Future Perfect
Einstellungen ändern, Übergewicht senken

Tanzen mitten im Unterricht macht munter.
Tanzen mitten im Unterricht macht munter. | Foto (CC BY-SA): Roosa Vastamäki

Mit zum Teil unkonventionellen Methoden ist es im westfinnischen Seinäjoki gelungen, das Übergewicht unter Kindern und Jugendlichen drastisch zu senken.

„Es ist viel leichter, Übergewicht vorzubeugen, als es zu behandeln“, sagt Ulla Frantti-Malinen. Die Koordinatorin für die Gesundheits- und Wohlfahrtsförderung der Stadt Seinäjoki spricht aus Erfahrung. Seit dem Start des Programms Lihavuus laskuun (Übergewicht senken) verzeichnet Frantti-Malinens Behörde große Erfolge im Kampf gegen das Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen.
 
Ergab die letzte Erhebung im Jahr 2011 in der 60.000-Einwohner-Stadt noch einen Anteil von 14 Prozent übergewichtigen Siebenjährigen und 16,1 Prozent übergewichtigen Elfjährigen, so waren es im Jahr 2015 nur noch 8,7 Prozent beziehungsweise 8,2 Prozent. Der Rückgang von über sieben Prozent in einigen Altersgruppen ist so groß, dass sogar die Entwickler des Programms selbst überrascht waren.
 

  • Ulla Frantti-Malinen ist die Koordinatorin für die Gesundheits- und Wohlfahrtsförderung der Stadt Seinäjoki. Foto (CC BY-SA): Roosa Vastamäki

    Ulla Frantti-Malinen ist die Koordinatorin für die Gesundheits- und Wohlfahrtsförderung der Stadt Seinäjoki.

  • Im Kindergarten Tikkuvuori essen die kleinen Kinder im Speisesaal selbständig. Foto (CC BY-SA): Roosa Vastamäki

    Im Kindergarten Tikkuvuori essen die kleinen Kinder im Speisesaal selbständig.

  • Auf dem Hof des Kindergartens ist Klettern erlaubt. Foto (CC BY-SA): Roosa Vastamäki

    Auf dem Hof des Kindergartens ist Klettern erlaubt.

  • In der Schule Toukolanpuisto darf es auch im Matheunterricht mal wild zugehen. Foto (CC BY-SA): Roosa Vastamäki

    In der Schule Toukolanpuisto darf es auch im Matheunterricht mal wild zugehen.

  • Stellungswechsel fördert die Konzentration. Foto (CC BY-SA): Roosa Vastamäki

    Stellungswechsel fördert die Konzentration.

  • Ort oder Stellung spielen keine Rolle, solange man lernt. Foto (CC BY-SA): Roosa Vastamäki

    Ort oder Stellung spielen keine Rolle, solange man lernt.

  • In einigen Klassen der Schule Toukolanpuisto hat man auf die Pulte ganz verzichtet. Foto (CC BY-SA): Roosa Vastamäki

    In einigen Klassen der Schule Toukolanpuisto hat man auf die Pulte ganz verzichtet.

Neben der naheliegenden Umstellung des Speiseplans in den Schulkantinen auf weniger Salz und Fett – in Finnland hat jedes schulpflichtige Kind Anspruch auf ein kostenloses Schulessen – setzt man in Seinäjoki bereits im Kleinkindalter an: „Wichtig ist, dass die Botschaft von der Bedeutung gesunder Lebensgewohnheiten wiederholt betont wird“, sagt Frantti-Malinen. Eine entscheidende Rolle spielt dabei das Netzwerk der kostenlosen Mutter-Kind-Beratungsstellen, die in Finnland nahezu alle Familien erreichen und diese von der Schwangerschaft bis ins Vorschulalter ärztlich betreuen und beraten.
 
„Unser Ziel ist, dass weniger Kinder zu übergewichtigen Erwachsenen werden“, sagt Frantti-Malinen. Das Programm Übergewicht senken sei ein Wohlfahrtsziel und werde mindestens bis zum Jahr 2020 fortgesetzt. Dafür hat die Stadt eigens einen Direktor für Gesundheitsförderung eingestellt, der alle Fäden in der Hand hält. In die Karten spielt den Verantwortlichen dabei das staatliche Vorhaben Liikkuva koulu (Die bewegliche Schule), das körperliche Aktivität und Wohlbefinden in den Schulen fördern möchte und dabei auch unkonventionelle Lösungen nicht scheut.
 

Bewegungsreicher Unterricht

Als Teil des Programms Lihavuus laskuun haben sich fast alle Schulen in Seinäjoki am staatlichen Vorhaben Liikuva koulu beteiligt. In einigen Klassen der Schule Toukolanpuiston koulu gibt es inzwischen keine Pulte mehr. Stattdessen gibt es Balanceboards, Klebebänder auf den Fußböden, Gymnastikstangen und Basketballkörbe. Es gibt mehr Lärm, aber auch mehr Konzentration. „Ruhe zum Arbeiten und Lernen sind am wichtigsten. Aber wenn man sich zwischendurch bewegen kann steigt die Konzentrationsfähigkeit“, meint Timo Jouppila, Lehrer der dritten Klasse.
 
Die schwierigste Aufgabe des Projekts war, die Einstellungen der Lehrer zu ändern. In der Schule Toukolanpuiston koulu hat man sämtliche Regeln unter die Lupe genommen und bemerkt, dass den Kindern und Jugendlichen manches nur verboten war, weil es für die Lehrer so einfacher war. Nun ist es erlaubt, in den Pausen Fahrrad und Skateboard zu fahren – mit Helm, versteht sich.
 
Die Lehrerin Kati Männikkö hat in ihrer vierten Klasse zwar noch normale Pulte, aber auch Stehpulte, Isomatten, ein Sofa und eine ruhige Ecke. Die Schüler dürfen während des Unterrichts selbständig vom Stuhl zum Gymnastikball wechseln oder eine Isomatte als Sitzunterlage auf dem Boden ausrollen. Zu Beginn der Stunde wird das Können der Schüler mit einem Spiel getestet, bei dem Zettel mit Rechenaufgaben die komplette Klassenzimmerwand entlang geklebt werden. Man darf von einem Zettel zum anderen rennen, und zusätzliche Schritte geht man dadurch, dass der Zettel mit der Antwort am eigenen Pult aufgehoben werden muss. Am Ende der Stunde wird das Rechnen für einige Minuten unterbrochen und alle tanzen zusammen.
„Am wichtigsten ist, dass die Schüler die Bedeutung von körperlicher Aktivität begreifen, so dass diese zur dauerhaften Lebensgewohnheit wird“, fasst Männikkö zusammen.
 

Rennen erlaubt

Der Kindergarten Tikkuvuori ist der tägliche Aufenthaltsort für mehr als zweihundert Kinder. 2012 gegründet, achtete man hier von Anfang an auf gesunde Ernährung und auf möglichst vielseitige Bewegungsmöglichkeiten der Kinder. Sportunterricht gibt es nicht gesondert, die körperliche Aktivität ist ein Teil aller Tätigkeiten.
 
„Für ein Kind ist es natürlich, sich zu bewegen, man braucht nicht viel zu tun, um die Kinder dazu zu bringen“, sagt Pauliina Suvisalmi, Direktorin der Kindertagesstätte. Entscheidend war deshalb vor allem ein Wandel in der Haltung der Erzieherinnen. „Es darf nicht immer heißen ‚Nicht rennen!‘. Rennen ist erlaubt. Unsere Aufgabe ist es vielmehr, sicherzustellen, dass der Raum zum Rennen sicher ist“, fährt Suvisalmi fort.
 
Statt Rennen sind im Kindergarten Tikkuvuori hingegen Süßigkeiten verboten. In den Pausensnacks wurde Zucker reduziert, der Anteil an frischen Beeren und Früchten wurde erhöht. In Finnland ist es in Kindergärten und Schulen üblich, dass ein Geburtstagskind seiner Gruppe oder seinen Mitschülern Süßigkeiten oder andere Leckereien mitbringt. Einige Familien kamen sogar mit Torten. Geburtstage werden im Kindergarten natürlich trotzdem noch gefeiert, das Kind aber braucht nichts mitzubringen.
 
Das Ziel des Programms Übergewicht senken ist laut Ulla Frantti-Malinen jedenfalls nicht, sich nur auf die Probleme zu konzentrieren: „Eine zentrale Rolle bei unserer Arbeit spielt schließlich nicht das Übergewicht, sondern das Wohlbefinden. Unser Hauptziel ist es, Kinder und Jugendliche in jeder Hinsicht zu fördern.“
 

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