Lennart Laberenz
Im Wald

Bärenrunde
Foto: Lennart Laberenz

Der Regen steht wie eine Wand vor den Fenstern, er prasselt auf das Autodach...

“Einen lieblichen Tag”, hatte die Dame an der Hotelrezeption geflötet, die Worte nass vor Ironie. Es hatte durch die Nacht geregnet, die bald zehn Stunden Autofahrt ans Südende von Finnlands Norden verschwammen, beim Frühstück setzte sich eine erste Gewissheit an den Tisch: Es sehr viel schwerer in den Regen hinauszuwandern als beim Gehen in den Regen zu kommen. Jetzt, auf einem Parkplatz in Ruka, Mitte August, zerfließt am Fenster die Welt zu Schlieren aus fahlem Grau und kräftigem Grün.
 
Ruka ist eine kleine Kommerzsiedlung des Wintersports, Hotelblöcke zwischen Hügeln. Die Touristeninformation verkauft eine Wanderkarte, die später noch wichtig werden wird. Das Sportgeschäft hat keine Regenponchos. Am frühen Nachmittag wird der Regen feiner, der Weg beginnt zwischen stillen Liftanlagen, es ist überraschend warm, ein paar steile Stiegen und schon lässt sich Landschaft anschauen: Felsrücken, Fichtenwälder, Birken, Kiefern. Weiter unten schneiden Seen und Tümpel Löcher ins dichte Grün, der Horizont ertrinkt in Regenschleiern.
 
Es ist eine finnische Sehnsuchtslandschaft: Vom Rukatunturi geht man über den kahlen Rücken des Valtavaara, den die letzte Eiszeit auf knapp fünfhundert Meter aufschob. Man schaut weit ins ondulierte Gelände. Kilometerhoch hatte die letzte Eiszeit ihr Schild über das Land gelegt, Moränen, Esker, Seen und Sümpfe sind das Ergebnis. In einer Schutzhütte auf dem Bergrücken kocht sich ein Ehepaar ihr Süppchen, sie wandern jedes Jahr, langsam, kurze Strecken. Man muss mal in den Wald, sagt der Mann.
 
Der Wald ist auch in Finnland Hort der Mythen und oft scheinen die Siedlungen gerade aus ihm herausgeschnitten. Knapp 8 Prozent des Landes sind Äcker, Wald macht über zwei Drittel aus. Holz- und Papierindustrie haben die Gesellschaft mitgeprägt, Wald und Sagen schillern bis in Städte, Literatur und Theater: Schon im ersten Markstein finnischer Literatur, den „Sieben Brüdern“ von 1870, schickt Aleksis Kivi die ungestümen Geschwister nach dem Tod des Vaters in den Wald. Der Wald ist Wildnis, das dichotome Gegenbild zum sittenstrengen Dorfleben, zu Disziplin und Bescheidenheit. Wald bdeutet Freiheit, Prügelei und Scheitern: Die Brüder kehren zurück ins Dorf, lernen Katechismus und Zivilität. Wenn alles vertan und vorüber ist, sagen manche nicht, dass sie das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, sondern sie hätten das Auto im Wald geparkt.
 
Vom Berg blickt man über eine Welt, in der die Urbevölkerung der Saami das Heim eines Riesen wähnte. Im Spiel habe er die Jatulintarha, rätselhafte Steinlabyrinthe angelegt. Das Finnische kennt viele Begriffen für Naturphänomene, die Beschreibungen in Mythen tauchen. Feiner und grober Split heißen ganz unterschiedlich, Dialekte haben für die rundgeschliffenen Felsen die das Eis übrigließ eigene Worte. Und es gibt die Hiidenkirnu, so heißen die oft tiefen, zylindrischen Löcher, die Eiskräfte in Fels bohrten – übersetzt des Teufels Butterfass. In ihrer Nähe soll man sich nicht aufhalten.
 
Wenn man Gehen als Denkweise, als literarische Erfahrung begreifen will, behauptet der französische Philosoph Frédéric Gros, solle man längere Wege am besten allein zurücklegen. Auf sehr vielen Wegen Zentraleuropas wird es trotzdem schwer, zwischen Alpen und spanischer Pilgerrei setzen viele Routen auf Massentourismus und die Wege sind oft anspruchslos. Ein Kitschroman und ein Reese Witherspoon-Film lassen den Pacific Crest Trail überquellen, am Nordkap gibt es kaum mehr genug Gelände, um alle Zelte aufzunehmen.
 
Der Weg von Ruka nach Norden ist anders. Im Jahr bewältigen ihn 15.000 Menschen, man ist also nicht allein – aber nach Ferienende vergehen die Tage, ohne mehr als fünf Personen getroffen zu haben. Und er geht durch Wald: Der Blick vom Valtavaara, dem Felsen, der sich aus den Worten Macht und Gefahr zusammensetzt, ist die letzte Übersicht für längere Zeit. Fast meint man, erst 82 Kilometer später, am Schlusspunkt beim Weiler Hautajärvi und knapp hinter dem Polarkreis wieder ins Freie zu treten. Der Karhunkierros, den man mit Bärenkreis übersetzen muss, beschreibt keinen Kreis und Bären gibt es auch nicht. Es ist ein kurzer, wunderbarer Marsch: Es führt durch ungekämmte Wälder, über Stege durch etliche Sümpfe, hoch über dem mächtigen, torfschwarzen Oulanganjoki entlang, neben dem reißenden Kitka-Fluss. Der Wald umschließt den Wanderer wie ein rauschendes Gewand, inwändig ganz nass.
 
Man läuft durch keine Kulturlandschaft, muss streng vor sich auf den Boden blicken: Der Pfad springt über unzählige Bäche, nimmt Steigungen geradewegs, ganz selten gibt es Passagen mit nadelweichem Waldboden. Wer etwas sehen will, muss anhalten. Wer rastet, sieht Bäume. Wer seinen Rhythmus halten will, muss schnelle Entscheidungen treffen, der Boden schmatzt, Schlamm fasst bis an die Knöchel, Wurzeln greifen übereinander, der schmale Pfad führt durch grobes Zeug, Felsbrocken, Steine. Gros würde sagen, man muss mit den Füßen denken.
 
Im Unterholz überwuchern von Alter, Schnee und Wind gefällte Stämme, manchmal ragen sie wie Fabelwesen aus dem Gestrüpp, oft liegen sie steingrau und adrig kahlgefressen wie Zeugen vergangener Zeit herum. Junge Tannen haben fast ins Gelbe kippende Spitzen, dunkle Pilze sprießen, Blaubeeren schmecken kräftig, im Sumpf strecken sich süße Moltebeeren zur Sonne. Angeblich geben Finnlands Wälder und Sümpfe jährlich 20 Kilogramm Wildbeeren pro Einwohner her. Blaubeergestrüpp und Moose legt ein dichtes Fell über den Waldboden, der Weg schneidet eine dünne Scharte.
 

  • Joki Kuva: Lennart Laberenz

  • Kaislikko Kuva: Lennart Laberenz

  • Eksyksissä Kuva: Lennart Laberenz

  • Puu Kuva: Lennart Laberenz

  • Auto Kuva: Lennart Laberenz

  • Vesi Kuva: Lennart Laberenz

Man geht an Tümpeln vorüber, das erste Nachtlager in einer Schutzhütte am Porontimajoki: Ofen, Holzpritsche, Feuerstelle. Eine kühle Wäsche im rauschenden Bach. Wer kein Zelt trägt, hat zwei Übernachtungskategorien – die kargen Schutzhütten und die noch reduzierteren Laavus: Offene Hüttchen mit Pultdach hinter dem Feuerplatz. Offen heißt: Auch für Mücken.
 
Finnen und Deutsche laufen den Weg offensichtlich etwa gleichgerne. Sie mögen auch: Sehr viel Funktionskleidung. Ich gehe den Weg gegen die vorherrschenden Meinung, die meisten Wanderer kommen von Norden, sind hochbepackt, manche lassen aus Kappen Mosquitonetze herunter, die Rucksäcke buchten sich nach allen Seiten aus, Geschirr klappert. Ich gehe den Weg mit Wechselwäsche, Schlafsack, Pullover und Regenjacke. Ich gehe in kurzen Hosen. Einzig am Abend schaue ich neidisch auf aufblasbare Schlafunterlagen.
 
Wer geht, dem zerfließen die Tage zu einzelnen Szenen, zu absurden Bildern: Am Nachmittag laufen zwei junge Frauen mit gesenktem Kopf umher, was suchen sie? Ihre Haschisch-Tüte. In einem Regenschauer stehen zwei Männer im Wald, sie mähen schweigend eine Wiese mit Elektrosensen. An einem Nachmittag sägen zwei Holz, machen Feuer, sitzen still. Der Schauer rührt sie nicht, sie sitzen und blicken ins kokelnde Holz. Gesprochen haben sie kein Wort.
 
Die Landschaft im Wald wechselt, der Blick reicht unterschiedlich weit. Mal läuft man durch weitere Spielplätze des Riesen, grobe Gewalt hat riesige Felsen zertrümmert, Zeit und Eis bügelten sie glatt. Mal ist das Waldinnere von Wellen durchzogen, mal erkennt man sumpfigen Rinnen, sie werden von Böschungen begrenzt, wie mit dem Lineal gezogen.
 
Vorwärts immer/rückwärts nimmer – die Losung hat schon für manchen Unfug gesorgt, wer sie beim Wandern einhält, muss improvisieren wollen. Haarscharf vor der richtigen Abzweigung geht eine steile Treppe hinauf, wer nur zu Boden blickt, kann den falschen Aufstieg nehmen. Oben führt der Weg auf einen Waldweg, seinen Fehler erkennt man an einer Karte. Zurückzulaufen wäre eine Option, aber der Karhunkierros selbst nimmt die Steigung keinen Kilometer von hier – die Karte aus Ruka meint, dass man auf der Anhöhe einem schmalen Pfad folgen könnte. Er führt auf eine Lichtung, die Lichtung wird Sumpf, der Wanderer springt zwischen Schilf-Inseln umher. Die Sonne lacht, es ist mild, der Pfad reduziert sich zu einer von Tieren freigetrampelten Richtung. Man muss durch ein Flüsschen waten, ohne zu auf den glatten Steinen zu fallen. Es ist Mitte August, die Mücken übertragen Lebensabend-Panik.
 
Beim Losgehen lehnte der Sommer schon schwer, am nächsten Tag tritt der Herbst auf. Die Blätter färben noch nicht, noch ist es um fünf in der Früh strahlend hell, aber das Licht nimmt immer mehr Rottöne auf, die Sonne hat ihren Winkel verändert, man kann nicht mehr auf den Grund der Seen schauen, schräg greifen die Strahlen durch den Wald. Die Luft schmeckt nicht mehr nach Sommer.
 
Und dann, nach zweieinhalb Tagen, ist der Weg plötzlich aus, in Hautajärvi steht einer auf der Wiese neben einer Bar, beige Windjacke, Gesicht zur Sonne, die Augen geschlossen. Familienbesuch hat ihm wohl den Großteil der Worte, die er am Tag zur Verfügung hat, schon gekostet. Wetter wird gut in den nächsten Tagen, murmelt er. Da steht man dann, schließt vor dem gleißenden Licht die Augen und eine Idee wuchert ungestüm. Ging die letzte Etappe nicht zu schnell vorüber? War sie nicht deutlich zu lang gezogen? Hatte ich nicht, trotz Wurzeln, Steinen, Matsch, viel über dies, das, zu viel, zu wenig Arbeit, unerreichbare Dinge nachgedacht? Hatten nicht erst in den letzten Stunden, als Erschöpfung diktierte und zur Wachsamkeit zwang, das Denken mit den Füßen überhaupt begonnen? Im Rucksack liegen Nüsse und Trockenfrüchte, ein paar Äpfel. Ich könnte langsamer gehen, mehr aufschauen, häufiger rasten, noch einmal im beißenden Fluss baden, vielleicht beim Campingplatz im Wald die Sauna anwerfen. Die Sonne wärmt das Gesicht und das Glück, die Idee ist Gewissheit geworden, Beschluss und Plan: Zurück in den Wald.
 
Als ich die Augen öffne, ist die Wiese leer. Der Mann ist verschwunden.

Top