Eine Flucht durch Feindesland  „Mir wurde angeboten, Kollaborateur zu werden“

„Mir wurde angeboten, Kollaborateur zu werden“ - Eine Flucht durch Feindesland Illustration: © Tetiana Kostyk

Wir treffen Dmytro und Maryna in einem Schloss am Wasser im polnischen Dorf Wojnowice. Die Mauern dieses Rittersitzes haben schon viele Kriege überstanden, und jetzt lauschen sie der Erzählung über einen weiteren Krieg, der in der Mitte Europas stattfindet und gerade jetzt, während unseres Gesprächs, weitere Menschenleben fordert.

Dmytro Serhejew ist Ukrainer, geboren im nordsibirischen Norilsk, deshalb besitzt er einen russischen Pass. Während der Besetzung von Nowa Kachowka [am Südufer des Dnipro in unmittelbarer Nähe des im Juni 2023 zerstörten Kachowka-Staudamms, Anm. d. Red.] organisierte er in seinem Nachtclub ein Versteck für Einwohner*innen und half ukrainischen Aktivist*innen und Freiwilligen. Aus diesem Grund wurde er von den Besatzern verhört, die später versuchten, ihn zur Kollaboration drängen.

Maryna Serhejewa ist studierte Geographielehrerin. Das zweite Kind der beiden kam während der russischen Besatzung zur Welt, unter dem Donner der Explosionen. Schließlich wagten sie wegzuziehen.

Norilsk

Dort ist meine Heimat. Ich habe mir das nicht ausgesucht. Ich wurde nur deshalb dort geboren, weil meine Eltern dort arbeiteten. Als ich erwachsen war, wurde mir klar: Ja, Leute! Ich habe Russland satt. Ich werde in Nowa Kachowka, in der Heimat meiner Eltern, leben. Weil es mir dort gefällt. Weil wir als Ukrainer eine andere Mentalität haben.

Hatte ich irgendwelche Illusionen über die Russen? Nein, die hatte ich nie. Ich stamme von dort und kannte die ganze „Küche“ von innen. Bis 2005 war die Frage der Nationalität nicht besonders aktuell. Und dann begannen die Russen, jeden scharf nach seiner Nationalität zu definieren. Mir wurde der Spitzname „Chochol“ [eine abfällige russische Bezeichnung für Ukrainer*innen, Anm. d. Übers.] gegeben. Aber ich war nicht beleidigt, sondern betrachtete es als Kompliment. Aber dann fingen sie irgendwie an, es auf eine sehr böse Art und Weise zu tun. Sie versuchten, die Gesellschaft aufzuhetzen.

Norilsk ist eine Industriestadt. Sie sieht so aus, als hätte dort bereits ein Atomkrieg stattgefunden. Schlechte Umwelt? Es gibt dort gar keine Umwelt. Die Tundra ist in einem Umkreis von fünf Kilometern verbrannt. Alles ist grau und traurig. Früher habe ich diese Stadt geliebt, wegen meiner Kindheit, meiner Jugend... Aber jetzt habe ich keine Gefühle mehr. Am 24. Februar ist alles verbrannt.

Meine schwangere Frau nahm unsere kleine Tochter aus dem Kinderbett und trug sie in die Toilette, unseren einzigen Schutzraum. Erst dort sah ich, dass sie unsere Tochter verkehrt herum trug.

Der 24. Februar

Der erste Angriff in der Nacht des 24. Februar galt einer Militäreinheit in der Nähe unseres Hauses. Unsere Fenster wurden herausgesprengt. Meine schwangere Frau nahm unsere kleine Tochter aus dem Kinderbett und trug sie in die Toilette, unseren einzigen Schutzraum. Erst dort sah ich, dass sie unsere Tochter verkehrt herum trug. Mir wurde schlecht vor Panik. Ich musste meine Tochter und meine schwangere Frau retten. Zuerst wollte ich über den Damm des Wasserkraftwerks fahren. Ich bin froh, dass ich es nicht getan habe. Dort gab es die ersten Todesopfer unserer Stadt. Die Besatzer schossen auf ein Auto mit einer Familie. Augenzeugen berichteten, dass die Kinder noch lebten und bluteten, aber die Russen erlaubten den Ärzten nicht, sie zu versorgen. Das jüngste Kind war eineinhalb Monate alt...

Der Nachtclub

Wir beschlossen, uns im Keller zu verstecken. Ich besaß einen großen Nachtclub im Stadtzentrum mit einer Disco und Billard. Wir öffneten die Türen für die Stadtbewohner und innerhalb von zwei Stunden war der Keller voll. Zu dieser Zeit schossen feindliche Flugzeuge heftig auf die Stadt: Wir sahen Raketen über uns fliegen. Ich hatte Angst, dass meine Frau eine Fehlgeburt haben würde... Die Erwachsenen gerieten in Panik. Um die Kinder irgendwie abzulenken, zeigten wir ihnen Zeichentrickfilme auf dem Projektor und machten eine Disco. Unser Keller ist gut, so waren die Explosionen dort kaum zu hören. Was wir den Kindern schwer erklären konnten, war, warum sie nicht nach draußen gehen konnten.

Das Verhör

Eines Tages stoppte mich das russische Militär, um mich zu kontrollieren, und brachte mich in einen Raum im Souterrain. Sie setzten mich mit dem Gesicht zur Wand und klickten mit dem Abzug ihrer Gewehre. Als sie herausfanden, woher ich komme, fragten sie mich, ob ich jemals wegen meiner russischen Sprache unterdrückt worden sei. Ich blieb stumm. Dann kam ihr Chef und fragte dasselbe.
 
„Wenn ich dir ehrlich antworte, wirst du mir eins aufs Auge hauen.“
„Nein, nein, sag es mir, es ist interessant.“
„Bevor ihr gekommen seid, ging es mir super. Ich wurde eingeladen, für offizielle Veranstaltungen Ansagen zu machen – den Tag der Jugend, den Tag der Stadt. Ich habe das auf Russisch gemacht und es gab keine Probleme. Nun, wen wollt ihr hier verteidigen?“

Er stand da, schwieg und ließ mich nach einer Stunde gehen. Aber dann kamen sie noch ein paar Mal zu uns zum „Überprüfen“.

Ich habe während der Besatzung unter dem Donner der Explosionen entbunden. Das Kind kam fünf Minuten vor zehn Uhr zur Welt. Der Arzt scherzte, dass ich es noch rechtzeitig vor der Ausgangssperre geschafft hatte.

Die Kundgebung

Als sich die Menschen ein wenig erholt hatten, organisierten sie eine Kundgebung gegen die Besatzung [am 6. März fand eine Kundgebung mit vielen Tausenden Teilnehmern statt, Anm. d. Red.]. Ich hatte die Technik, stellte professionelle Lautsprecher auf dem Platz auf, spielte die ukrainische Hymne und half einigen Jungs, die ich kannte. Nach der Kundgebung kam das Militär zu den Jungs, und sie verschwanden. Ich weiß immer noch nicht, wo zwei von ihnen sind. Die Russen kamen auch drei oder vier Mal zu mir, und ich habe sie angelogen. Meine Frau stand kurz vor der Entbindung, ich habe ein kleines Kind... Heldentum wäre sinnlos gewesen.

Ein Kreuz

Ich habe während der Besatzung unter dem Donner der Explosionen entbunden. Das Kind kam fünf Minuten vor zehn Uhr zur Welt. Der Arzt scherzte, dass ich es noch rechtzeitig vor der Ausgangssperre geschafft hatte. Ich war die einzige Frau auf der Entbindungsstation. Gegen zwölf Uhr nachts begannen die Besatzer, Raketen direkt neben uns abzufeuern. Sie waren oft in der Nähe von Kindergärten, Schulen und Krankenhäusern stationiert, damit man auf sie nicht zurückschießt. Ich hielt das Baby ganz nah bei mir, musste irgendwelche Papiere unterschreiben, und meine Hände zitterten. Der Arzt sagte: „Zeichnen Sie doch wenigstens ein Kreuz.“ Und das habe ich getan.

Freiwillige

Die Freiwilligenarbeit wurde extrem gefährlich. Einige wurden in Kellergefängnisse gesperrt, andere in ihrem Auto erschossen. Olena, die Besitzerin eines Schönheitssalons, richtete in ihrem Raum ein Lager mit Medikamenten ein. Als sie das letzte Mal Medikamente transportierte, geriet sie unter Raketenbeschuss.

Es kam oft vor, dass die Besatzer die Autos anhielten, die Medikamente direkt auf die Straße kippten, sie vernichteten, auf die Räder schossen und sagten: „Fahr los!“ Da war Insulin und alles, was Leben retten konnte. Einfach auf den Asphalt gekippt.

Das Angebot

Mir wurde angeboten, Kollaborateur zu werden. Es war sehr gefährlich, abzulehnen, aber Gott sei Dank habe ich es irgendwie geschafft. Meine Freunde, die jetzt kämpfen, hätten mich nicht verstanden. Und ich hätte mich selbst auch nicht mehr verstehen können.

Ich habe eine Bar eröffnet, denn ich musste Geld für meine Familie verdienen. Manchmal kamen auch Besatzer dorthin. Einmal haben welche von unseren Jungs Russen verprügelt. Dafür wurden sie einen Monat lang in einen Keller gebracht und gefoltert. Einige von ihnen kamen nie wieder heraus. Oder besser gesagt, sie kamen mit den Füßen voran heraus. Einer von ihnen kam lebend zurück und sagte, er bereue nichts.

Die Wahrheit

Ich habe einmal mit einem Besatzer gesprochen, der in der Nähe von Mariupol gekämpft hatte.
 
Er sagte: „Ich war auf der Suche nach der Wahrheit.“
„Und wie sieht die Wahrheit aus?“ fragte ich.
„Von dreihundert sind nur dreißig zurückgekehrt.“
„Warum denn?“
„Hör mal, ich verstehe, was hier vor sich geht. Aber ich hatte einen Befehl...“
„Du hast doch ein Maschinengewehr!“
„Willst du, dass ich es dir gebe?“

Der Sohn

Mein Sohn aus erster Ehe lebt in Norilsk. Vor dem Krieg besuchte er zwei Jahre lang bei uns unsere ukrainische Schule, und davor verbrachte er alle seine Ferien in der Ukraine. Nach der Schule wollte er zu uns ziehen. Und jetzt müssen sie in ihrer Schule jeden Morgen die russische Hymne singen und haben drei oder vier Stunden pro Woche Unterricht mit dem Titel Gespräche über das Wichtige. In diesen Unterrichtsstunden erklären die Lehrer den Kindern, warum Kinder wie sie in der Ukraine sterben müssen. Auch die Besatzer kommen und versuchen zu rechtfertigen, warum sie die Ukrainer umbringen. Sie sagen dann „Wir haben geräumt“ statt „Wir haben den Vater, die Mutter oder das Kind von jemandem getötet“.

Zunächst weigerte sich mein Sohn, an diesen Unterrichtsstunden teilzunehmen, als er aber dazu gezwungen wurde, begannen er und sein Freund während des Unterrichts die ukrainische Nationalhymne zu singen. Zuerst leise, dann immer lauter... Was da los war! Sie luden seine Mutter vor, versuchten, mich in Nowa Kachowka anzurufen, drohten mit dem Jugendamt. Sie versuchten, mit meinem Sohn nach ihren Vorschriften zu reden, ihm zu sagen, dass Russischsprachige in der Ukraine unterdrückt würden. „Ich habe dort gelebt“, sagte mein Sohn, „und ich wurde nie unterdrückt.“ Sie erzählten, dass Russen in die Ukraine gekommen seien, um Menschen zu beschützen. „Beschützt ihr meinen Vater mit euren Bomben in Nowa Kachowka?“ Sie wussten nicht, was sie darauf antworten sollten. Wenn man eigene Erfahrung hat, funktioniert Propaganda nicht. Am Ende sagten sie, dass es ein Verbrechen sei, auf Ukrainisch zu singen, also hörte mein Sohn auf. Aber er blieb bei seiner Meinung. Ich bin sehr stolz auf ihn!

„Salpeter“

Das Ereignis, das die meisten Einwohner dazu brachte, die Stadt zu verlassen, war der sogenannte „Salpeter“-Vorfall. Es wurde ein Munitionsdepot getroffen. Alles im Umkreis von drei bis fünf Kilometern wurde weggeblasen – es blieb ein leeres Feld.

Die Besatzer sagten, es sei Salpeter gewesen, aber alle wissen Bescheid, was es war. Dann gingen wir wieder in den Keller hinunter. Wir hatten selbst Angst, aber wir versuchten, mit den Kindern zu scherzen, indem wir sagten, dass „Peng! Peng!“ ein Feuerwerk sei. Aber die Kinder spüren alles... Meine älteste, Vassylyna, war ein Jahr und zehn Monate alt und da hatte sie bereits ihren ersten Nervenzusammenbruch. Einmal saß sie auf dem Sofa und pustete Seifenblasen. Da gab es einen lauten Knall. Meine Tochter verschüttete vor Schreck die Seifenblasen auf dem Sofa und rannte weinend zur Toilette. Da beschlossen wir zu gehen. In die ukrainisch kontrollierten Gebiete konnten wir nicht fahren, weil die Russen dann auf das Auto geschossen hätten. Also beschlossen wir, über die Krim zu fahren.

Die Krim

Nachdem wir Nowa Kachowka verlassen hatten, warteten wir fast ein Jahr auf die Ausstellung eines Reisepasses für mich. Wir mieteten eine Wohnung in Jalta, und ich bekam einen Job als Elektriker. Als wir einmal Reparaturen in einer Schule durchführten, fand ich einen ganzen Stapel ausgefüllter Stimmzettel, auf denen die Leute mit Nein im Referendum [über die Annexion der Krim – Anm. d. Red.] gestimmt hatten. Sie wurden nicht ausgezählt. Es sind dort nur noch wenige Einheimische geblieben. Die meisten sind Besucher aus Russland. Unter den Einwohnern von Jalta, mit denen wir sprachen, gab es null, ja noch weniger als null Anhänger der russischen Regierung. Alle verstehen alles. Sie warten und haben gleichzeitig Angst. Niemand hat seinen ukrainischen Pass weggeworfen.

Im Krankenhaus

Einmal musste ich mit meiner älteren Tochter ins Krankenhaus. Kinder aus dem „Artek“ wurden waggonweise dorthin gebracht: mit Vergiftungen und Infektionen [Die Russen brachten Kinder aus anderen besetzten Gebieten ins Ferienlager „Artek“ und schickten sie oft nicht zu ihren Eltern zurück, sondern brachten sie anschließend nach Russland, Anm. d. Red.] Niemand wollte uns behandeln, dem Kind ging es wirklich sehr schlecht, es war bewusstlos. Nur eine Ärztin behandelte uns normal.
 
Ich sagte: „Wissen Sie, meine Tochter ist Ukrainerin... Wir haben keine russische Versicherung. Ich werde etwas Geld verdienen und es Ihnen zurückzahlen.“
„Wir sind hier alle Ukrainer“, antwortete die Ärztin.

Sie verschrieb eine angemessene Behandlung, unterschrieb die Papiere und sorgte dafür, dass wir nur den Mindestbetrag bezahlten.

Selbstachtung

Endlich bekam ich meinen Reisepass. Auf dem Weg von der Krim fuhren wir über die Stadt Twer [etwa 170 Kilometer nordwestlich von Moskau, Anm. d. Red.], wo meine Schwester wohnt. Sie gehört zu denjenigen, die an den Kundgebungen in Russland teilgenommen und dann dafür gelitten haben. Ihr Freund wird immer noch vermisst. In Nowa Kachowka verschwanden plötzlich Menschen und kehrten nicht mehr zurück, ebenso in Russland selbst. Rechte gelten nichts. Wir waren alle schockiert, als dort die ersten Kundgebungen begannen und wir in den Nachrichten sahen, wie zwei Polizisten ein Mädchen wegschleppten. Und vierhundert Demonstranten standen da und sahen einfach zu. Könnte man sich das in der Ukraine vorstellen? Nein, niemals! Die Polizisten wären verprügelt worden. Selbst ich, der ich Verantwortung für meine Familie und meine Kinder trage, hätte mich für das unbekannte Mädchen eingesetzt. Komme was wolle, ich könnte das nicht mit ansehen, ich würde mich dann selbst nicht mehr achten.

Hoffnung

An dem Tag, an dem wir Twer in Richtung Europa verlassen wollten, zog Prigoschin [mit Kämpfern der Wagner-Gruppe, Anm. d. Red.] gen Moskau. Wir waren so glücklich! Wir dachten: Lass uns noch ein bisschen warten, vielleicht können wir dann gleich nach Hause zurückkehren. Es war erstaunlich zu sehen, in welchem Aufruhr die Russen sofort waren. Es war noch nichts passiert, aber sie rannten schon in die Geschäfte, um Graupen zu kaufen. Obwohl ich ein guter Mensch bin und versuche, solche Gedanken von mir fernzuhalten, dachte ich damals: „Was für Nissen! Wenn ihr jemals gehört hättet, wie es knallt, wenn in der Nähe eures Kindes etwas explodiert, dann hätte ich gerne gesehen, wie ihr euren geliebten Präsidenten unterstützt! Ich wünschte, ihr könntet einen Tag so leben, wie wir ein ganzes Jahr gelebt haben! Ihr seid nicht imstande, das Ganze, das komplexe Bild zu sehen... Euer Gehirn sollte umgepolt werden, damit ihr plötzlich merkt: Oh, das war doch alles falsch! Sowas darf man nicht machen.“

Wir hatten kaum Trinkwasser und Lebensmittel mehr. Es wurde dunkel. Rehe liefen herum. Und wo es Rehe gibt, gibt es auch Wölfe.

Angst

Wir waren in Eile, weil wir den ersten Geburtstag unserer jüngsten Tochter in einem normalen Land feiern wollten. Wir suchten nach dem kürzesten Weg und entschieden uns, den Grenzübergang Ubilynka [nach Lettland, Anm. d. Red.] zu passieren. Zuerst verlässt man die Autobahn und fährt auf einer schlechten Straße, und dann auf einer Straße, die gar keine mehr ist. Das Auto schüttelte sich, als ob wir auf Eisenbahnschwellen fahren würden. Entlang der Straße gibt es verlassene Dörfer mit schwarzen, ausgebrannten Holzhäusern. Das Navigationsgerät funktionierte nicht. Mobiltelefon und Internetverbindung waren komplett verschwunden. Wir hatten kaum Trinkwasser und Lebensmittel mehr. Es wurde dunkel. Rehe liefen herum. Und wo es Rehe gibt, gibt es auch Wölfe. Es war mir nicht mehr leid ums Fahrwerk, in Panik drückte ich nur noch mehr aufs Gas. Gott sei Dank, ist dem Auto nichts passiert, wir hätten dort sterben können, bevor wir die Grenze erreichten.

Die Hölle

An der russischen Grenze war die Hölle los. Wir verbrachten dort zwei Tage. Die Grenzsoldaten zeigten keine Menschlichkeit. Und dazu noch das Wetter: Mal war es heiß, dann regnete es in Strömen. Menschen, die die Grenze zu Fuß überqueren mussten, standen stundenlang mit kleinen Kindern auf dem Arm im Regen. Es gab weder Bänke noch Trinkwasser. Die einzige Toilette war in einem solchen Zustand, dass es unmöglich war, sie zu betreten. Haufen von Scheiße schauten dich an und sagten: „Hallo. Hier ist besetzt“. Es war überall das Gleiche. Es war wie... ein Gemälde von Ilja Repin. Natürlich hatte ich den Geburtstag meiner Tochter nicht hier feiern wollen. Aber sie hat sogar Geschenke bekommen! Eine Dose Schmalzfleisch, eine Dose Kondensmilch und 10 Euro. Das war das Geschenk einer ukrainisch-kasachischen Familie, die wir in der Warteschlange getroffen haben. Um vier Uhr am Morgen waren wir an der Reihe. Wir näherten uns dem Fenster mit unseren Papieren.

Die Grenzbeamtin fragt uns: „Warum hat Ihr Vater die Staatsbürgerschaft angenommen und Sie nicht?“
„Weil ich es nicht will. Und er hatte keine Wahl, er wurde mit diesem Pass geboren.“

Da verzog die Grenzbeamtin ihr Gesicht. Jetzt waren die Papiere meiner jüngeren Tochter an der Reihe, die während der Besatzungszeit geboren wurde.
„Warum ist sie staatenlos?“
„Wir wollen für unser Kind keine russische Staatsbürgerschaft.“

Wieder verzog sich das Gesicht der Beamtin.
„Was soll das heißen, Sie wollen sie nicht?“
„Nun, wir wollen nur noch weg von hier und nie mehr zurückkommen.“
„Zeigt mir die Kinder!“

Wir nehmen die zwei Kindersitze, heben sie hoch und zeigen ihr die schlafenden, süß schniefenden Kinder.
„Warum sind ihre Augen geschlossen?“
„Weil Kinder in der Nacht schlafen.“
„Okay, weg damit“, sagt sie so verächtlich, als würde sie sagen: „Räumt euren Müll auf“.

Sie schnaubte noch etwas und ließ uns dann doch durch.

Menschlichkeit

Auf der lettischen Seite der Grenze war die Einstellung eine ganz andere: ein kühler Raum, Wi-Fi, eine normale Toilette, Malbücher für Kinder. Als russischer Staatsbürger wurde ich zum Verhör vorgeladen. Die Vernehmungsbeamtin war eine junge Frau, die besser Russisch sprach als die russischen Grenzbeamten, die uns wie Hunde über ihre Schultern anbellten. „Nach den Ergebnissen der Befragung werden wir entscheiden, ob wir Sie durchlassen oder nicht“, sagte die Lettin und fügte plötzlich hinzu: „Sie haben sicher Hunger nach einer langen Reise!“ Sie holte ihr Mittagessen in einer Lunchbox und gab es mir. Dann brachte sie den Kindern einen Apfel, Brötchen und eine Nektarine.

Polen

Wir sind hier sehr gut aufgenommen worden. Sie helfen uns hier bei der Anpassung. Meine Frau und ich scherzen, dass wir unsere erste Tochter während des Lockdowns zur Welt gebracht haben und die zweite während der Besatzung. Wir werden keine weiteren Kinder bekommen, denn wir wollen keine Steine vom Himmel fallen sehen.

Zuhause

Wie hat uns diese Erfahrung verändert? Wir sind stärker geworden. Wenn du ein Mensch bist, bleibst du unter allen Umständen ein Mensch. Und unsere Stadt Nowa Kachowka ist sehr stark. Nichts kann sie brechen, unter keinen Umständen. Egal, wie lange die Besatzung dauert, Nowa Kachowka wird ukrainisch bleiben. Haben wir vor, zurückzukehren? Natürlich wollen wir das! Sobald die letzte Granate gefallen ist, werden wir unsere Koffer packen und unsere Heimat wieder aufbauen. Ich bin Elektriker, ein Hochspannungselektriker, also werden meine Hände dort sicher gebraucht. Auch wenn es dort nicht gut bezahlt wird. Wie könnte es anders sein? Nowa Kachowka ist unser Zuhause. Ich möchte, dass meine Kinder zu Hause leben.

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