut Polizeipräsidium fanden die zuständigen Spezialermittler nämlich auch Munition bei den Verhafteten, die mit jener übereinstimme, die bei den Kuciak-Morden verwendet wurde.

Wir können erst aufatmen, wenn die komplexen Verflechtungen in die Spitzenpolitik und die Geheimdienste aufgeklärt sind.

Trotzdem: Meine MitbürgerInnen und ich können erst beruhigt aufatmen, wenn die Beschuldigten rechtskräftig verurteilt und die komplexen Hintergründe der Verflechtungen der Mörder hinein in die Spitzenpolitik und die staatlichen Geheimdienste aufgeklärt worden sind. Passiert das nicht, werden immer mehr Slowaken das Vertrauen in den Rechtstaat verlieren, denn zu viele Fragen sind bislang ungeklärt: Wer gab Alena Zsuzsová grünes Licht, den brutalen Mord bei einem Profi-Killer in Auftrag zu geben? Viele gehen davon aus, dass die Übersetzerin, die zudem als ziemlich erfolglose Managerin arbeitet, eigentlich von unbekannten Hintermännern vorgeschoben wurde, die sich durch Ján Kuciaks Recherchen gefährdet sahen.

Einer der Hauptverdächtigen war von Anfang an der korrupte Unternehmer Marián Kočner, ein skrupelloser Oligarch, der jahrelang als direkter Nachbar von Robert Fico im Luxuswohnkomplex in der Bratislavaer Altstadt residierte. Bis zu seiner Verhaftung im Juni 2018 galt Kočner als politisch bestens vernetzt.

Ján Kuciak hatte ihm immer wieder geschäftliche Beziehungen zum inzwischen auch zurückgetretenen Innenminister Robert Kaliňák vorgeworfen. Kuciak hatte auf Grundlage seiner Recherchen im Jahr 2017 Anzeige gegen Kočner gestellt. Der superreiche Repräsentant der alten Oligarchen-Elite wiederum hatte öffentlich angekündigt, „Schmutzberichte“ über den Reporter zu sammeln und ihn mehrmals rücksichtslos und öffentlich bedroht. Es klingt nahezu haarsträubend, aber: Kočner und Alena Zsuzsová kennen sich gut – seit Jahren! Kočner ist sogar Pate ihres Kindes!

Der Sonderstaatsanwalt muss aus Sicherheitsgründen anonym bleiben, darf weder gefilmt noch fotografiert werden.

Ja, der Pate! Dieser Titel passt perfekt zu einem der mächtigsten Bosse des Landes, der nach dem Kollaps des Ostblocks ein sagenhaftes Vermögen anhäufte und das Geld nutzte, um auch politische Hebel und die auf Familienbanden beruhenden Machtstrukturen unter seine Kontrolle zu bringen – auf Kosten vieler ehrenhafter Mittelstandsunternehmer, die durch seine oft gewaltsame Übernahmen in die Knie gezwungen wurden.

Man kennt Kočner nur allzu gut. Auch deswegen muss der zuständige Sonderstaatsanwalt aus Sicherheitsgründen anonym bleiben, darf weder gefilmt noch fotografiert werden.

Die drängendsten Fragen sind bislang unbeantwortet geblieben. Die rückhaltlose Aufklärung des Falles ist dringend notwendig. Unsere Hoffnung stirbt zuletzt.

Michal Hvorecký
3. Oktober 2018
Copyright: ostpol.de | n-ost e.V.


Gemischtes Doppel #15 | Ungarn
Ein auswegloses Dilemma
Gemischtes Doppel #17 | Tschechien
Den Kompost ins Rathaus!


Im Gemischten Doppel halten Michal Hvorecký (Slowakei), Tereza Semotamová (Tschechien), Márton Gergely (Ungarn) und Monika Sieradzká (Polen) die Diskurse ihrer Länder fest. Sie ergründen Themen wie die heutige Bedeutung Europas, Rechtspopulismus, nationale Souveränität, gesellschaftlichen Wandel, die Arroganz des westlichen Blicks – und brechen damit staatliche und gedankliche Grenzen auf.

Die Goethe-Institute in Polen, Tschechien und das Onlinemagazin jádu veröffentlichen die Beiträge der Kolumnenreihe mit freundlicher Genehmigung und in Kooperation mit ostpol, dem Online-Magazin von n-ost – Netzwerk für Osteuropa-Berichterstattung e.V.

    Michal Hvorecký

    Michal Hvorecký (* 1976) ist Autor und Übersetzer. Im Herbst 2018 erscheint sein neuer Roman Troll bei Tropen/Klett-Cotta. Seine Bücher wurden in zehn Sprachen übersetzt. Hvorecký übersetzt Prosa und Theaterstücke aus dem Deutschen ins Slowakische (Robert Walser, Martin Pollack, Dea Loher). Er lebt mit seiner Familie in Bratislava und arbeitet dort im Goethe-Institut.

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