Regulierung der Medien  „Die Welt hat sich an oberflächliche Nachrichten gewöhnt“

Die Soziologin und ehemalige slowakische Premierministerin Iveta Radičová
Die Soziologin und ehemalige slowakische Premierministerin Iveta Radičová Foto: © SME | Marko Erd

In den Medien dominiert meistens ein großes Thema die Nachrichtenlage – und auch das nur für eine begrenzte Zeit. Die Soziologin und ehemalige slowakische Premierministerin Iveta Radičová spricht im Interview darüber, warum das so ist und was uns außerdem noch kümmern sollte.

Warum beschäftigen wir uns nur mit einem großen Problem, während andere zur selben Zeit weniger Aufmerksamkeit bekommen?

Auf diese Frage gibt es mehrere Antworten, denn es gibt eine ganze Kette von Ursachen. Ein Grundprinzip ist: Wenn für ein komplexes Problem eine einfache Lösung auf dem Tisch liegt, dann ist diese Lösung nicht richtig.

Was sind die Ursachen?

Die erste Ursache ist, dass Kommunikation sich grundlegend verändert hat und hauptsächlich online stattfindet. Wir unterschätzen die Tatsache, dass sämtliche Informationen für jede interessierte Person zugänglich sind. Wir haben einen größeren Überblick und sind informierter. Gleichzeitig gibt es auf der ganzen Welt Milliarden verschiedener Medien. In Bezug auf Informationen transformiert allein dieser Fakt die Offline- in eine Online-Welt.

Was bedeutet die Transformation der Offline- in eine Online-Welt?

In der Online-Welt dominieren kurze, schnelle, visuelle Nachrichten. Die Dynamik und das Halten eines Nutzers auf einem Online-Medium bedeutet gleichzeitig, eine Informationsblase für ihn zu erschaffen und mit ihm über ein Thema zu kommunizieren, das sein Thema und seine Einstellung ist: Dieser Effekt ist ähnlich einem Echo oder einem Spiegel. Und zu dieser Geschwindigkeit kommt noch eine Reduktion auf Schlagzeilen hinzu. Wir lesen keine langen Artikel. Der Text muss auf ein Handydisplay passen, denn der Großteil der Rezeption erfolgt bereits über Mobiltelefone. Sobald der Text länger ist, muss man scrollen, wobei der Kontext verloren geht. Es ist also viel weniger Platz vorhanden. Das heißt, dass nur kurze und einfache Sätze gefragt sind und bestimmt keine langen Erklärungen.

Als das Internet aufkam, dachten wir, wie gebildet wir alle sein würden. Und was ist heute los? Wir erklären, dass die Erde keine Scheibe ist!“

Also konsumieren wir oberflächliche Nachrichten?

Die ganze Welt hat sich an oberflächliche Nachrichten gewöhnt. Als das Internet aufkam, dachten wir, wie gebildet wir alle sein würden. Und was ist heute los? Wir erklären, dass die Erde keine Scheibe ist! Ja, es ist auch Raum für Missbrauch entstanden, für Populismus und Verschwörungstheorien, für ekelhafte Manipulation bis hin zum Cyberkrieg. All das sind neue Dimensionen, deren negative Auswirkung man in dieser Größenordnung nicht hat kommen sehen. Und gegen eine noch stärkere Ausbreitung muss nun angekämpft werden.

Warum haben die negativen Seiten dieser Entwicklung derart ungeahnte Ausmaße angenommen?

Als das Fernsehen aufkam, wurde noch am gleichen Tag ein Gesetz zu dessen Regulierung erlassen, denn es entstand ein Massenmedium mit riesiger Reichweite. Für Medien mit noch größerer Reichweite wie das Internet inklusive der sozialen Netzwerke geschah nichts in der Art, aber zumindest dieselben Regularien sollten hier greifen. Denn sonst sind die regulierten Medien gegenüber nicht regulierten Medien im Nachteil. Das ist kein gleichberechtigter Wettbewerb. Man hat keine Chance, wenn man mit einem Medium konkurriert, das sagen kann, was es will, ohne überhaupt nur im Geringsten irgendwelche Informationen zu überprüfen und ohne die Verantwortung dafür übernehmen zu müssen, wenn sich irgendetwas als Lüge oder Fake News herausstellt.
 
Klaus Schwab, der Gründer des Weltwirtschaftsforums, sagte auf einer Konferenz: „Wir haben ein Monster erschaffen, das wir nicht mehr unter Kontrolle bekommen. Liebe Sozialwissenschaftler, bitte, wir brauchen unbedingt einen moralischen Kompass.“ Wenn also schon Autoritäten nach Regularien rufen, dann sollten wir wohl nicht zögern. Wir befinden uns in der Informationsrevolution. Das Internet ist die größte Umwälzung seit der Erfindung des Buchdrucks.

Warum findet keine Regulierung durch die Medien selbst statt?

Ich begrüße die Initiative der Europäischen Union, endlich Regularien zu schaffen, denn alle Versuche zur Selbstregulierung, die die Internetdienstleister und Eigentümer der sozialen Netzwerke zugesichert hatten, sind gescheitert. Sie haben selbst zugegeben, dass sie es nicht schaffen, Ordnung zu schaffen. Sie können die Rekrutierung von Terroristen in sozialen Netzwerken nicht verhindern. Sie haben einen Haufen Leute eingestellt und hier entsteht ein ganz neuer Beruf. Auf der einen Seite gibt es Trolle, die Desinformationen erfinden, und auf der anderen Seite diejenigen, die hinter den Trollen saubermachen. Neue Spezialisierungen entstehen, neue Software. Ironischerweise scheint es, als würden sich Softwareunternehmen gegenseitig mit Arbeit versorgen. Ohne diejenigen, die Viren produzieren, hätten die Hersteller von Antivirensoftware nichts zu tun. So profitiert einer vom anderen und sie multiplizieren ihre Gewinne. Nun, bitte schön, das können sie gern so machen, aber das Ergebnis sollte letzten Endes sein, dass der Bürger auch eine relevante Information erhält. Also einen Fakt.

Und was ist mit der Freiheit des Wortes?

Ja, sobald man anfängt, darüber zu sprechen, kommt sofort der Einwand „Aber die Freiheit des Wortes ...“ Es geht hier ganz sicher nicht um Zensur. Die Freiheit des Wortes steht jedoch nicht für sich allein da. Sie ist Teil der Menschenrechte und es ist eine in Stein gemeißelte Regel, quasi ein Gesetz, dass kein Recht unter Verletzung anderer Rechte ausgeübt werden kann. Das ist ausgeschlossen. Wir können und müssen diese Freiheit garantieren, aber Vorsicht! Freiheit hat Grenzen. Eingeschränkt wird sie zunächst einmal durch das Recht auf Schutz der Persönlichkeit. Ganz zu schweigen von anderen, direkt lebensbedrohlichen Themen, wie der Verbreitung von Hass, Rassismus, Pädophilie und dergleichen. Es ist ausgeschlossen, dass so etwas in den öffentlichen Medien stattfindet. In der Theorie ist das also mehr als klar. Es muss nur in die Praxis umgesetzt werden.

Alle Versuche zur Selbstregulierung, die die Internetdienstleister und Eigentümer der sozialen Netzwerke zugesichert hatten, sind gescheitert.“

Wäre nationales Abkapseln eine Lösung?

Wäre es nicht. Es kann nicht mehr der Weg sein, sich in irgendeinen nationalen Kokon zurückzuziehen. Und das ist ein weiteres wichtiges Thema, dem wir aus dem Weg gehen, weil wir nicht der Diffamierung der Nation beschuldigt werden wollen. Der sozioökonomische Konflikt, der nach dem Zweiten Weltkrieg vorherrschte, verwandelte sich im 21. Jahrhundert in einen Konflikt um Identität. Das ist eine ziemlich ernste Angelegenheit. Es ist ein unter nationalen Vorzeichen geführter Kampf gegen die globale und globalisierte Welt, bei welchem die Globalisierung für alle negativen Auswirkungen verantwortlich gemacht wird. Dann taucht die „einfache Lösung“ auf: Der Rückzug in die nationale Gesellschaft oder Gemeinschaft, die uns dann vor der Globalisierung und allem drohenden Unheil schützt. Das heißt, dass durch extreme Globalisierung und Offenheit ganz automatisch das Thema Identität aufkommt. Dadurch kommt die Frage der Nation wieder auf den Tisch und diese geht auch immer mit dem Extrem des Nationalismus einher. Immer. Der Konflikt um die Identität trägt auch immer noch eine weitere Gemeinheit in sich, die den Gegner ins Mark treffen soll. Es geht nicht um den Kern der Frage „Wer bin ich?“, sondern der Raum zur Selbstidentifikation wird durch hart definierte Feindbilder geschaffen: „Ich bin anders als die anderen.“ Das ist eine negative Definition und keine positive. Und das geht bis hin zu persönlichen Angriffen oder sogar verbalen Hinrichtungen.

Wessen Aufgabe ist es, die tragenden Themen zu formulieren?

Natürlich in erster Linie die der regulierten Medien, für die das Gesetz gilt. Es ist Aufgabe der Eliten und zwar der Eliten jeglicher Art, und es ist die Aufgabe der Politiker und der Zivilgesellschaft. Sie müssten diese Themen zur Diskussion stellen. Und trotz der Fragen, die Politiker im medialen Raum gestellt bekommen, sollten sie diesen Raum dazu nutzen, ihr Thema anzusprechen und es auch weiterzuverfolgen.

Gibt es irgendein Beispiel aus der Praxis, ein Thema, das man so lange nicht ruhen ließ, bis es gelöst war?

Ja, gibt es: Die Aufhebung der 1998 ausgerufenen Mečiar-Amnestie. Genau sieben Leute haben 20 Jahre lang nicht aufgegeben und alle ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten genutzt, damit das Thema nicht in Vergessenheit gerät. Und der Grund ist sehr prosaisch. Wenn man es zulässt, dass auf diese Art und Weise gegen die Rechtsstaatlichkeit verstoßen wird, dann ist anschließend alles möglich. Daher darf man einen solchen Missbrauch des Staates nicht stillschweigend durchgehen lassen, und deshalb wurde das Thema wiederholt im Parlament vorgelegt. Mehrere Male während der Regierungszeit Mikuláš Dzurindas [1998 – 2006] und auch meiner Regierungszeit [2010 – 2012], und während Ficos zweiter Regierungszeit [2012 – 2016] wurde die Sache erneut beraten, bis die Amnestie 2017 schließlich aufgehoben wurde. Da wurde unermüdlich und beständig an einem Problem festgehalten, man ließ es nicht ungelöst in der Versenkung verschwinden. Wenn wir solche „glorreichen Sieben“ finden, die Wunden in unserer Entwicklung immer wieder aufreißen, dann kann das dazu beitragen, dass ein Problem eines Tages gelöst wird. Manchmal schneller, manchmal dauert es ein Vierteljahrhundert. Und manchmal noch länger.

Für die Lösung welcher Probleme brauchen wir in der Slowakei mehr als ein Vierteljahrhundert?

Bis heute ist das Thema Slowakischer Staat (1939-1945) oder der Holocaust nicht aufgearbeitet, und bis heute gibt es Leute, die den Slowakischen Nationalaufstand (SNP) [von 1944] anzweifeln. Es gibt jedoch noch Menschen, die immer wieder auf diese Themen aufmerksam machen. Wenn alle es aufgeben, dann werden wir nur noch oberflächliche Nachrichten über das aktuelle Modethema haben.

Zurzeit ist die Pandemie das vorherrschende Thema. Welche anderen Probleme sollten angepackt werden?

Probleme kommen in Wellen. Wenn wir dieses Gespräch vor vier Jahren geführt hätten, hätten wir über die Flüchtlinge gesprochen. Das war damals das Hauptthema. Jetzt spielt es kaum noch eine Rolle. Dabei hat sich an der Problematik nichts Grundlegendes verändert. Flüchtlinge kommen noch immer, Asylanträge werden gestellt, es sind dieselben Länder, die das Problem betrifft, aber es ist nicht mehr das vorherrschende Thema. Es wurde in den Medien durch das Coronavirus übertönt.
 
Auch die Finanzkrise von 2008 bis 2012 haben wir noch nicht gelöst. Wir schleppen sie weiter mit uns herum. Außerdem der Terrorismus, der mit grundlegenden Fragen einhergeht, denn wir müssen die Sicherheit verstärken. Das hat auch ernsthafte Auswirkungen auf den Entscheidungsprozess. Heute steht die Pandemie an erster Stelle, das heißt, nicht die Sicherung der Grenzen, sondern die Sicherung der Gesundheit, keine Gelder für eine gemeinsame europäische Armee, sondern für einen gemeinsamen Impfstoff, medizinische Hilfsmittel und Ausrüstung sowie die Rettung der Wirtschaft.

Was könnte passieren, wenn wir die restlichen Herausforderungen vernachlässigen?

Ein weiteres Problemfeld ist die gerade in unserem Land etwas schwächelnde Demokratie. Ja, es gibt derzeit 104 demokratische Staaten auf der Welt, vor 30 Jahren waren es 50, das heißt, die Demokratisierung ist auf dem Vormarsch. Einmal alle vier Jahre haben wir freie pluralistische Wahlen, aber das ist bei weitem nicht ausreichend, um eine Demokratie mit Leben zu füllen. Die Geschichte hat gezeigt, dass nicht nur einmal bei freien Wahlen auch Diktatoren an die Macht gekommen sind, die dann zig Millionen Menschen ermordeten. Es ist völlig klar, dass ein fähiger Politiker mit autokratischen Tendenzen Wahlen mit Hilfe von gutem Marketing nutzen könnte, um aus einer Demokratie eine Kleptokratie, Oligokratie, gelenkte Demokratie oder andere Pseudosysteme zu machen, die einige als ein Hybrid aus Demokratie und Autokratie bezeichnen, aber da steckt mehr Autokratie als Demokratie dahinter.
 
Denn genauso wenig wie es reicht, in den Medien viele Klicks zu erzielen, reicht es in der Demokratie nicht, bei Wahlen viele „Klicks“ zu erzielen. In einer Demokratie muss es auch den Mechanismus eines funktionierenden Rechtsstaats geben. Elementare Gerechtigkeit, Einschränkung von Macht, die keine Gewalt auf ihre Bürger ausüben darf. Es muss einen Mechanismus zur Gewaltenteilung geben, und zwar einen strikten, der auch kontrolliert wird. Es muss eine Zivilgesellschaft entwickelt sein, die mittels Petitionen, Versammlungen oder Protesten den Machthabern zu bestimmten Zeiten ein ständiges Feedback gibt, und es muss unabhängige Medien geben, die so reguliert sind, dass sie Fakten liefern und die Bürger informieren.
 

Iveta Radičová ist eine slowakische Soziologin. Von 2010 bis 2012 war sie Premierministerin der Slowakischen Republik. Zuvor war sie Ministerin für Arbeit, Soziales und Familie. Gegenwärtig ist Radičová Professorin an der Fakultät für Massenmedien der Paneuropäischen Hochschule in Bratislava.

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