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Transnationalität - Asal Dardan: Editorial
Die Weite der Erde

Asal Dardan
Asal Dardan | Foto: Sarah Berger

Von Asal Dardan

Tausende Geflüchtete gefangen im Chaos einer überfüllten Hafenstadt, sie möchten sich retten vor einem mörderischen Regime, vor seinem Zugriff auf ihre Körper und ihr Leben, vor unlebbaren Verhältnissen. Das ist das Szenario von Transit, einem der wichtigsten deutschsprachigen Romane des 20. Jahrhunderts – entstanden zur Zeit des Zweiten Weltkriegs, allerdings zuerst in englischer und spanischer Übersetzung erschienen, bevor er 1947 auch im deutschen Original gelesen werden konnte. 

Geschrieben wurde der Roman von der Exilantin Anna Seghers in Mexiko. Mit sprachlicher Genialität und einem tiefen Wissen über die Komplexität menschlichen Fühlens und Handelns, erzählt Seghers von den traumatischen, absurden und berührenden Momenten von Menschenleben in Transit. Leben, deren Wert an Papiere gebunden ist, deren Überleben abhängt von „Obrigkeiten, [die…] immer langwierigere Prozeduren erfanden, um die Menschen [….] einzuordnen, zu registrieren, zu stempeln.“

Der schwedisch-nigerianische Dichter und Fotograf Cletus Nelson Nwadike hat anlässlich der schwedischen Neuübersetzung von Transit einen persönlichen Brief an Anna Seghers geschrieben. Darin reflektiert er die Bedeutung des Romans für ihn, aber auch für unsere Zeit. Er beschreibt, dass das Mittelmeer heute wieder zum Symbol geworden ist für die Grausamkeiten, die unsere menschengemachten Systeme anderen zumuten: „Es ist Hohn, einen Menschen zu bitten, sein Leben für ein Visum nach Europa zu opfern.“

Dieser Tage lässt Nwadikes Satz einen auch an Afghanistan denken, wo tausende bedrohte Menschen nicht rechtzeitig evakuiert wurden, obwohl es unsere politische Pflicht gewesen wäre. Ursache war unter anderem auch das Festhalten an einem Bürokratismus, der das einzelne Leben nicht sieht und würdigt. Wie können wir uns erlauben, Menschen im Stich zu lassen oder zu demütigen, weil sie an einem anderen Ort geboren wurden? Wie viele eingezäunte oder gar verlorene Leben möchten wir durch vorenthaltene Stempel und fiktive Grenzen noch in Kauf nehmen?

Welche Realitäten hinter solchen Fragen stecken können, beschreibt Sinthujan Varatharajah in einem literarischen Essay über Geschwister, die sich mit unterschiedlichen Pässen auf die Reise machen: „Before arriving here, we had shared a bed and a car to the same airport. The boarding cards we held shared the same flight number, airline name and destination. Even our seat numbers were neighbouring numbers. And yet, in this very moment, we were forced to part way. As if we were strangers. We had arrived at a border.“

Einen weiteren Brief in die Vergangenheit schickt der in Nordfrankreich geborene Autor Jayrôme C. Robinet, geschrieben in Berlin und adressiert an den Arzt und Forscher Magnus Hirschfeld, der 1935 wenige Jahre nach seiner Flucht vor den Nazis in Nizza verstarb: „Lieber Magnus, ich komme in ein Alter, in dem ich mich frage, wo ich sterben werde. Du bist an Deinem Geburtstag gestorben. Du warst 67 Jahre alt geworden. Hattest Du Deine Kerzen schon ausgeblasen? Die Flamme war früher ein Symbol, weißt Du, eine Warnung an die bösen Geister, damit sie keine Macht über das Geburtstagskind ausüben. Pff. Aus.“
 
Hirschfeld gilt als Pionier der Sexualforschung, sein Verdienst kann kaum überschätzt werden, ebenso wie der Verlust des von ihm 1919 in Berlin gegründeten und von den Nazis am 6. Mai 1933 geplünderten Instituts für Sexualwissenschaft. Wären das Abstammungsgesetz und das Transexuellengesetz, die bis heute Menschen unnötig gängeln und diskriminieren, längst reformiert worden, hätte das Institut seine Arbeit fortsetzen können? Es wäre denkbar, denn Hirschfeld arbeitete auch aktivistisch, weil er verstand, dass Sexualität und Geschlecht immer politisch sind. Er war Mitbegründer der ersten weltweit bekannten Bewegung, die sich der Entkriminalisierung von Homosexualität widmete. Auf seinem Grabstein, der an einem für ihn fremden Ort steht, ist sein Lebensmotto verewigt: Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit.
 
Der Frage, wie Wissenschaft und Gerechtigkeit zusammenzudenken sind, ob es überhaupt eine neutrale, objektive Wissenschaft gibt, widmet sich das Interview mit den Germanist*innen Maha El Hissy, Leila Essa und Adrian Daub. Sie unterrichten deutsche Literatur an renommierten Universitäten in London, Dublin und Stanford und haben in diesem Jahr alle drei den offenen Brief zum Preis der Leipziger Buchmesse unterschrieben. Der Brief kritisierte, dass mit den fünfzehn Romanen, Sachbüchern und Übersetzungen ausschließlich weiße Autor*innen nominiert wurden und machte Vorschläge, wie dem entgegenzuwirken sei. Im Gespräch mit ihnen wird deutlich, dass es weitaus mehr als einer Reform des Kanons und einer Ausweitung von Themenfeldern bedarf. Vielmehr muss „ein fluktuierendes Umdenken, das dynamisch und immer neu verhandelbar ist“ in unsere Institutionen Eingang finden, das nicht kosmetische, sondern tiefgreifende und nachwirkende Veränderungen zulässt.
 
Einen konkreten Blick auf aktuelle deutschsprachige Literatur, die von diesem dynamischen Denken und Leben durchdrungen ist, wirft Julia Lorenz in ihrer Sammelrezension von Anna Prizkaus Kurzgeschichtenband Fast ein neues Leben sowie den Romanen Eine Formalie in Kiew von Dmitrij Kapitelman und Das achte Kind von Alem Grabovac. Das Transitorische prägt diese literarischen Werke, deren Lektüre die Erkenntnis bringt: „Es ist nicht immer die Uneindeutigkeit, die schmerzt. Sondern die mangelnde Bereitschaft der Hegemonialgesellschaft, diese auszuhalten.“
 
Es ist höchste Zeit, die Frage nach Heimat nicht mehr von außen an Menschen heranzutragen wie eine voyeuristische Aufforderung, Auskunft über Zugehörigkeits- oder Zerrissenheitsgefühle zu geben. Beides können Menschen selbstverständlich empfinden, aber welche Funktion hat es als öffentliches Dauerthema? Als Gesellschaft sollte uns vielmehr beschäftigen, welcher sozialen und materiellen Umstände es bedarf, damit Menschen sich heimisch fühlen können – ungeachtet ihrer Geburtsorte, ihrer Sprachen, ihrer Konfessionen und ethnischen Zuschreibungen, über kulturelle und körperliche Differenzen hinweg. Überall dort, wo es an Inklusion, Gerechtigkeit und Solidarität mangelt, wird es Menschen geben, die von anderen Menschen heimatlos gemacht werden.
 
Das zuverlässigste und doch bedrohteste Zuhause, das wir haben, sind ohnehin unsere Körper, schreibt der US-amerikanische Autor Eli Clare in seiner einzigartigen Essaysammlung Exile And Pride. Wir können diese Körper nicht in der Einzahl denken, das hat uns nicht zuletzt die Pandemie gezeigt, und das wird uns auch der Klimawandel immer deutlicher zeigen. Nur in aufrichtiger und global gedachter Gemeinschaftlichkeit können wir etwas daran ändern, dass manche Körper und damit auch Menschenleben bedrohter sind als andere, dass sie immer wieder politisiert oder ihrer Autonomie beraubt werden. Heute gilt noch der Satz, den der britisch-ugandische Schriftsteller Musa Okwonga in dem für diese Spezialausgabe von Marie Isabel Matthews-Schlinzig übersetzten Auszug aus In The End It Was All About Love wie eine Anklage wiederholt: „Was für eine Zeit, um in einem Migranten-Körper zu stecken.“

In Anna Seghers Transit spricht der Protagonist von einer Hoffnung auf „die Weite der Erde“. Auch wenn ich weiß, wie stark die menschliche Neigung ist, sich einer ideologischen Enge hinzugeben, teile ich diese Hoffnung. Ich wünsche mir die Weite der Erde als Heimat für alle. Für diesen Wunsch stehen die Beiträge dieser Spezialausgabe, für die ich mich bei allen Beitragenden bedanke.
 

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