Es vergehen Tage, Wochen und manchmal Monate, an denen nichts passiert und wir in Ruhe unser Leben leben können.
Doch dann gibt es Tage, an denen zum Beispiel jemand auf dem Weg zur Arbeit wegen uns seine oder ihre Handtasche fester an sich drückt, sich im ÖPNV wegsetzt oder lautstark darüber schwadroniert, dass Schokolade ekelhaft sei. Und unsereins weiß dann ganz genau, warum das passiert. Dabei ist das noch das kleinere Übel. Es kommt oft genug vor, dass wir beschimpft und beleidigt werden. Einfach nur so. Es hängt davon ab, wo wir uns gerade aufhalten, welche Kleidung wir tragen oder wie wir uns die Haare stylen.
Nahezu jede und jeder von uns trägt ein ganz persönliches Päckchen an Erfahrungen mit Mikroaggressionen und Äußerungen von Rassismus mit sich herum. Für Tschechinnen und Tschechen mit dunkler Hautfarbe sind solche Erfahrungen ein sich wiederholender Umstand, den wir nicht selten einfach übergehen, weil wir das schon so oft erlebt haben, dass es sinnlos scheint, sich damit mehr zu beschäftigen als unbedingt notwendig. Bis vor kurzem habe ich noch gedacht, dass mich in diesem Zusammenhang nichts so leicht aus dem Gleichgewicht bringen kann. Ich habe mich geirrt.
Eines Donnertags im September 2024 tauchte auf dem Prager Wenzelsplatz ein Plakat der tschechischen SPD auf, auf dem ein blutverschmierter Mann mit einem Messer in der Hand zu sehen war. Darunter stand der Slogan: „Import-Chirurgen sind nicht die Lösung für die Missstände im Gesundheitswesen“. Ich war sprachlos.
Denn der Mann auf dem Plakat sah aus wie ich. Und auch wie mein Vater, Onkel oder Cousin. Die Hauptaussage des Plakates mit der blutrünstig wirkenden Person hätte deutlicher nicht sein können – Menschen, die so aussehen wie wir, sind Monster und stellen für die tschechische Bevölkerung eine Gefahr dar.
Ich konnte es nicht glauben. Wie kann so etwas passieren, in einem Land, in dem ich geboren und aufgewachsen bin und wo ich vielleicht eines Tages auch Kinder haben will. Kinder, die, wenn sie erwachsen sind, wahrscheinlich ähnlich aussehen wie der Mann auf dem Plakat. Und trotzdem sind sie tschechisch.
Mit diesem Gefühl war ich nicht allein.
„Ich war schockiert. Es hat mich total aus der Bahn geworfen und mir war übel. Ich war gerade im Ausland und für einen Moment schoss mir durch den Kopf, dass ich nicht zurückkehren will in ein Land, in dem so eine politische Kampagne möglich ist“, schildert Lucka ihre Eindrücke. Auch ihr Vater hat die gleiche Hautfarbe wie der Mann auf dem Plakat. Ihr Vater ist Rechtsanwalt.
„Als ich das Foto dieser ‚Ausstellung der tschechischen SPD‘ sah, fühlte ich Entrüstung, Trauer und Enttäuschung. Ich kapiere nicht, wie jemand so etwas überhaupt erlauben konnte; im historischen Zentrum unserer Hauptstadt, wo täglich zehntausende Menschen vorbeikommen, vor allem Touristen“, sagt Nick. Sein Vater arbeitet als Taxifahrer und auch er hat die gleiche Hautfarbe wie der Mann auf dem Plakat.
„Das tut weh. Einen Menschen zu sehen, der aussieht wie du, aber jemand nutzt das aus, kategorisiert die Person als minderwertig… Das Plakat zu sehen, hat mich frustriert. Ich war wütend und traurig, dass sowas in der Öffentlichkeit zu sehen ist. Außerdem bin ich damit ziemlich allein, weil die meisten in meinem Bekanntenkreis weiß sind und leider, auch wenn sie mir noch so nahestehen, nicht verstehen können, wie tief mich das trifft“, erzählt Clara. Auch ihr Vater sieht aus wie der Mann vom Plakat. Vor vielen Jahren hat der Geoingenieur in Ostrava studiert.
Lucka, Nick, Clara und ich wussten natürlich schon vor dieser Kampagne, dass die tschechische SPD nicht nur gegen Menschen mit unserem Aussehen hetzt, sondern auch gegen Roma und Ukrainer Hass schürt. Darin waren wir uns einig. Die bloße Existenz der Plakate hat uns jedoch nicht aufstehen lassen, schließlich leben wir in Tschechien. In einem Land, in dem es immer noch toleriert wird, Roma mit dem Z-Wort zu betiteln, weil ‚sie sich ja selbst auch so nennen‘. Obwohl die Roma-Community schon seit Jahren immer wieder erklärt, dass es sich um einen historischen Irrtum handelt und eine pejorative Bezeichnung ist. Und obwohl der Chef der einflussreichsten ausländerfeindlichen Partei zur Hälfte Japaner ist.
Was uns aber so aufgewühlt hat, ist, dass die Kampagne der SPD an einem Ort zu sehen war, wo „tschechische Geschichte“ geschrieben wurde und wird, wo für „Freiheit und Demokratie gekämpft wurde“, „wo man mit den Schlüsseln geklingelt hat“ [Das Rasseln mit dem Schlüsselbund durch die Demonstrierenden wurde während der Samtenen Revolution 1989 zum Symbol des Widerstands, Anm. d. Red.] und wo allein in den letzten paar Jahren mehrere Aktionen stattfanden, die vor der Gefahr, die von totalitären Regimen und von verschiedenen Formen von Extremismus wie auch Rassismus ausgeht, gewarnt haben.
Auffällig ist, dass die tschechische Gesellschaft in Bezug auf diese Kampagne verdächtig still blieb, während sie gleichzeitig auf demokratische Werte, Toleranz, Anstand und Slogans wie „Wir gehören zum Westen“ schwört.
Schweigen quer durch die Gesellschaft
„Wenn so ein Plakat an einem der frequentiertesten Orte Prags aufgehängt wird, fühlen sich die Menschen, die schon vorher eine ähnliche Meinung hatten, bestätigt, dann legitimiert das Plakat deren Meinung. Sie sagen sich: Aha, offensichtlich bin ich nicht allein mit einer bestimmten Ansicht. Scheinbar denkt auch jemand wichtigeres so“, erklärt mir Richard dazu, warum er das Plakat der SPD auf dem Wenzelsplatz für einen gefährlichen Präzedenzfall hält. Die Hautfarbe des Mannes auf dem Plakat ist auch die seines Vaters.Auch mich überkam das Gefühl, dass das Anbringen des Plakates auf dem Wenzelsplatz für uns überaus gefährlich ist.
Gleichzeitig spürte ich einen starken Drang, dass es verschwinden und wir uns dagegen wehren müssen. Aber was tun? Es herunterreißen? Es übersprayen? An Ort und Stelle eine black culture Aktion planen, um zu zeigen, dass wir keine Monster sind, sondern „Menschen“?
Die Emotionen waren stark. So stark, dass wir, die betroffenen Personen, in dem Moment auch nicht darüber nachgedacht haben, dass wir uns mit einer bestimmten Protestform Probleme auf der Arbeit oder allgemein im Leben einhandeln könnten. Es hat uns einfach persönlich tief getroffen und wir wollten uns das nicht gefallen lassen.
Doch bevor wir uns überhaupt mobilisieren konnten – und ich möchte betonen, dass wir uns schließlich dazu entschlossen haben, im Rahmen des Gesetzes aktiv zu werden –, war das Plakat am nächsten Tag verschwunden. Vermutlich wollte die SPD einfach nur eine höhere Aufmerksamkeit in den sozialen Netzwerken provozieren. Mission erfüllt.
Was blieb, war nur der schlechte Beigeschmack, dass wir uns als Gemeinschaft nicht dazu positioniert und deutlich gemacht haben, dass wir den Rassismus gegen uns nicht tolerieren werden.
In der Öffentlichkeit gab es zwar Äußerungen, dass die Kampagne unangebracht sei und die Grenzen der politischen Ethik überschreite, jedoch hat fast niemand offen ausgesprochen, dass es hier um Rassismus geht. Und erst recht hat niemand in Betracht gezogen, dass sie uns persönlich getroffen hat oder dazu diente, eine Welle des Hasses gegen Menschen wie uns zu entfachen.
Paradoxerweise blieb auch die Mehrheit der Politiker und Regierungsvertreter still. Die Beziehungen zu afrikanischen Ländern (also auch zu Menschen, die aussehen wie der Mann auf dem Plakat) sind für die tschechische Regierung jedoch in den letzten Jahrzehnten nie so wichtig gewesen wie jetzt. Die Regierungsvertreter reisen in die Länder Afrikas, Vertreter aus Afrika wiederum besuchen Prag und die aktuelle Regierung wiederholt immer wieder gerne, wie wichtig die Zusammenarbeit mit den afrikanischen Partnern sei. Dabei wird mit Beteuerungen des gegenseitigen Respektes nicht gespart.
Wie würden jedoch diese afrikanischen Partner die Tatsache beurteilen, dass im Zentrum von Prag dieses Plakat zu sehen war, welches circa die Hälfte der Population des afrikanischen Kontinents entmenschlicht; und die tschechische Regierung verurteilt das nicht.
Jan Charvát, Extremismusexperte und Politologe an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Karlsuniversität, meint, dies sei nicht verwunderlich. „Tschechische Politiker haben sich das Thema Rassismus nie als solches zu Eigen gemacht, weil Rassismus bei uns in biederer volkstümlicher Form auch deshalb existiert und toleriert wird, weil unsere Gesellschaft im Grunde seit dem Zweiten Weltkrieg monokulturell ist“, erklärt Charvát. Als ich ihn frage, ob seiner Meinung nach die Kampagne der SPD rassistisch ist, bejaht er das, betont jedoch, dass er kein Jurist sei.
Zu meiner Überraschung haben sich auch die öffentlichen Stellen zum Schutz der Menschenrechte nicht wesentlich oder kategorisch gegen die Kampagne der SPD zu Wort gemeldet, oder die Vertreter des Non-Profit-Sektors oder Organisationen, die sich mit Rassismen beschäftigen. Eine der Ausnahmen bildet die Organisation Romea, die Strafanzeige gegen die SPD erstattet hat.
Es schwieg auch die Mehrheit der Journalist*innen, Kommentator*innen, Influencer*innen, Reiseberichterstatter*innen und anderer, die in den sozialen Medien sonst zu allem Möglichen eine Meinung haben (von der Ehe für alle, über Tempo 30 in Städten, bis hin zu stillenden Frauen in der Öffentlichkeit), ebenso diejenigen, die in Tschechien als „Sprecher Afrikas“ auftreten, weil sie regelmäßig in die dortigen Länder reisen, darüber Bücher schreiben oder in den Medien über afrikanische Staaten sprechen.
Woran liegt das? Vielleicht ist das Thema Rassismus und die Unterstützung für uns oder die Roma-Minderheit nicht „sexy“ genug? Vielleicht hat die tschechische Gesellschaft das Gefühl, dass wir dankbar sein und uns nicht beschweren sollten, solange es nicht zu rassistisch motivierten Morden kommt wie in den Neunzigern? Vielleicht ist es aber auch einfach leichter, Themen, Menschen und Kulturen zu kapitalisieren, anstatt sie in die Debatten einzubeziehen.
Warum den Mund aufmachen
An dieser Stelle möchte ich direkt auf einige Gegenargumente eingehen, die im Zusammenhang mit diesem Artikel sicherlich auftauchen werden.1. Warum kümmert dich das überhaupt, Natálie? Du bist doch Tschechin und das betrifft dich doch gar nicht.
Ich beschäftige mich damit, gerade weil es mich betrifft. Klar, Rey Koranteng [Ein tschechischer TV-Moderator dessen Vater aus Ghana stammt, Anm. d. Red.] ist bekannt, Ben Cristovao [Ein tschechischer Popmusiker dessen Vater aus Angola stammt, Anm. d. Red.] ebenfalls und im Allgemeinen wissen alle, dass diese Menschen, die die SPD nicht haben will, nicht „importiert“ sind, auch wenn sie eine dunklere Hautfarbe haben. Aber es leben hier auch viele andere, die nicht so bekannt sind. Und sehr oft werden wir, sobald wir nicht flüssig Tschechisch sprechen, aufgrund unserer Hautfarbe von einem Teil der Bevölkerung bestenfalls als Ausländer, schlimmstenfalls als ungewollte afrikanische Migranten wahrgenommen.
2. Warum sollte die tschechische Gesellschaft sich mit dem Plakat einer Partei auseinandersetzen, die sich nicht langfristig mit solchen „Fouls“ hervortut?
Weil diese zu Hass anstachelnde Werbung auch mit der Hilfe von uns Steuerzahlern auf dem Wenzelsplatz angebracht werden konnte (die SPD hat als im Parlament vertretene Partei ein Anrecht auf Steuermittel). Ich frage mich, wo das noch hingehen soll, wohin sich die politische Kultur in Tschechien entwickelt, wenn es im Zentrum von Prag erlaubt ist, offen Rassismus zur Schau zu stellen.
Richard hat dafür eine treffende Erklärung: „Wenn gegen ein Plakat nichts unternommen wird, können es in einem Jahr schon zwei sein, in zwei Jahren dann drei, dann vier. In einigen Jahren dann zehn, bis eines dauerhaft irgendwo hängt. Viele Menschen haben in ihrem ganzen Leben vielleicht nur einen einzigen „Schwarzen‘ gesehen. Und wenn sie dann irgendwann auf jemanden wie mich treffen, greifen sie zur Mistgabel, nehmen Steine und rufen ‚wir wollen dich hier nicht‘.“
3. Warum engagiert ihr selbst euch denn nicht mehr für das Thema?
Einige von uns machen das schon. In der Öffentlichkeit, über die sozialen Netzwerke, die Medien, Kunst, Literatur oder einfach dadurch, dass uns die Mehrheitsgesellschaft sieht, wie wir normalen Berufen nachgehen und einfach da sind, ein „normales Leben“ führen. Sich Rassismus aktiv entgegenzustellen ist gar nicht so einfach. Es reicht, sich anzusehen, wie es der Roma-Minderheit damit geht.
Wer sich dazu entschließt, das Thema Rassismus in der tschechischen Gesellschaft offen anzusprechen, muss damit rechnen, gehatet zu werden. Oft hören wir auch die Universalausrede: „Wenn es dir hier nicht passt, dann geh dahin, wo du hergekommen bist.“ Eine breite öffentliche Unterstützung findet sich nur in den seltensten Fällen.
Ich möchte auch von einer persönlichen Erfahrung berichten. Wenn ich im Freundeskreis, auf der Arbeit oder in anderer Gesellschaft über das Thema Rassismus sprechen will, geht das meistens nur bis zu einem gewissen Punkt. Am Anfang ist noch alles cool, interessant oder es öffnet jemandem die Augen. Aber es gibt auch eine Grenze. Wenn die überschritten wird, „ist es zu viel des Guten“. Dann bekomme ich zu hören, dass ich „zu empfindlich“ sei, „hysterisch“ oder dass ich „immer und überall Rassismus sehe“ und das „zu persönlich“ nehmen würde.
Ein Teil von uns möchte nicht über Rassismus sprechen, weil es ermüdend ist und oft eine sehr undankbare Bemühung. Andere wiederum kennen rassistische Äußerungen oder Mikroaggressionen nicht oder ignorieren sie, weil sie eine stark durch die Mehrheitsgesellschaft geprägte Perspektive haben. Sie denken dann auch, dass die tschechische Gesellschaft mit Rassismus nichts zu tun hat und das alles nicht so überbewertet werden sollte.
5.Ihr seid doch „nur so wenige“ hier, was wollt ihr eigentlich?
Es stimmt nicht, dass wir in der Öffentlichkeit gänzlich fehlen würden. Hier und da tauchen wir zum Beispiel in der tschechischen Popkultur auf, wenngleich es meistens eher zu unserem Nachteil ist. Mehrheitlich haben wir nämlich mit Stereotypisierung und Tokenismus zu tun. Mal sieht man uns als sexy Wilde, als Migrantin; oder Studierende, die ein lustiges Tschechisch sprechen; manchmal treten wir in einer Realityshow auf, erscheinen in einem Boulevardblatt mit Titulierungen wie „exotisch“ oder „schokoladig“ und natürlich, werden Menschen mit unserem Aussehen in Reisereportagen „aus Afrika“ als arm dargestellt, als solche, die nichts haben, nichts können und im Elend leben.
Wenn jemand wie wir für seine oder ihre Erfolge und Wissen mediale Aufmerksamkeit erhält, dann ist es trotzdem oft so, dass sich die ganze Aufmerksamkeit um Fragen dreht wie „wo oder wie sind Sie hergekommen“, „woher stammen ihre Eltern“ oder „haben Sie ihre afrikanische Großmutter schon mal besucht“…
Am häufigsten läuft es jedoch nach dem Motto „über uns ohne uns“. So war es auch im Fall der Plakataktion der SPD. Mir fällt niemand aus unseren Reihen ein, der oder die von den Medien eingeladen worden ist, um seine oder ihre Meinung zum Thema zu äußern; nicht mal von den öffentlich-rechtlichen! Und das in einer Zeit, wo fast jede und jeder die Möglichkeit erhält, eine „andere Sichtweise“ zu präsentieren oder seine oder ihre Gefühle kundzutun.
Der Einfluss der „importierten Leute“ ist größer als man denkt
„Ich habe Angst davor, wie sich die Welt nach rechts radikalisiert. Solche Kampagnen stellen für uns ein enormes Risiko und eine Gefahr dar. Das Plakat der SPD hat mich frustriert und mich nicht nur wegen meiner nahen Verwandten geärgert, sondern auch wegen mir selbst. Ich habe mich auch gefragt, was ich wohl gefühlt hätte, wenn ich das Plakat als Kind gesehen hätte. Was, wenn es ein schwarzes oder ein Roma-Kind sieht? Ich kann mir nicht vorstellen, dass es sich dabei gut fühlen würde“, sagt Becky. Auch ihr Vater, der Schweißer ist, hat die gleiche Hautfarbe wie der Mann auf dem Plakat.Rassismus und Angriffe auf ethnische Minderheiten treffen in Tschechien auf wenig Interesse. Für einen Großteil der Mehrheitsgesellschaft lohnt es sich nicht, Menschen wie uns zu unterstützen. Das Thema ist ungeeignet für politische Reden, oder für breitere gesellschaftliche Debatten, öffentliche Diskussionen, generelle mediale Aufmerksamkeit, Vorträge oder Panels, an denen wir selbst nicht mal teilhaben können.
Allerdings werden durchaus andere Minderheiten- oder Unterthemen aufgegriffen und besprochen, wie die Rechte der LGBTQ+ Bewegung, mit der wir durchaus Allianzen bilden könnten, um uns gegenseitig zu unterstützen (gerade, weil wir Minderheiten sind), oder auch die Relevanz weiblichen Sexualität in öffentlichen Podcasts oder das artgerechte Leben von Hühnern außerhalb von Käfigen.
Verstehen Sie mich nicht falsch, auch diese Themen halte ich für wichtig und es ist gut, dass darüber diskutiert und nach Verbesserungsmöglichkeiten gesucht wird.
Aber ich verstehe nicht, warum diese Themen Emotionen hervorrufen, Menschen dazu motivieren, sich der einen oder der anderen Seite zugehörig zu fühlen, es sich „lohnt“ in den sozialen Medien dazu etwas zu posten, aber das Thema Rassismus die meisten kalt lässt.
Wenn wir als Gesellschaft nach demokratischen Prinzipien handeln, zur westlichen Wertegemeinschaft gehören und mit ausländischen Partnern außerhalb der westlichen Welt verhandeln wollen – alles ein notwendige Fähigkeiten in der heutigen globalisierten Welt – sollte es doch in unser aller Interesse sein, nicht zu schweigen.
Wer selbst das nicht überzeugend findet, bekommt hier von mir noch weitere Argumente. Nur dank der Kulturen der „importierten Menschen“ oder ihrer Nachkommen gibt es die Möglichkeit, sich auf Instagram Videos hin und her zusenden, die mit Musik aus unterschiedliche Genres und Interpreten des populären Afrobeat unterlegt sind, sich auf tschechischen Festivals bunte Zöpfe flechten zu lassen, die historisch gesehen eine Tradition afrikanischer Stämme sind, Techno zu hören, der auf Afroamerikaner aus Detroit zurückgeht, jamaikanischen Dancehall, angolanischen Kizombu oder Kuduro zu tanzen, den Begriff „slay queen“ zu verwenden oder an eine beliebte exotische Urlaubsdestination zu reisen.
Selbstverständlich muss ich hier auch den in Tschechien so populären Rap erwähnen. Auch unsere heimischen Rapper schweigen überraschenderweise, obwohl sie ein Genre vertreten, das traditionell gesellschaftliche Missstände anprangert, auch Rassismus. Wenn also vor einigen Jahrzehnten an der amerikanischen Ostküste dieses Genre in den afroamerikanischen Communitys nicht geboren worden wäre, hätten wir es heute auch in Tschechien nicht.
Allein all diese Argumente sollten schon Grund genug sein, warum wir in unserer Gesellschaft Hass gegenüber Afrikanern oder Menschen, die so aussehen wie wir, nicht tolerieren dürfen. Und wenn jemand diesen Hass schürt, ist es doch wohl angebracht, lautstark etwas dagegen zu unternehmen, auch wenn man oder frau nicht selbst direkt betroffen ist.
Bis es so weit ist, sind wir höchstwahrscheinlich weiterhin nur in ähnlichen Situationen sichtbar, wie auf dem Plakat der tschechischen SPD.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift revue Prostor, einer unserer Medienpartner für PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES
Dezember 2024