Der Vinamo-Markt in Brno  Vietnam in Mähren

Der Vinamo-Markt befindet sich nahe einer vielbefahrenen vierspurigen Verkehrsader an der Olomoucká-Straße, etwa eine Viertelstunde Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln vom Zentrum von Brno entfernt.
Der Vinamo-Markt befindet sich nahe einer vielbefahrenen vierspurigen Verkehrsader an der Olomoucká-Straße, etwa eine Viertelstunde Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln vom Zentrum von Brno entfernt. Foto: © Jakub Zbořil

Der Vinamo-Markt in Brno stand zwar im Vergleich zum Prager Sapa-Markt immer im Schatten der Aufmerksamkeit, doch ist um ihn eine lebendige Community von Einwanderer*innen aus Vietnam entstanden. In seinem Wandel spiegeln sich auch die Veränderungen im Leben der ersten und zweiten Generation der in Tschechien lebenden Vietnames*innen wider. Bernardeta Babáková und Jakub Zbořil haben sich dorthin begeben, um diese Veränderungen zu untersuchen.

Die Vlhká-Straße in Brno ist Anfang September aufgeheizt, ebenso der Bus, der sich in der Nachmittags-Rush-Hour vorwärts in Richtung des Stadtteils Černovice schiebt. Ehe wir an der Haltestelle Olomoucká aussteigen – an der Schule – betrachten wir das weitläufige Areal des Marktes, das von der vierspurigen Straße durch ein Tor getrennt ist – und durch die Aufschrift „Vinamo“. Dahinter verbirgt sich eine Abkürzung: Vietnam na Moravě: Vietnam in Mähren.

Jakub weiß noch, wie er als kleiner Junge einmal hier war, mit seiner Familie. Er versucht sich daran zu erinnern, was er damals hier gegessen und wie es ihm geschmeckt hat. Ich habe den Markt erst durch meine, wie sie sich wohl bezeichnen würden, Otaku-Freunde kennengelernt [Otaku ist ein japanischer Ausdruck für eine fast krankhafte Begeisterung für Mangas und Animes – Anm. d. Red.], die ihr Interesse für Japan unterschiedslos gleich auf ganz Ostasien ausdehnen. Meistens haben wir allerdings nur die Lebensmittelabteilung besucht, um Tofu, Koriander, Reisnudeln, Chili-Saucen zu kaufen, und dabei unauffällig das Markttreiben beobachtet. Nie haben wir es aber gewagt, mit jemandem ein Gespräch anzufangen oder das Leben der Markthändler*innen näher zu erkunden.
 

Schon wieder Reis

Ich fühlte mich fehl am Platz, ähnlich wie wenn ich den vietnamesischen Spätkauf in der Kleinstadt, wo ein Teil meiner Familie lebt, betrete, und wo ich bedient werde, ohne dass der oder die Verkaufende die Augen von der Lieblingsserie abwendet oder den Videocall mit den Liebsten unterbricht. Beim Bezahlen frage ich mich oft, ob ich nicht vorher hätte anklopfen und warten sollen, dass man mich hereinbittet.

Um meiner Scheu wie auch dem Gefühl, von einem anderen Stern zu sein, zuvorzukommen und auch, damit unser Besuch nicht bloß oberflächlich bleibt, habe ich mich an Thuy Nguyen gewendet, die Autorin eines Kochbuchs und des Blogs ZaseRyze.cz (etwa: Schon wieder Reis) und Absolventin der Technischen Universität Brno im Fach Informationsmanagement. Gemeinsam mit ihrem Mann veranstaltete sie für interkulturell Interessierte Führungen über das Vinamo-Areal, die in einem grandiosen Festmahl im Restaurant Viet Palace gipfelten. Ich hatte 2021 die Gelegenheit, nach Lockerung der Corona-Schutzmaßnahmen eine ihrer letzten Führungen zu besuchen.

Nun habe ich mich bei Thuy gemeldet und sie hat sich bereit erklärt, uns auf den Markt mitzunehmen, mit uns zu sprechen und bei Bedarf aus dem Vietnamesischen zu dolmetschen. Sie erwartet uns am Haupttor, das wir anschließend aufmerksam betrachten. Sie deutet auf einen Vogel: „Das ist ein Chim Lạc“, erklärt Thuy, „es ist ein Fabelvogel, so ein unauffälliges Symbol Vietnams.“

Tutti frutti

Die Geschichte der vietnamesischen Minderheit in der Tschechischen Republik nimmt ihren Anfang mit der Ankunft der so genannten Chrastava-Kinder. 1956 entsandte die Vietnamesische Demokratische Republik einhundert Kinder im Alter von sechs bis dreizehn Jahren in die damalige Tschechoslowakei. Sie wurden im Kinderheim in Chrastava bei Liberec untergebracht, wo bis dahin die Kinder griechischer Partisan*innen gelebt hatten. Es handelte sich um eine Hilfsgeste seitens der sozialistischen Länder gegenüber dem unter dem Krieg leidenden Vietnam. Die Regierungen der Tschechoslowakei und Nordvietnams schlossen im Folgenden eine Vereinbarung, deren Gegenstand die Verbesserung der Qualifikation der Arbeitenden war. Zehntausende vietnamesische Bürger*innen kamen zwischen 1956 und 1967 und dann nach 1973 in die ČSR. Mitte der 1980er Jahre lebten in der gesamten Tschechoslowakei bereits 28.000 Vietnames*innen. Der bilaterale Vertrag über diese Unterstützung wurde 1990 beendet.

Meine Eltern haben 1993 hier angefangen zu arbeiten, der Markt muss also irgendwann zwischen 1990 und 1993 entstanden sein.“

Mit den gesellschaftlichen und politischen Veränderungen nach 1989 hängt auch Vinamo zusammen. Wann genau der Markt entstanden ist, daran erinnert sich Thuy nicht mehr: Ab 1994 bis ins Jahr 2000 boomte hier der Verkauf.“ Vorher hatte Thuys Vater als Dreher im nahe gelegenen Adamov gearbeitet. Mit Einführung des freien Markts begannen auch die Vietnames*innen unternehmisch tätig zu werden.

In unseren Erinnerungen suchen wir weiter nach unseren ersten Begegnungen mit einem vietnamesischen Markt. Ich sehe die Stände am Parkplatz vor der Grundschule in Tišnov vor mir. Als ich die dritte Klasse besuchte, kaufte mir meine Mutter hier die schönste Schlaghose mit Schmetterlingen, die ich je gesehen habe. Jakub erinnert sich an den Markt im Zentrum seiner Heimatstadt Veselí, dem einzigen Ort auf der ganzen Welt, wo es ein Getränk mit Tutti-Frutti-Geschmack zu kaufen gab. Den Markt gibt es dort nicht mehr, vor kurzem wurde er durch Wohnhäuser ersetzt. Ein ähnliches Schicksal ereilte auch den Markt in Tišnov, der Handel hat sich professionalisiert und in ein Einkaufszentrum mit dem Namen OC Rodina (etwa: Einkaufszentrum Familie) verlagert. Dieses vietnamesische Unternehmen beschäftigt auch in Tišnov zahlreiche Einheimische.

Ich denke auch an die Kinderserie Josef und Ly, die ich schaute, als ich etwa im gleichen Alter war wie ihre Protagonisten. Aber ich erinnere mich nicht daran, dass das tschechische Fernsehen diese Serie noch einmal ausgestrahlt hätte. Vielleicht bin ich auch einfach der Zielgruppe entwachsen und habe umgesattelt auf die Literatur des amerikanisch-vietnamesischen Schriftstellers Ocean Vuong.

Ein Eimer Chicken Wings zur Feier des Frauentages

„Tschechen arbeiten auch hier, aber eher im Lager“, sagt Thuy. Wir verlassen das Tor in Richtung der Läden und betrachten die ausgestellte Ware: reihenweise Kartons mit künstlichen Blumen – Rosen, Lilien, Dahlien, die in zwei Monaten als Dekoration zu Allerheiligen auf den Friedhöfen landen. Im nächsten Karton Plüschtiere, buntes Spielzeug. „Solange es auf der Welt Kinder gibt, wird hier auch Spielzeug verkauft“, sagt Thuy.

Wir erinnern uns an unsere Klassenkameraden, die es besser hatten als wir, weil sie ihren Geburtstag mit einem Happy Meal bei McDonald’s feiern durften.

Bevor wir das Erdgeschoss der Halle betreten, deutet Thuy auf einen Bereich, wo sich heute das Lager des Lebensmittel-Großmarkts Tamda Foods befindet: „Bevor das Viet Palace gebaut wurde, haben wir uns alle hier getroffen, zum Beispiel zum Kindertag, dem vietnamesischen Frauentag oder zur Feier des neuen Mondjahrs.“ Ich muss mit der Hand meine Augen vor der prallen Sonne abschirmen und schaue auf einen kleinen betonierten Platz, stelle mir Tische vor, die sich unter Keramikschüsseln biegen, den Duft von Ingwer, Reis, Nudeln, Saucen, Fleisch. „Meist haben wir bei KFC bestellt, fuhrenweise Junkfood“, lacht Thuy über meine Vorstellung, „für uns war das damals das Beste: das Neue, aus Amerika.“ Wir erinnern uns an unsere Klassenkameraden, die es besser hatten als wir, weil sie ihren Geburtstag mit einem Happy Meal bei McDonald’s feiern durften.

Die Bedeutung des Restaurants Viet Palace klingt in unserem Gespräch wiederholt an. Bevor dieses weitläufige gläserne und großzügig eingerichtete Gebäude 2017 eröffnet wurde, nutzte die vietnamesische Community das Haus der Arbeiter in Brno-Židenice. Heute finden im Viet Palace neben den Festen zu wichtigen Feiertagen auch Hochzeiten statt, hier treffen sich die Vietnames*innen zu den Versammlungen ihrer Vereinigungen oder zum gemeinsamen Fußballgucken. Thuy ist sich allerdings nicht sicher, wer außer der vietnamesischen Nationalmannschaft der Favorit der Fußballfans ist.

Am Eingang zum Markt sind wir drei Bier trinkenden Männern auf Plastikstühlen begegnet, die Jakub, als sie ihn mit dem Fotoapparat erblickten, freundlich aufforderten, sie zu fotografieren. „Manchester City“, meint einer mit erhobenem Daumen. „Barcelona!“ reagiert darauf ein anderer. „Hauptsache Vietnam“, übersetzt uns Thuy die Vorlieben der Fans und dolmetscht weiter: Sie träfen sich nicht, um Fußball zum Vergnügen zu spielen, vielmehr wetteten sie auf ihn. Als wir den Wechsel Filip Nguyens vom FC Slovácko zum vietnamesischen FC Cong An Ha Noi (bekannt als Hanoier Polizei-Fußballclub) erwähnen, schmilzt das Eis der Sprachbarriere ein Stück weit.

Die Tiger-Erziehung

Danach spazieren wir durch das Erdgeschoss der Markthalle. Reihe um Reihe ein Nebeneinander von Verkaufstheken, Trennwänden und Ständern, bestückt mit der feilgebotenen Ware. Wir gehen durch die Textilabteilung: Damen-, Herren-, Kinderkleidung; durch die Schuh-, Kurzwaren-, Accessoire-Abteilung. Die Shops sind gemäß den Sicherheitsvorschriften angeordnet, denn in der Vergangenheit brannte der Markt mehrfach ab. Seitdem müssen Textil und Elektro voneinander getrennt sein. Wir schlendern weiter von den Haushaltswaren über die Gartengeräte hin zur Spielzeugabteilung. „Das hier war unsere Welt“, Thuy lächelt nostalgisch.

Wie die meisten Kinder der zweiten Generation der Vietnames*innen in Tschechien, also der zwischen 1990 und 2000 Geborenen, verbrachte auch Thuy viel Zeit mit ihren Eltern im Laden. Sie halfen den Eltern, doch vor allem waren sie mit Gleichaltrigen zusammen, spielten und tobten herum. „Wie Kinder überall auf der Welt“, fügt Thuy hinzu. Kleine Kinder treffen wir hier aber nicht mehr an: „Keiner meiner Altersgenossen arbeitet hier auf dem Markt.“ Ebenso wie Thuys Familie wünschten sich auch die anderen Eltern aus der vietnamesischen Community, dass aus ihren Kindern erfolgreiche Jurist*innen, Ärzt*innen, Ökonom*innen würden. Bei genauerer Betrachtung des Alters der hier Verkaufenden gewinnen wir den Eindruck, dass es vor allem Über-40-Jährige sind. Die Wünsche der Eltern haben sich offenbar erfüllt, die Tiger-Erziehung trägt Früchte. Davon zeugt auch die Werbetafel am Vinamo-Haupttor, auf der junge Vietnamesen in gut sitzenden, glänzenden Sakkos ihre Dienste im Bereich von Buchhaltung, Investition oder Unternehmertum anbieten.

Die Sprache ist noch immer ein wenig ein Hindernis“, erklärt Thuy, „tschechisches Fernsehen würden sie einfach nicht einschalten.“

Auf dem Weg kommen wir auch an denen vorbei, die, vor sich hindösend, sich die Zeit beim Warten auf Kunden mit Serienguckenvertreiben. Es laufen ausschließlich vietnamesische Programme, vor allem Serienproduktionen: „Die Sprache ist noch immer ein wenig ein Hindernis“, erklärt Thuy, „tschechisches Fernsehen würden sie einfach nicht einschalten.“

Die Art des Handels im Vinamo wandelt sich im Verlauf von dreißig Jahren. Viele Menschen kaufen mittlerweile im Internet ein, sie suchen und bestellen ihre Ware etwa bei AliExpress. Vinamo funktioniert weiterhin als Großmarkt, die Standbetreiber*innen treten hier immer öfter als Zwischenhändler*innen auf, die vom Hersteller die gewünschte Ware für die Endverkäufer*innen beziehen.

Wir kommen an alten Containern vorbei, die heute als Lagerräume genutzt werden. Fast wäre ich auf ein Räucherstäbchen getreten, das senkrecht im Boden steckt, wir befinden uns nämlich bereits nahe der buddhistischen Pagode. „So drücken die Gläubigen ihren Dank für die Natur aus, die uns umgibt“, erklärt Thuy.

Ein farbiges Banner informiert auf Vietnamesisch über den vietnamesischen Muttertag (auch „Tag der wandernden Seelen“ – Vu Lan) informiert, der unlängst stattfand. Auch deshalb ist der Altar der Pagode von einem Meer aus Blumen übersät. „Und der Montag ist für euch so etwas wie für uns Samstag oder Sonntag?“ frage ich Thuy, als wir über wichtige vietnamesische Feiertage sprechen. „Nein, montags macht man schlicht keinen Umsatz, deshalb arbeiten vietnamesische Unternehmer nicht“, lacht Thuy.
 

Feng shui und Papptorte

Bevor wir die seit zehn Jahren zum Vinamo gehörende Pagode betreten, ziehen wir uns die Schuhe aus. Hier ist es angenehm kühl und schattig. Außer den Blumen auf dem Altar bemerken wir auch Skulpturen und die unterschiedlichsten Gaben: Obst, Lebensmittel, Alkohol. „Was unsere Ahnen im Jenseits unserer Vorstellung nach brauchen können“, erklärt Thuy. Und wer sich nicht entscheiden kann, was dort nützlich wäre, der könne auch Geld opfern. Das Wichtigste dabei sei aber, dass die Gaben in ungerader Anzahl gespendet würden. Numerologie und die Bedeutung der Zahlen spielen im Leben der Vietnames*innen eine große Rolle. Die beliebteste Zahl ist die Acht, beispielsweise vertreten auf Autokennzeichen vietnamesischer Autos, aber auch beliebt bei Hochzeitsterminen.

„Ich bin überhaupt nicht streng gläubig“, sagt Thuy, die durch ihre Familie an die vietnamesischen Traditionen herangeführt wurde. Wenn du jemanden besuchst, bringst du eine Gabe mit und sprichst ein Gebet am Hausaltar, wo meist Fotos von den Vorfahren zu sehen sind. Weder in Vietnam noch unter der vietnamesischen Minderheit in Tschechien gibt es den einen Buddhismus. Auf dem Altar stehen ein westlicher Mönch, eine Buddha-Statue, die auf den Zweig des indischen Buddhismus verweist, und ein Konfuzius beieinander. Neu hinzugekommen ist die Statue einer Göttin, laut Thuy eine Liebesgöttin. Unentwegt klingt hier ein Mantra, gesungen in Altvietnamesisch, das „Lob Gottes“ bedeutet.

Jedem ist das Betreten der Pagode gestattet, doch sollten Ungläubige, die aus Neugier vorbeikommen, wissen, dass sie sich die Schuhe ausziehen sollen und dem Altar nicht den Rücken zuwenden dürfen. Thuy betont, dass die vietnamesische Gemeinschaft allerdings überhaupt nicht streng ist. „Zu Weihnachten habe ich von einer Freundin Räucherstäbchen bekommen, das war ein sonderbares Geschenk, denn damit kommunizieren wir eigentlich mit unseren Ahnen“, erklärt sie. Ähnlich befremdlich sei die Verwendung von Räucherstäbchen zum Beduften der Wohnung oder von Yogastudios, wo sie nicht senkrecht sondern schräg in dekorativen Untersetzern stecken. Ein wichtiges rituelles Utensil ist zum trendy New-Age-Home-Accessoire geworden.

Neben der Vermittlung der religiösen Traditionen durch die Familie existiert für Kinder und Jugendliche der vietnamesischen Gemeinschaft die Möglichkeit, buddhistische Camps zu besuchen, wobei es sich, wie Thuy anmerkt, um die einzige Sommeraktivität in vietnamesischer Sprache handelt.

Zur Eröffnung eines Ladens, eines Bistros, beim Bau eines Hauses oder der Einrichtung einer Wohnung wird zur Beratung oft ein Mönch hinzugezogen, der die Feng-Shui-Lehre beherrscht.


Eine wichtige Rolle im (spirituellen) Leben der Vietnames*innen spielt auch die traditionelle Lehre des Feng Shui, das sich mit der Beziehung zwischen dem Menschen und seinem Lebensumfeld in der Zeit beschäftigt. Die ganze Pagode wurde nach diesen Prinzipien erbaut, der Altar ist zur Sonne gekehrt und die Fenster zur Tür hin wiederum so, dass die Seelen der Ahnen ungehindert zum Altar gelangen können. Zur Eröffnung eines Ladens, eines Bistros, beim Bau eines Hauses oder der Einrichtung einer Wohnung wird zur Beratung oft ein Mönch hinzugezogen, der die Feng-Shui-Lehre beherrscht.

„Der Architekt muss das Geburtsdatum der Familienmitglieder, die Bedeutung der Farben berücksichtigen, und dann bleibt ihm schon nicht mehr viel Spielraum bei der Realisierung“, sagt Thuy und fügt hinzu, dass etwa ihr Mann, ein studierter Architekt, beim Umbau wie auch der Umgestaltung der Einrichtung auf Ablehnung gestoßen sei, „weil befürchtet wurde, dass sich durch einen solchen Eingriff das Schicksal der gesamten Familie ändern könnte.“ Beim Vergleich der Gesellschaften in Vietnam und in Tschechien stellt Thuy fest, dass die vietnamesische sehr konservativ sei, nicht nur, was Veränderungen im Wohnraum betrifft, sondern beispielsweise auch in Fragen der geschlechtlichen Gleichstellung.

Beim Verlassen der Pagode bemerkt Jakub ein Gebilde aus Pappe, das an eine mehrstöckige Torte erinnert. Ein Überbleibsel der Vu-Lan-Feierlichkeiten. Laut Thuy haben Vietnames*innen keine besondere Vorliebe für Süßes, weshalb sogar für Hochzeiten bloß das Modell einer Torte hergestellt wird, von der nur die äußere Schicht essbar ist.
   

Gibt es Vorurteile?

Wir bleiben beim Essen. Unser nächstes Ziel sind die Lebensmittelläden, wir sehen uns auf der oberen Etage um, wo sich die Bistros und Restaurants befinden. Die Vinamo-Besucher*innen von heute kommen oft gerade wegen der vietnamesischen Küche. Laut Thuy dachte die Generation ihrer Eltern, sie könnten in Tschechien nur Röllchen oder Reisnudeln anbieten, die Distanz zwischen der vietnamesischen Minderheit und der mehrheitlichen Gesellschaft brachte eine Reihe von Vorurteilen auf beiden Seiten mit sich. Thuy meint, es sei gerade das Verdienst der jüngeren Generation in Tschechien, dass sie sich darum bemüht habe, wahrgenommen zu werden.

2015 entstand das Projekt Sapa Trip, junge Vietnamesinnen und Vietnamesen veranstalten Food Festivals und ernteten erste Erfolge in kreativen Sparten wie Fotografie, Blog oder Animationsfilm. „In Schule und Kindergarten waren fast nur tschechische Kinder, und weil niemand gern allein ist, sucht man sich eben Freunde außerhalb der eigenen Community und fühlt sich dann wiederum sicherer, wenn man mit der Mehrheitsgesellschaft kommuniziert, Tschechisch spricht und auch die tschechische Lebensweise versteht“, sagt Thuy.

Immer öfter ist von herausragenden Bistros oder vietnamesischen Baguetterien die Rede, statt von Kontrollen der tschechischen Handelsinspektion ČOI auf den Märkten.


Im Zusammenhang damit hat sich auch das Bild der vietnamesischen Minderheit in der Öffentlichkeit gewandelt. Immer öfter ist von herausragenden Bistros oder vietnamesischen Baguetterien die Rede, statt von Kontrollen der tschechischen Handelsinspektion ČOI auf den Märkten. Dass sich dennoch eine Reihe von Vorurteilen gegenüber der vietnamesischen Minderheit hält, darüber informiert tiefgründig beispielsweise der slowakische Podcast Banánové děti (Bananenkinder) von Claudia Alner.

Mein Magen knurrt, als mir Thuy am Beispiel des Begriffes „Phở“ erklärt, wie in der vietnamesischen Sprache die Phonetik die Wortbedeutung beeinflusst: Je nach Betonung bestelle ich eine Suppe, eine Straße oder eine Prostituierte. Wir lachen, und mir vergeht plötzlich der Hunger.

Als wir uns nach fast zwei Stunden Bummelns und Erzählens von Thuy verabschieden, bemerkt sie noch: „Vor einigen Jahren hätte ich euch wohl noch eine etwas andere Geschichte erzählt, erst jetzt wird mir klar, wie sehr sich Vinamo verändert hat und noch immer ändert.“ Nicht nur die Verkäufer und Unternehmer würden älter und ihre Kinder arbeiteten in anderen Bereichen (entsprechend dem Wunsch ihrer Eltern), auch hätte das Corona-Virus die Community stark beeinflusst. „Sie schätzen das Leben nun mehr, das sehe ich an der Generation unserer Eltern, die auch endlich mal in den Urlaub fahren, regelmäßig Schwimmen gehen, ein bisschen mehr genießen“, zählt Thuy auf.

Sie wird von einem älteren Mann gegrüßt, der gerade Reissäcke in einen der Läden transportiert. „Er hat gesagt, dass er mich schon lange nicht mehr hier gesehen hat“, übersetzt Thuy, „mich befällt gerade so etwas wie Nostalgie für unseren Markt, ich bemerke, wie er sich verändert hat und frage mich, wohin das wohl noch führen mag, aber frei von Trauer, eigentlich bin ich auf die Veränderungen sogar gespannt.“

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