Ervin Latimer
Ruskeat Tytöt – Ein Jahr lang die Ersten

Neun junge Menschen vor einer Hauswand
Foto: Shukri Carabey

Am 9. November 2016 füllte sich mein Studio mit People of Color* jeden Alters, Größe und sexueller Orientierung. Koko Hubara, die Chefredakteurin des Blogs Ruskeat Tytöt (wortwörtlich aus dem Finnischen: “Braune Mädchen“) hatte eine Gruppe von AutorInnen, KünstlerInnen und anderen kreativen Köpfen in mein Atelier ins Stadtzentrum von Helsinki eingeladen.

Ruskeat Tytöt war damals Hubaras persönlicher Blog und noch kein Onlinemedium oder eine Autorenschule. Es war der Tag, nachdem Donald Trump zum Präsidenten der USA gewählt worden war, ich war am Boden zerstört, aber das Treffen sollte beginnen. Rein zufällig trugen alle schwarz, was dem Ganzen einen Hauch von Revolution verlieh. Wir trafen uns endlich zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht.
 
Jeder von uns war wegen Hubaras bis dato unerhörtem Einfall gekommen: Sie wollte ein Onlinemedium gründen von People of Color für People of Color in Finnland. Diese Plattform sollte sich unter anderem mit Themen wie Gesellschaft, Kultur und Kunst beschäftigen und dabei alle ansprechen, die in der finnischen Medienlandschaft unterrepräsentiert sind. Die finnische Medienlandschaft ist überwiegend weiß und ihr Umgang mit unseren Lebenserfahrungen in vielerlei Hinsicht an Stereotypen gekoppelt. Erklärtes Ziel war, einen Prozess der Normalisierung der medialen Präsentation von People of Color und ihrer Geschichten anzustoßen.
 
Laut einem Bericht, den die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte im Dezember 2017 veröffentliche, weist Finnland eine der höchsten Diskriminierungsraten in ganz Europa auf, insbesondere hinsichtlich Menschen aus Subsahara-Afrika. Diskutiert man in Finnland über Rassismus, so liegt der Fokus auf den Gefühlen weißer Menschen, anstatt auf denen, die rassistischen Einstellungen und sozialen Strukturen ausgeliefert sind, wie ein Bericht der Forscherin Minja Koskela von der Kunstuniversität Helsinki im April 2018 zeigt.
 
Hervorzuheben ist, dass trotz des wichtigen Kommentars, den wir zu den sozialen Verhältnissen leisten, Ruskeat Tytöts alleinige Absicht nicht ist, eine Antithese zu whiteness und rassistischen Strukturen zu sein. Wir orientieren uns an der Theorie des intersektionellen Feminismus und sind bestrebt, nicht-weiße, nicht cis-männliche Personen zu normalisieren, indem wir die verschiedenen Faktoren (z.B. Ethnizität, Geschlecht, Sexualität und Klasse) anerkennen, die sich im Leben aller Menschen überschneiden und ihre Chancen, gehört und gesehen zu werden, beeinflussen.
Dabei geht es aber nicht um die Frage, wem es am schlechtesten geht! Der intersektionelle Ansatz legt vielmehr nahe, die unterschiedlichen Erfahrungen, die eine Person im Leben haben kann und wie ihre Privilegien und Nachteile im Verhältnis zu denen anderer Menschen stehen, zu berücksichtigen.
 
Der öffentliche Diskurs um Repräsentation und Rassismus steckt in Finnland noch in den Kinderschuhen. Allmählich macht man die ersten Schritte in Richtung eines glaubwürdigen und differenzierten Verständnisses für die Thematik, wobei es noch viel zu tun gibt. Die Diskussionskultur dazu ist noch jung und Ruskeat Tytöt kultiviert und verwandelt diese. Dabei sagen wir nie „Das ist nichts für dich“, wir sagen nur „Manchmal geht es nicht um dich“.
 
Als Koko Hubara mich im Herbst 2016 zum ersten Mal kontaktierte, erzählte sie mir, was sie mit ihrem bereits bekannten Blog vorhatte. Er sollte zu etwas Größerem werden. Vor allem aber wollte sie ihn einflussreicher machen und besser organisieren, d.h. er sollte nicht nur eine Sammelstelle für verschiedene Geschichten sein. Ihr war bewusst geworden, dass sie für die Finanzierung ihrer Idee Merchandise-Produkte verkaufen müsste und sie kam deshalb auf mich als Mode-Student mit eigenem Label für Accessoires zu. Das Merchandising sollte in einem eigenen Onlineshop auf der Seite von Ruskeat Tytöt angeboten werden und nicht nur für die Finanzierung sorgen, sondern auch für Aufmerksamkeit.
 
Erst waren es nur sie, ich und Caroline Suinner, Art Director von Ruskeat Tytöt. Wir chatteten in Facebook über unsere Träume, und bald waren dort ungefähr 30 Professionelle, die alle auf irgendeine Art und Weise zu unserem Projekt beitragen wollten. Am 3. März fiel der Startschuss für ruskeattytöt.fi. Es ist das erste Medium in Finnland, welches von People of Color in Finnland kreiert wurde, und Koko Hubara ist die erste farbige Chefredakteurin in Finnland.
 
Im ersten Jahr veröffentlichte Ruskeat Tytöt 93 Artikel, Videos und Podcasts: lauter kleine Edelsteinchen auf einer Krone, die wir uns endlich auf unsere Köpfe setzen können. Es ist interessant, wie wenig man weiß, dass man etwas braucht, bis man es endlich hat. Nirgendwo sonst findet man Artikel zu Mode und Schönheit (beauty and fashion stories) Stories wie unsere Tutorials für Afrohaare, Vorstellungen von Produkten speziell für nicht-weiße Haut oder unsere Serie über junge aufstrebende nicht-weiße Models mit dem Titel Mallikansalainen (aus dem Finnischen: Modell-BügerIn). Und was ist mit unseren Überlegungen zu den Präsidentschaftswahlen aus einer nicht-weißen Perspektive? Oder unser Artikel über das Afropunk-Festival in London?
- Sollen wir noch tiefer einsteigen? Wie wäre es dann mit unserer Analyse zur Frage, wieso wir nur Kunst sehen, die von weißen Menschen gemacht wurde (vor allem, wenn es um die Darstellung von People of Color  geht)? Oder, dass People of Color in finnischer Werbung nur als Rassen-Stereotypen oder bestenfalls als Symbol für Toleranz auftauchen.
 
Dies und dutzende andere Geschichten sind noch nicht alles. Die von uns eingeführte Podcast-Serie ist die allererste, die ihren Fokus auf der Geschichte von Afro-Finnen und der Beziehung zwischen schwarzer Kultur, schwarzen Menschen und Finnland hat. Wir haben alles von Minidokumentationen über junge KünstlerInnen bis hin zu zweimonatlichen Spotify-Playlisten kreiert. Wir haben Vortragsabende, Paneldiskussionen mit Unternehmerinnen und R&B-Partys veranstaltet und damit „safe spaces“ für die Menschen, die wir repräsentierne möchten, geschaffen. 2017 organisierten wir das erste Event für People of Color während Helsinki Pride.
 
Unsere größte Errungenschaft, neben unseren Publikationen, ist wohl RT LIT AKATEMIA, eine Schreibschule für Girls of Color und nicht-binäre junge Menschen, die im Mai 2018  startet. Ermöglicht wurde das Projekt durch verschiedene Stiftungen (Koneen Säätiö, Suomen Kulttuurirahasto und Jenny ja Antti Wihurin rahasto) als Teil von Vuosisadan rakentajat (aus dem finnischen: Die Erbauer des Jahrhunderts), einem Programm, das neue, einzigartige Projekte während der Feierlichkeiten zu Finnlands hundertjährigem Jubiläum 2017 finanzierte. Seit diesem Jahr gestalten wir auch Inhalte in anderen Sprachen als Finnisch.
 
Ich denke oft an dieses erste Treffen am Tag nach der Präsidentschaftswahl meines zweiten Heimatlands USA zurück. Ich war emotional am Ende, und doch fand ich Kraft und enormen Mut durch die Menschen, die an diesem Tag zusammengekommen waren. Ich hätte mir nicht vorstellen können, wie oft wir die „ersten“ in unserem ersten Jahr sein würden. Ich bin dankbar, mit so vielen beeindruckenden Individuen bahnbrechende Arbeit in der finnischen Medienszene zu leisten. Ich hoffe, dass wir mit den Jahren immer seltener „die Ersten“ sein werden und, dass eines Tages ein Medienkanal wie Ruskeat Tytöt so bekannt und angesehen sein wird, wie unsere traditionellen Medien, und alle finnischen Medien so aussehen wie unsere. Schließlich sollte das, wofür wir stehen, der Standard und die Norm sein.

 
* Die deutsche Übersetzung nutzt die Bezeichnung „People of Color“ für „braun“ im englischen Originaltext

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