Die ermordete ukrainische Schriftstellerin Victoria Amelina  Erinnerungsfeste

Die ermordete ukrainische Schrifstellerin Victoria Amelina
Die ermordete ukrainische Schrifstellerin Victoria Amelina Foto: © Zakhar Davydenko | instagram.com/davydenko.jpg/

Jeden Tag nimmt oder zerstört der Krieg in der Ukraine Leben. Auf der Liste der Opfer stehen Namen mehrerer ukrainischer Künstler und Künstlerinnen, die für Wahrheit und Gerechtigkeit kämpften. Der Name von Victoria Amelina, der ukrainischen Schriftstellerin, die durch einen russischen Raketenangriff ums Leben kam, gehört nun auch dazu. Victorias Geschichte wird von ihrer Kollegin Kateryna Yehorushkina erzählt.

Im ukrainischen Original verzichtet die Autorin mit Absicht auf die Großschreibung des Wortes „Russland“ (росія). In der Übersetzung ist das entsprechend beibehalten, indem dieses Wort (russland) und seine Ableitungen (russen, russifizierung etc.) im Sinne des Originaltextes kleingeschrieben sind. Anm. d. Übers.

Ich bügle schwarze Kleidung für die Beerdigung einer Kollegin, die jünger war als ich. Ihr Name war Victoria Amelina. Erst vor kurzem hatte Vika zusammen mit Kolleg*innen im Rahmen eines großen Literaturfestivals in Kyjiw das Tagebuch des von russen ermordeten Kinderbuchautors Wolodymyr Wakulenko präsentiert. Sie saß dort in einem schwarzen Kleid und las Wolodjas Worte aus der elegant gestalteten Ausgabe vor: Ich verwandle mich... Tagebuch der Besetzung. Ausgewählte Gedichte (Я перетворююсь… Щоденник окупації. Вибрані вірші). Vika hatte das Originaltagebuch in einem Garten aus einem mit russischen Minen übersäten Hof ausgegraben, wo Wolodymyr mit seinem Vater und seinem Sohn gelebt hatte. So konnte sein Erbe bewahrt werden, und so war sein Opfer nicht sinnlos. Nun ist Victoria Amelina selbst ermordet worden. Am 1. Juli blieb ihr Herz stehen. Eine russische Iskander-Rakete traf die Schriftstellerin in einer Pizzeria in Kramatorsk, wo sie in Begleitung von kolumbianischen Kolleg*innen war.

Zwischen Minen herumlaufen, Verstümmelte, Vergewaltigte und Gefolterte interviewen... Im Ausland das Recht auf Gerechtigkeit für Kriegsopfer verteidigen. Das schien das Einzige zu sein, das ihren Schmerz lindern konnte und worin sie einen Sinn fand.

Mit dem Beginn der vollumfänglichen Invasion sagte Victoria, es sei für sie kaum denkbar gewesen, weiter Fiktion zu schreiben, weil „die Realität des Krieges die Interpunktion, die Kohärenz der Handlung auffrisst...“ Stattdessen entstanden Gedichte als Reflexionen über das Gesehene und Gehörte. Während eines Aufenthalts in Slowjansk erwähnte Victoria in einem Interview: „Hier stürzen alle Worte wie in einen Abgrund wegen der Geschehnisse um uns herum...“ Als Schriftstellerin suchte sie nach Gerechtigkeit, die ohne eine Bestrafung der begangenen Verbrechen undenkbar ist. Deshalb schloss sie sich im Sommer 2022 der internationalen Organisation Truth Hounds an, die sich auf die Dokumentation und Untersuchung von Kriegsverbrechen spezialisiert. Victoria wurde ausgebildet und reiste in die besetzten Gebiete sowie in die Nähe der Frontlinie, um Zeug*innen zu hören, ihre Aussagen zu dokumentieren und der Welt die Wahrheit über diesen völkermörderischen Krieg zu erzählen.

Empathie

Es mag scheinen, dass dies keine passende Arbeit für eine sanfte und einfühlsame Schriftstellerin ist (, die Victoria zweifellos war). Zwischen Minen herumlaufen, Verstümmelte, Vergewaltigte und Gefolterte interviewen... Auf internationalen Plattformen auftreten, das Recht auf Gerechtigkeit für Kriegsopfer verteidigen. Diese Tätigkeit schien jedoch das Einzige zu sein, das ihren Schmerz lindern konnte und worin sie einen Sinn fand. In Victorias Roman November-Syndrom. Homo Compatiens gibt es folgende Worte:

Wenn man sich einmal zu viel vornimmt, verliert man den Glauben an das eigene Getrenntsein. Umhüllt, umschlungen von der Welt, kann man nicht mehr unterscheiden... zwischen sich und dem Anderen, dem Nächsten und dem Fernen, zwischen Ärger und Verzweiflung, zwischen Verzweiflung und... Gerechtigkeit? Keine Ahnung, ganz ehrlich, es ist einfach so, der Unterschied verschwindet. Dann verschlingt die Welt solche Menschen. So verschlucken Meereswellen Muscheln und kleine Boote.

Der Held des Romans war ein junger Mann, der eine besondere Störung hatte: übermäßige Empathie. Victoria glaubte, dass gerade die Fähigkeit, mitzufühlen und sich einzufühlen, die Welt retten könnte. Der Fotograf Alex Sakletskyj hat sie so in Erinnerung: „Immer wenn Vika lächelte, war ihr Lächeln ein bisschen traurig. Wie in den barocken Marienbildern. Als hätte sie kein Recht zu lächeln, während jemand auf dieser Welt leidet. Sie hat wirklich für alle und mit allen gelitten.“

Sie tauchte bis in die kleinsten Details der internationalen Gesetzgebung und Gerichtsverfahren ein. Sie sah es als ihre Aufgabe an, die Welt daran zu erinnern, dass ein Sieg ohne Gerechtigkeit und Bestrafung für alle, die Verbrechen begangen haben, unmöglich ist.

Ich habe bereits Erfahrungen mit Zeug*innenbefragungen gemacht und verstehe gut, welche emotionalen Herausforderungen diese Arbeit mit sich bringt. Erinnerungen vermitteln und gleichzeitig keine Wunden aufreißen. Dem befragten Menschen das Gefühl hinterlassen, dass er diesen Schmerz nicht allein überwinden muss, dass es auf der Welt „fernverwandte Seelen“ gibt. Victorias Freundlichkeit und Einfühlungsvermögen, ihr großes Herz und ihre Gewissenhaftigkeit waren ideal für eine solche Arbeit. Sie freundete sich mit der Familie von Wolodymyr Wakulenko an und kümmerte sich um seinen minderjährigen Sohn, der an einer schweren Autismus-Spektrum-Störung leidet. Sie gab vielen anderen Familien, die vor dem Krieg geflohen und in ihrer Wohnung in Lwiw Zuflucht gefunden hatten, Hoffnung auf Rettung. Vika besorgte Medikamente, kaufte Drohnen und unterstützte finanziell zahlreiche ehrenamtliche Initiativen.

Gerechtigkeit

Während Victoria Zeug*innenaussagen sammelte, konzipierte sie ein Buch über ukrainische Frauen, die Kriegsverbrechen russlands gegen die Ukraine dokumentierten: Menschenrechtsverteidigerinnen, Journalistinnen, Militärangehörige und Kulturschaffende. Das Buch sollte War and Justice Diary: Looking at Women Looking at War (Kriegs- und Gerechtigkeitstagebuch: Frauengesichter und Frauenblicke im Krieg) heißen. Tetyana Teren, die Exekutivdirektorin von PEN Ukraine und Freundin der Schriftstellerin, sagt: „Das Wort ‚Gerechtigkeit‘, das auch im Buchtitel steht, motivierte Victoria dazu, im Kontext eines umfassenden Krieges ihren Beruf zu wechseln, ein neues Geschäft zu beginnen und es auf höchstem Niveau zu meistern. Sie tauchte dabei bis in die kleinsten Details der internationalen Gesetzgebung und Gerichtsverfahren ein. Sie sah es als ihre Aufgabe an, die Welt daran zu erinnern, dass ein Sieg ohne Gerechtigkeit und Bestrafung für alle, die Verbrechen begangen haben, unmöglich ist.“

Tetyana sagt, dass Vika „beschloss, das erste Sachbuch in ihrem Leben zu schreiben, und zwar gleich auf Englisch. Da sie lange Zeit im Ausland gelebt hatte, in Kanada und in den USA, waren ihre Englischkenntnisse einwandfrei. Ich denke, dass die Kernidee, die Victoria in diesem Buch darstellen und vor allem der ausländischen Leserschaft erklären wollte, darin bestand, dass russland seit vielen Jahrzehnten und Jahrhunderten kontinuierlich Verbrechen gegen die Ukraine und die ukrainische Kultur begeht. Die Schlüsselaufgabe war zu zeigen, dass sich die Geschichte wiederholt, wenn die Welt diese Verbrechen nicht verurteilt.“

Tetyana merkt an, dass das Buch unvollständig blieb, obwohl Victoria einen erheblichen Teil bereits geschrieben hatte. Die Schriftstellerin plante, an dem Buch im Rahmen einer Literaturresidenz in Frankreich weiterzuschreiben und gleichzeitig mehr Zeit mit ihrem Sohn zu verbringen. Aufgrund ihrer ständigen Reisen musste dieser oft bei anderen Verwandten bleiben. Leider wird Victoria ihre Pläne nie verwirklichen können. In der französischen Residenz wird eine russische Schriftstellerin arbeiten, die kein einziges Wort dagegen verlor, dass russland ihre ukrainischen Kolleg*innen tötet.

Ich hoffe, dass ich die schlechteste Investition geworden bin, die russland je getätigt hat.“

Victoria Amelina

Identität

Wie viele Schriftsteller und Schriftstellerinnen unserer Generation stammt Victoria aus einer russischsprachigen Familie. Sie besuchte eine russische Schule, doch als Erwachsene entschied sie sich bewusst für das Ukrainische als primäres Zeichen ihrer Identität. In ihrem Essay Expanding the Boundaries Of Home: a Story for Us All (Die Grenzen der Heimat erweitern: Eine Geschichte für uns alle) erinnert sich Vika an russlands Bemühungen, die Kinder der unabhängigen Ukraine zu russifizieren, und an die Einladung zu einem russischen Sprachwettbewerb in Moskau, die sie als Jugendliche angenommen hatte. Eine Journalistin führte damals ein Interview mit Victoria für einen führenden russischen Fernsehsender und fragte sie ernsthaft, wie gefährlich es sei, in Lwiw russisch zu sprechen. Das Mädchen von damals antwortete überhaupt nicht im Sinne der russischen Propaganda, sodass Vika später bezweifelte, ob dieses Interview überhaupt ausgestrahlt worden war. „Ich hoffe, dass ich die schlechteste Investition geworden bin, die russland je getätigt hat“, so fasste Victoria ihre Überlegungen zu diesem Ereignis und der Politik der russifizierung unserer Generation in der unabhängigen Ukraine zusammen.

Die Schriftstellerin verstand sehr gut, wie stark die Identität durch Kultur geprägt wird. Daher gründete sie das „New Yorker Literaturfestival“ im Dorf Nju Jork (Нью Йорк, Oblast Donezk) nahe der Frontlinie. Laut Tetiana Teren wollte Victoria, „dass sich genau in dieser Region ein großes Kulturfestival entwickelt, um die lokale Gemeinschaft, lokale Kulturmanager*innen und begabte Kinder zu fördern. Es ging ihr dabei nicht nur um unsere Gegenwart, das war eine Arbeit für die Zukunft. Sie spürte sehr deutlich, wo unsere Hilfe in dieser Region gebraucht wird und wie wir diejenigen unterstützen können, die diese Region gestalten und verändern. Dies war die grundlegende Idee ihres Lebens und es ist wichtig, dass diese Idee durch uns alle weiterlebt.“ Victoria organisierte außerdem einen Essaywettbewerb und plante ein Literaturcamp für Kinder in den Karpaten. Sie kümmerte sich um die Entwicklung der Talente zukünftiger ukrainischer Schriftsteller und Schriftstellerinnen.

Vertrauen

In ihren Texten spricht Vika oft über Vertrauen und seine Rolle beim Aufbau der von ihr ersehnten Welt. Das Vertrauen, das die Ukrainer*innen während der Revolution der Würde zueinander empfanden, als sie auf den Maidan gingen, um dem Unrecht und der Ungerechtigkeit zu widerstehen. Das Vertrauen, mit dem zunächst Flüchtlinge von der Krym und dem ukrainischen Osten aufgenommen wurden und mit dem später die Ukrainer ihre Leben Freiwilligen aus Polen, Deutschland und anderen europäischen Ländern anvertrauten.

Mit dem Vertrauen ist das Gefühl von Heimat fest verknüpft. Um das Vertrauen wiederherzustellen, braucht man wahre Geschichten, die Victoria gesammelt und gedeutet hat.

Im Essay Expanding the Boundaries of Home wies Victoria darauf hin, dass die Geschichte der Ukraine voller verschwiegener Traumata ist. „Die schweigende Stille hinterlässt Risse, die so tief sind, dass man sich kaum zuhause fühlen kann. Bis die Geschichten des Holocausts und des Holodomor vollständig aufgedeckt werden, sind wir zum gegenseitigen Misstrauen verdammt.“ Mit dem Vertrauen ist das Gefühl von Heimat fest verknüpft. Um das Vertrauen wiederherzustellen, braucht man wahre Geschichten, die Victoria gesammelt und gedeutet hat. Ohne diese Wahrheit „sind wir gezwungen, der Propaganda zu glauben, immer wieder falsche Grenzen zu ziehen und uns nie wirklich zu Hause fühlen zu dürfen.“

Kontinuität (von Gut und Böse)

Im Vorwort zu Wolodymyr Wakulenkos Tagebuch schrieb Victoria: „Meine schlimmste Befürchtung wird wahr. Ich erlebe die neue Erschossene Renaissance (Розстріляне відродження, Rosstriljane widrodschennja). Alles wie in den 1930er Jahren: Ukrainische Künstler*innen werden ermordet, Manuskripte verschwinden, Erinnerungen verblassen und vergehen. Als ob die Zeiten sich vermischen und einfrieren würden, bis es eine endgültige Lösung gibt...“ Während der sogenannten Erschossenen Renaissance wurde infolge stalinistischer Repressionen eine ganze Generation ukrainischer Künstler ermordet. Leider setzte Stalins Tod der Verfolgung kein Ende. Die Schriftsteller verharrten in Lagern, wurden als „Volksfeinde“ gebrandmarkt oder zum Schweigen gezwungen. Selbst in den 1980er Jahren waren fingierte Strafanzeigen gegen Schriftsteller*innen üblich. So starb Vasyl Stus, der berühmte ukrainische Dichter der sechziger Jahre, 1985 im Gefängnis.

Nun erklingen seine Zeilen in den Liedern der ukrainischen Band Pyrih i Batih (Пиріг і Батіг, deutsch: Kuchen und Peitsche), die man während der Beerdigungszeremonie von Victoria Amelina hört:

„Um mich herum ist der Friedhof der Seelen
auf dem weißen Friedhof des Volkes.
Ich schwimme in Tränen, suche eine Furt.
Ein Maikäfer fliegt über die Kirschen.“
 

Die Erdklumpen fallen auf den Sarg und es beginnt zu nieseln. Jemand betont: Victoria kämpfte für eine Welt ohne das Böse für ihren Sohn. Und ich schaue mir Vikas Sohn an und denke über die Kontinuität des Bösen nach, das immer noch am Töten ist, gestern wie heute.

Als irische Kollegen Victoria fragten, wie sie es überhaupt aushalten konnte, so viele Beerdigungen erleben zu müssen, sagte sie: „Wir umarmen uns oft“. Vielleicht hält dieses Zugehörigkeitsgefühl uns alle fest. Deswegen gibt es bei Victoria Beerdigung viele Umarmungen. Denn die Kontinuität des Guten ist wichtiger.

Erinnerung

„Du kannst dich im Jenseits ruhig erholen, während wir hier noch ein bisschen weiterarbeiten“, sagt Zakhar Davydenko, ein Vertreter des PEN Ukraine, in dem auch Victoria Mitglied war und der oft kulturelle Veranstaltungen mit ihrer Teilnahme organisierte.

Wir füllen unsere Kalender mit Erinnerungen: Beerdigungen, Totenwachen, Geburtstage von Freund*innen und Kolleg*innen, die von russland getötet wurden. Wir planen Gedenkfeiern, benennen Straßen nach den Verstorbenen um und veröffentlichen ihre unvollendeten Bücher. Wir sind noch so jung und müssen uns an so vieles erinnern, müssen Kraft finden für diese schmerzhaften Erinnerungen.

Victoria Buch wird im Ausland veröffentlicht.

Victorias Dokumentationen der Verbrechen werden dazu beitragen, die Täter zu bestrafen und die Gerechtigkeit wiederherzustellen.

Das „New Yorker Literaturfestival“ wird weiterhin stattfinden und neue Generationen ukrainischer Künstler*innen fördern.

Denn eine liebevolle Erinnerung errichtet Brücken in die Zukunft.

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