Plagiatsaffäre im slowakischen Parlament  Über die Regierungstitel im Fürstentum der Karpaten

Premiér Matovič (rechts) steht hinter seinem Koalitionspartner.
Premiér Matovič (rechts) steht hinter seinem Koalitionspartner. Foto: © SME | Marko Erd

Im Juni kam heraus, dass die Diplomarbeit, für die der slowakische Parlamentspräsident Boris Kollár seinen akademischen Titel an einer obskuren Universität bekommen hat, ein Plagiat ist. Der slowakische Ministerpräsident Igor Matovič nimmt in der Affäre die Rolle eines Komplizen ein, findet der Hochschullehrer Matej Karásek.

In der erst vier Monate alten slowakischen Regierung ist Boris Kollár, Parlamentspräsident und Vorsitzender der Partei Sme rodina (Wir sind eine Familie) seit der Koalitionsbildung eine problematische Figur. Denn Boris Kollár wurde vor allem durch die Schule der Mafia-Wirtschaft im wilden Postsozialismus der 90er Jahre geprägt. Der derzeitige Ministerpräsident Igor Matovič gewann die Nationalratswahl im Februar dadurch, dass er die Korruption der vorherigen Regierung und deren Verbindungen zur „Mafia mit weißen Kragen“ anprangerte.  Seine Entscheidung, die Partei von Boris Kollár in die Regierungskoalition einzuladen, führte deshalb in Teilen der Bevölkerung zu Ernüchterung.
 
Die Zusammenarbeit mit diesem Mann, der nachweislich freundschaftliche Beziehungen zu den Halsabschneidern der 90er Jahre gepflegt und Luxusurlaube mit ihnen verbracht hatte, und der auch mit den raffinierten Vertretern des organisierten Verbrechens im neuen Jahrtausend in Verbindung stand, zum Beispiel mit Marián Kočner, der beschuldigt wird, den Mord an einem Journalisten in Auftrag gegeben zu haben, passte so gar nicht zur Anti-Mafia-Rhetorik von Ministerpräsident Matovič. Obwohl er auch ohne Boris Kollárs Partei Sme rodina mit knapper Mehrheit eine Regierung hätte bilden können, begründete Matovič seine Einladung zur Koalition mit der intern umstrittenen Aussage, dass er eine starke Regierung brauche, um die Mafia zu besiegen.
 
Im Juni stellte sich heraus, dass Boris Kollárs Diplomarbeit, auf deren Grundlage er einen Abschluss an einer obskuren Universität erhalten hatte, ein Plagiat war. Derartige Fälle kommen zwar überall auf der Welt vor, doch schon der Parlamentspräsident während der vorherigen Legislaturperiode war des Plagiats überführt worden. Kollár ist also bereits der zweite Plagiator als Chef der Legislative. Nachdem der Betrug seines Vorgängers aufgedeckt worden war, schlug die damalige Opposition zusammen mit dem derzeitigen Ministerpräsidenten Matovič, und auch mit Parteikollegen von Kollár, Alarm und forderte erfolglos den Rücktritt. Doch jetzt, nachdem sie an die Macht gekommen sind und ein Plagiator in den eigenen Reihen entlarvt worden ist, appellieren die Vertreter der damaligen Opposition nicht mehr an dieselben moralischen Grundsätze wie noch vor eineinhalb Jahren. Ministerpräsident Matovič ließ verlauten, die Forderung nach einem Rücktritt von Kollár gefährde die Stabilität der Regierung und es bestehe die Gefahr, dass die Mafia in Führungspositionen des Staates zurückkehrt.
 

Matovičs Vertrag mit der Hölle

In Geschichte und Politik kommt es häufig vor, dass sich scheinbar weniger bedeutsame Entscheidungen später als fatal herausstellen. Der unerfahrene und neu gewählte Ministerpräsident eines Landes, das die enorme Herausforderung der Coronavirus-Pandemie vorbildlich meisterte, hat, indem er Boris Kollár als Parlamentspräsidenten verteidigte, nicht nur über den künftigen Kurs seiner Regierung, sondern offensichtlich auch über deren Schicksal entschieden. Kollárs plagiierte Diplomarbeit hätte für Matovič ein Geschenk des Himmels sein können, doch statt dieses Geschenk anzunehmen, unterschrieb Matovič lieber einen Vertrag mit der Hölle.
 
Nach Bekanntwerden der Causa hätte Matovič seinen problematischen Partner relativ bequem aus dem Amt des zweithöchsten Verfassungsvertreters entfernen können, ohne dass seine Regierung die Sitze der übrigen Abgeordneten von Kollárs Partei verloren hätte und ohne eine politische, wirtschaftliche oder soziokulturelle Debatte loszutreten, die möglicherweise das Ende der Regierungskoalition bedeutet hätte. Mit ein wenig politischem und kommunikativem Geschick hätte Matovič von Kollár sogar etwas fordern können, was in der Geschichte der politischen (Un-)kultur der Slowakei auch im Jahr 2020 leider nicht zu einem Präzedenzfall im Zusammenhang mit Plagiaten geworden ist: die Aufgabe seines Abgeordnetenmandats.
 
Hätte Matovič etwas riskiert und einen Teil seines politischen Kapitals in eine klare Geste investiert, wäre die Regierungsführung zwar vielleicht zeitweise weniger bequem geworden, doch diese Investition in Prinzipienfestigkeit hätte sich für ihn später um ein Vielfaches auszahlen können. Die Menschen, von denen viele nach dem Mord an dem Journalisten Ján Kuciak und seiner Verlobten unter dem Motto „Für eine anständige Slowakei“ an den größten Massenprotesten seit der Samtenen Revolution teilnahmen, hätten glauben können, dass Matovič seine Beteuerungen, es gehe ihm um einen neuen Anstand in der slowakischen Politik, wirklich ernst meint.
Boris Kollár verteidigte sich auf einer Pressekonferenz mit einem Protokoll, das die Originalität seiner Diplomarbeit belegen soll. Boris Kollár verteidigte sich auf einer Pressekonferenz mit einem Protokoll, das die Originalität seiner Diplomarbeit belegen soll. | Foto: © SME | Marko Erd

Das Hungertal des politischen Anstands

Wenn Matovič glaubt, dass seine Vogel-Strauß-Taktik ihn nichts kostet, so täuscht er sich stark. Matovič wird nicht nur eine Demoralisierung und Demobilisierung von Wählern anzukreiden sein, die wieder keinen Unterschied zwischen dieser Regierung und den vorangegangenen sehen, sondern es zeigt sich auch, dass er Kollár mental viel näher ist, als er in der Öffentlichkeit zugibt, dass er keine politische Wende repräsentiert, sondern nur die Fortsetzung einer politischen Tradition, die durch das Fehlen elementaren menschlichen Anstands gekennzeichnet ist.
 
Während der Premierminister in Bezug auf den Plagiator Konsequenzen hätte ziehen können, ohne der Koalition Zündstoff für mögliche staatlich-administrativen, soziokulturellen oder wirtschaftlichen Debatten zu liefern, hat er nun eine Moraldebatte entfacht. Es sieht bereits jetzt so aus, als ob die anscheinend moralisch profilierteren Abgeordneten der kleinsten Regierungspartei Za ľudí (Für die Menschen), aber auch einige Personen aus Matovičs eigenem Umfeld anfangen, gegen das Tolerieren von Kollárs Plagiat zu protestieren. So wie man in Hungertälern am meisten über Essen und in Militärkasernen am meisten über Sex spricht, werden die Diskussionen in der slowakischen Politik erneut zeigen, was – trotz der neuen und rhetorisch ambitionierten Regierung – der Politik dieses Landes noch am meisten fehlt.
 
Die Slowakei ist ein Hungertal des politischen Anstands, und das Argument, dass wir ein gewisses Maß an Unmoral dulden müssen, wenn wir nicht wollen, dass die Mafia in die Staatsführung zurückkehrt, zieht bei vielen Bürgern, die sich nach Anstand in der Politik sehnen, nicht mehr. Die Tore zur Führung des Landes standen jedoch allen mafiösen Menschen unmittelbar nach den Wahlen offen und heute zeigt der Ministerpräsident, dass ihn deren betrügerische Manieren, die er an der vorherigen Regierung so hartnäckig kritisierte, gar nicht so sehr stören.
 
Die Causa Kollár zeigt sehr deutlich, wo sich die Slowakei im Vergleich zu ihren westlichen Nachbarn zeitlich und räumlich befindet. Anstatt die Geduld und gegenseitige Toleranz dazu zu verwenden, naturgemäß bestehende unterschiedliche Ansichten zu wichtigen politischen und wirtschaftlichen Fragen zu klären, haben die Koalitionspartner nicht nur ihren Vertrauensvorschuss verschwendet, sondern – und das ist noch ernster – sie müssen sich auch darüber verständigen, was sie von Eltern und Kindergartenerziehern vor langer Zeit hätten lernen sollen: grundlegenden menschlichen Anstand.
 
Wenn Kollár also nicht auf sein Amt verzichtet, wird ein Großteil von Matovičs Wählern verzichten. Im besten Fall verzichten sie auf ihre Teilnahme am politischen Leben. Im schlimmsten Fall aber werden sie nicht einmal mehr die Parteien wählen, die man mit zugekniffenem Auge und einer gewissen Dosis Wohlwollen noch nicht als extremistisch einstufen muss. Regierungen, in denen sich zwar die Namen ändern, nicht jedoch der betrügerische Manierismus der Mafia-Helfershelfer haben nur einen Herausforderer: Extremisten. Und eine Enttäuschung durch eine Regierung, die eine Alternative zu Korruption und Mafiaverwicklungen der vorherigen Regierung versprochen hat, ist eine großartige Gelegenheit für einen großen historischen Moment der Extremisten.
 

Sie wählten die Schande und bekommen den Krieg

Die Folgen von Matovičs Nichtangriffspakt mit Kollár bezüglich dessen Diplomarbeit können mit einer gewissen Weitsicht durch einen berühmten Ausspruch erfasst werden, der (nicht ganz zweifelsfrei) Winston Churchill zugeschrieben wird, welcher angeblich die Unterzeichnung des Münchner Abkommens durch Chamberlain folgendermaßen kommentierte: „Sie hatten die Wahl zwischen Krieg und Schande. Sie wählten die Schande und werden trotzdem den Krieg bekommen.“
 
Matovič kann für seine Idee, Kollárs Diplomarbeit über dem Kopf zu schwenken wie Neville Chamberlain das mit Hitler unterzeichnete Münchner Abkommen, um damit der slowakischen Politik „Frieden für unsere Zeit“ zu bringen, ebenso bezahlen, wie dieser britische Staatsmann. Er gibt seine Souveränität auf und lässt es innerhalb der eigenen Koalition zum Krieg kommen, aber auch zum Krieg mit denjenigen, die Hitler auffallend ähneln und darauf auch gehörig stolz sind.
 
Die sich entwickelnde Tradition, Plagiate von Parlamentspräsidenten zu tolerieren, hat jedoch auch andere schwerwiegende Konsequenzen in Form einer Botschaft an die breite Öffentlichkeit. Wie sollen sich tausende von Studenten beim Schreiben ihrer Diplomarbeiten verhalten, wenn diejenigen, die als moralischer Kompass dienen und die gesellschaftliche Messlatte ethischer Standards schrittweise hochsetzen sollten, diese selbst unterwandern?
 
Die Toleranz gegenüber Plagiaten in höchsten Staatskreisen schadet nicht nur dem Ansehen und der Glaubwürdigkeit der betroffenen staatlichen Institutionen, sondern raubt in den Augen der Öffentlichkeit auch dem akademischen Grad selbst seinen Wert. Plagiatoren wie Kollár haben nicht nur die tatsächlichen Autoren der Texte, aus denen sie in ihre Diplomarbeiten abschrieben, geschädigt, sondern sie brachten auch Hunderttausende von ehrlichen Studenten und Absolventen um das Gewicht und den Stolz auf ihre hart verdienten Titel. Und bei dieser zweiten Unverschämtheit verhält sich der Ministerpräsident bisher wie ein Komplize.
 

Minderwertige Berufe

Wenn die Öffentlichkeit nicht mehr genug Druck auf die Regierung ausüben kann, damit diese personelle Konsequenzen aus Plagiatsaffären zieht, muss dies zumindest einzelnen akademischen Einrichtungen gelingen, die als positive Leuchttürme fungieren, Staaten in einem Staat, in dem leider mit anderen Maßstäben gemessen wird. Dafür ist es jedoch notwendig, dass sie ihre Arbeitsethik in der Öffentlichkeit und gegenüber Politikern und auch gegenüber den Kollegen und anderen Bildungseinrichtungen sorgfältig schützen.
 
Das können (nicht nur) Hochschullehrer sein, die ihren Studenten überzeugend vermitteln, dass Bildung und ein ehrlicher Abschluss, auch wenn dies auf den ersten Blick anders erscheinen mag, einen höheren Wert haben als ein Abschluss, den sich jemand – in welcher Position auch immer – als modisches Accessoire zusätzlich zu seinen teuren Autos, Geliebten und Rolex-Uhren besorgt hat. Kollár sagte zu seiner Verteidigung, dass „es“ sich fast jeder Student einfach macht. Wenn Dozenten dieser Beleidigung ihrer Studenten widersprechen, ihnen menschliches Vertrauen entgegenbringen und gleichzeitig die Echtheit ihrer Arbeiten professionell überprüfen, dann besteht noch die Hoffnung, dass die Studenten als zukünftige treibende Kraft des Landes mit dieser Plagiatsplage ein für alle Mal fertig werden. Aber zuerst einmal müssen die Akademiker ganz allein an ihren jeweiligen Arbeitsplätzen damit zurechtkommen.
 
Bereits während der Plagiatsaffäre des ehemaligen Nationalratsvorsitzenden sagte ich als Hochschuldozent meinen Studenten, dass ich mir der Unehrlichkeit unserer gewählten Vertreter bewusst bin, dass wir in unserer Fakultät jedoch anständige Menschen bleiben und uns nicht auf ihr Niveau herablassen werden. Wenn die Spitzenpolitiker ihre Toleranz gegenüber akademischem Betrug weiterhin so kultivieren, wird auch bald das Amt des Parlamentspräsidenten in der Wahrnehmung des Volkes zu einer moralisch minderwertigen Institution, die gewöhnlich von zweifelhaften Personen besetzt ist. So wie Eltern ihre Kinder davor warnen, Drogen zu nehmen, weil sie sonst auf der Straße landen werden, könnten Hochschullehrer vielleicht bald ihre Schüler davor warnen, beim Schreiben von Arbeiten zu betrügen, da sie sonst im Nationalrat landen und Parlamentsvorsitzende werden.
 

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