Mit Obdachlosigkeit ist bei vielen immer noch sehr häufig die Vorstellung eines Mannes verbunden, der mit einer Flasche in der Hand auf einer Bank liegt. Wie unterschiedlich wirkt sich das Fehlen eines Zuhauses auf Lebensläufe aus? Und welchen Einfluss hat Obdachlosigkeit auf die Fähigkeit, Beziehungen einzugehen und sich sozial zu integrieren, auf die Bedingungen also, die notwendig sind, um das Problem zu lösen?
In meiner Betrachtung versuche ich, anhand eigener Erfahrungen mit Obdachlosigkeit und den damit verbundenen Traumata und kompensatorischen Abhängigkeiten nachzuvollziehen, wie viele von uns tatsächlich keine Wohnung haben und warum es so schwer ist, in der heutigen Welt eine zu finden. Dabei helfen mir auch meine Erfahrungen als Sozialarbeiterin.Trigger Warnung: Der Text behandelt Themen wie Gewalt, Obdachlosigkeit, Abhängigkeit, Selbstverletzung, seelische Erkrankungen und Tod.
Was ist ein Zuhause?
Im Märchen Der Zauberer von Oz, das ich als Kind noch auf einer VHS-Kassette geschaut habe, sucht Dorothy den Weg nach Hause, einem Zuhause, von dem sie zu Beginn der Geschichte weggelaufen ist. Nach einigen Verwirrungen und Abzweigungen sind es die magischen roten Schuhe, die sie wieder nach Hause zurückbringen und die sie eigentlich schon die ganze Zeit getragen hatte. Damit sie aber nach Hause zurückkehren konnte, musste sie erst erkennen, wie wichtig ihr dieses Zuhause eigentlich ist und sie musste verschiedene Geschöpfe treffen, die ihr dabei geholfen haben. Wenn ich als kleines Kind von der unteren Etage des Hochbettes aus den Geräuschen lauschte, die von der Gewalt eines Betrunkenen zeugten, wenn ich voller Angst wartete, wann der Lärm die Schwelle der Kinderzimmertür überschreiten und bis in mein Bett dringen würden, habe ich oft versucht, wie Dorothy dreimal mit den Fersen gegeneinanderzuschlagen, in der Hoffnung, dass mich das an einen anderen Ort befördern würde. Leider hat es nicht funktioniert. Ich hatte keine roten Schuhe. Und selbst wenn ich welche gehabt hätte, selbst wenn ich statt der Schuhe die Hilfe des damals etablierten, aber nicht funktionierenden OSPOD [Orgán sociálně-právní ochrany dětí – Sozial- beziehungsweise Jugendamt, dass sich um gefährdete Kinder kümmert, Anm. d. Ü.] gehabt hätte oder ein anderes Wunder passiert wäre, es hätte nicht gereicht, mich einfach nur an einen anderen Ort zu versetzen. Zehn Jahr später habe ich ohne ein Wort des Abschieds die Wohnung in meinen ausgelatschten Sneakern verlassen, doch nach Hause haben sie mich bis heute nicht getragen. Meine bisherigen Erfahrungen haben mich gelehrt, dass es nicht genügt, aus misslichen Verhältnissen herausgerissen zu werden, um dann ein Zuhause zu finden. Die toxischen Verhaltensmuster und die damit verbundene Wahrnehmung des Selbst hat sich im Körper so fest eingeprägt, dass man sich zuerst durch den tiefschwarzen Wald des posttraumatischen Stresses kämpfen, wachsen und Menschen treffen muss, die einem beibringen, überhaupt eine Beziehung zu einem Zuhause aufzubauen.Im Gemeinschaftskundeunterricht in der sechsten Klasse hat uns die Lehrerin einmal gefragt: „Was ist Zuhause?“ Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Am Ende hat die Lehrerin erklärt, dass ein Zuhause ein Ort ist, an dem man sich sicher und geborgen fühlt. Ich habe mir die Definition aufgeschrieben und mich geschämt, dass ich mich in meinem Zuhause nicht so fühlte. Ich erinnere mich genau daran, wie ich an jenem Tag nachhause gekommen bin, wie mir beim Aufschließen der Tür das Herz geklopft und die Hände gezittert haben. Ich bekam kaum den Schlüssel ins Schloss, aus Angst, was mich dort erwarten würde. Diesen Stress habe ich jedes Mal durchlebt, wenn ich zu dem Ort zurückkehrte, der mir eigentlich Sicherheit hätte bieten sollen. Schon damals, mit elf Jahren, habe ich gelernt, meinen Stress mit Alkohol, den ich den Erwachsenen entwendet hatte, zu beruhigen, damit ich es in meinem Zuhause überhaupt aushielt.
Der gesellschaftliche Druck, die Anforderungen einer funktionalen Kleinfamilie zu erfüllen, führt auch dazu, dass man versucht jegliche Schwierigkeiten zu überspielen, um normal zu wirken.
Nicht für jede*n ist das Zuhause ein sicherer Ort. Für manche ist das Zuhause das größte Übel, das ihnen im Leben widerfahren ist. Diese Erfahrung beeinflusst dann die gesamte Entwicklung der eigenen Persönlichkeit. Ein Mensch, der diese basale Geborgenheit und das Gefühl von Sicherheit nie erfahren hat, hegt ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber der Welt und sich selbst, was immer wieder zu neuen verletzenden Erfahrungen führt. Es funktioniert, wie eine Art Spiegelprinzip. Wenn man keinen sicheren Rückzugsort hat, fällt es einem auch schwer, sich einen solchen Ort in sich selbst zu schaffen. Und wenn man ihn nicht in sich selbst hat, dann kann man sich auch keinen außerhalb aufbauen. Man weiß ganz einfach nicht, wie das geht. Man hält die Welt für einen schlechten Ort, fühlt sich ständig bedroht. Mit dieser Perspektive betrachtet man dann sämtliche Aspekte der Welt und des Lebens. Der gesellschaftliche Druck, die Anforderungen einer funktionalen Kleinfamilie zu erfüllen, führt auch dazu, dass man versucht jegliche Schwierigkeiten zu überspielen, um normal zu wirken.
In der achten Klasse hatte ich wegen langer Nachtschichten und psychischen Problemen sehr viele Fehlstunden. Schon damals war ich in der Psychiatrie gewesen und habe eine ärztliche Bescheinigung für die Schule bekommen. Die Schuldirektorin hat mein Problem nicht erst genommen und so musste ich sieben Prüfungen vor einer Kommission ablegen. Sie wollte ein Exempel statuieren und mich bestrafen – ein Mädchen, das zu spät kam, mit Augenringen, mit Kapuze auf dem Kopf und geritzten Armen. (Ich erinnere mich, wie meine Mitschülerinnen in schönen Kleidern zu den Abiprüfungen gingen, während ich meine Unterarme mit den frischen Wunden unter einer langärmeligen weißen Bluse versteckte, die sich sonst bei der der Arbeit in einer Bar trug.) Ein paar Monate nach den erwähnten Prüfungen, die ich – ich weiß bis heute nicht wie – erfolgreich bestanden habe, hat mich ein Krankenwagen aus der Schule abgeholt. Man fand mich bewusstlos auf dem Boden des Mädchenklos. Einige Monate später bin ich in einer psychiatrischen Einrichtung gelandet. Eine Mitschülerin, die auch oft gefehlt hat, aber nicht durch nonkonforme Tendenzen aufgefallen ist, wurde entschuldigt und musste keine Vergleichsprüfungen machen. Niemals vergesse ich diese Ungerechtigkeit. Vor allem aus dem einfachen Grund, dass ich aus dieser Erfahrung das Gefühl mitgenommen habe, dass das Problem bei mir lag. Die Institution Schule hat mir nicht geholfen, aber ich hatte das Glück, zwei gute Menschen zu treffen. Die eine war meine Klassenlehrerin, die unter die Oberfläche geschaut hat und mich als man mich auf der Trage in den Krankenwagen brachte, fragte: „Zuhause rufe ich besser nicht an, oder?“ Ich habe dankbar genickt. Und dann war da noch die Schulpsychologin, die mir den Kontakt zu einem psychiatrischen Zentrum vermittelt hat.
Kinder aus Familien, in denen es häusliche Gewalt gibt, geben sich oft selbst die Schuld und sehen sich selbst als Ursache der Situation. Das hält sie davon ab, um Hilfe zu bitten. Institutionen, die mit problematischen Jugendlichen so umgehen, machen es ihnen noch schwerer, Hilfe zu finden und verstärken damit den traumatischen Mechanismus der Selbstbeschuldigung. Das ist der Keim des Traumas – die Verletzungen und die Schuld für den Schmerz bei sich selbst zu sehen, für einen Schmerz, den man nicht versteht, der einem von Erwachsenen zugefügt wird, die selbst auch eigene, ungelöste Traumata haben. Es ist bekannt, dass Eltern misshandelter Kinder, in ihrer Kindheit oft ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Die Ursprünge dieser kontinuierlich reproduzierten Gewalt lassen sich nur schwer ausmachen und die Schuldfrage ist für diesen Text auch nicht relevant. Wahrscheinlich würde ich, wenn ich dieser Frage weiter nachginge, zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommen, wie Sophie Lewis in ihrem Buch Die Familie abschaffen – schuld ist die allumfassende kapitalistische Struktur unserer Gesellschaft, die Bedingungen schafft, die wiederum die Reproduktion von Gewalt ermöglichen. In der Folge ist private Gewalt also systembedingt und ein Kontrollinstrument. Meine Frage lautet eher: Wie ist es für Mensch mit so einem Hintergrund möglich, sich nicht für sich selbst zu schämen, sich gut in die Gesellschaft einzufügen und allein für sich ein Zuhause aufzubauen? Bei dieser Formulierung begehe ich einen grundlegenden Fehler – aus der Frage sollte das Wörtchen allein gestrichen werden.
Obdachlosigkeit und Wohnungsnot
Gewalt ist die häufigste Ursache von Obdachlosigkeit. „Eine bedeutende Anzahl der Frauen [Teilnemerinnen einer Umfrage, Anm. d. Aut.] erlebt irgendwann im Leben Gewalt und fast ein Viertel der Befragten gab an, dass Gewalt ein Grund, wenn nicht sogar der Hauptgrund, dafür war, dass sie auf der Straße gelandet sind.“ Zwei Jahre habe ich als Sozialarbeiterin mit Klientinnen ohne Obdach gearbeitet. Die Mehrzahl von ihnen hatte mit den Auswirkungen von Gewalt zu tun – mit Abhängigkeiten und oft auch mit anderen seelischen Erkrankungen, also sogenannte Mehrfachdiagnosen. Jeder von ihnen gilt meine größte Bewunderung. Ihre Lebensumstände lassen sich hier kaum beschreiben. Bei meiner Arbeit habe ich Frauen getroffen, die auf der Straße leben, Gewalt erlebt haben, darunter leiden, von ihren Kindern getrennt zu sein und unbehandelte Traumata mit sich rumschleppen. Ihr Leben ohne Obdach führt sie jedoch immer wieder in neue traumatisierende Situationen. Man kann sich das kaum vorstellen. In diesem Text möchte ich mich jedoch nicht mit extremen Lebenserfahrungen auf der Straße beschäftigen, ich will nicht davon sprechen, worin sich die Leben von Menschen ohne ein Zuhause unterscheiden, oder darüber, was wir mit ihnen gemeinsam haben, welche Momente des Lebens auf der Straße sie durchmachen. Das Buch Naděje je na druhém břehu (Hoffnung liegt am anderen Ufer), in dem man mehr über die Lebensrealität von obdachlosen Menschen erfährt, erzählt die Geschichten von Frauen, die auf der Straße leben. Alle haben ihren Anfang in einem Trauma.Die Unsicherheit und das ständige Gefühl, dass man zur Last fällt, rufen Scham hervor, was wiederum zum schrittweisen Rückzug in sich selbst und sozialer Isolation führt.
Die Hauptursache von Obdachlosigkeit sind Traumata, das Scheitern einer Beziehung und das Fehlen eines Umfeldes, das es einem ermöglicht, sich einen sicheren Ort zu schaffen und einen befähigt, gesunde Beziehungen einzugehen. Ich bin auch außerhalb meiner Arbeit auf Menschen getroffen, die es nicht geschafft haben, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren, weil sie aus Familien mit Gewalterfahrungen kamen und ihre Traumata sie dermaßen beeinflusst haben, dass sie nicht kommunizieren konnten, ohne dabei extreme Beklemmungen zu fühlen. Sie hatten Angst vor Ablehnung oder Bestrafung. Für diese Geschichten müssen wir nicht erst an den Rand der Gesellschaft schauen, jeder hat im Bekanntenkreis garantiert wenigstens eine Person, die morgen schon ohne Obdach dastehen könnte. Solche Situationen beginnen mit Momenten, wie der Geschichte des Mädchens aus dem vorherigen Teil des Textes – das Kind hat Angst, zur Schule zu gehen oder nach Hause, und so läuft sie den ganzen Tag draußen alleine herum. Ein Zuhause, dass als sicherer Ort definiert ist, fehlte in diesem Fall jedoch lange bevor das Mädchen schutzlos auf der Straße landete.
Scham und verinnerlichte Isolation
Ich habe mich für ein Hochschulstudium entschieden. Als ich bei den Eignungstests gefragt wurde, warum ich ein blaues Auge habe, erwiderte ich, dass ich im Badezimmer gestürzt bin und mich am Waschbecken gestoßen habe. Ich habe mich sehr geschämt. Das Lügen und Verstellen habe ich mir angeeignet. Ich lüge ganz automatisch über meine Herkunft, obwohl mich gleichzeitig auch Schuld- und Schamgefühle quälen. Unter den Menschen auf der Universität habe ich mich wie ein Eindringling gefühlt.Einmal hatte ich wegen eines Semesterprojektes ein Treffen mit einer Studentin, einem Mädchen aus der Ostukraine. Das war noch in der Zeit vor der großangelegten Invasion, der Donbas war jedoch bereits okkupiert. Ich begann sie auszufragen über Details aus ihrem Leben und plötzlich sagte sie eher beiläufig, dass sie nicht mal eine Krone für etwas zu Essen hat, und solange das Wohnheim nicht geöffnet hat, auch keinen Platz zum Schlafen. Im gleichen Atemzug hat sie mir auch erzählt, dass das völlig in Ordnung sei. Sie wollte nicht die Rolle von jemanden einnehmen, der irgendwie benachteiligt ist. Sofort habe ich ihr angeboten, bei mir zu übernachten. Sie erzählte mir, wie sie nach der Einnahme des Donbas ihren Heimatort verlassen, dann ein Jahr lang heimlich im Büro eines Bekannten ihrer Mutter gewohnt und schließlich bei Freunden auf deren Sofas übernachtet hat.
Erst ein paar Jahre später stieß ich auf den Terminus versteckte Obdach- oder Wohnungslosigkeit, der diesen Zustand beschreibt. Man könnte sagen, dass dieses Mädchen doch die ganze Zeit ein Dach über dem Kopf gehabt hat. Doch welchen Einfluss hat so eine Situation auf die mentale Gesundheit? Die Unsicherheit und das ständige Gefühl, dass man zur Last fällt, rufen Scham hervor, was wiederum zum schrittweisen Rückzug in sich selbst und sozialer Isolation führt. In vielen Fällen läuft es darauf hinaus, dass die Person lieber ein Leben auf der Straße wählt, anstatt ständig ihr Umfeld um Asyl zu bitten. Gleichzeitig erzeugt der vorübergehende Unterschlupf den Eindruck, dass man ja gar nicht so schlimm dran sei, was wiederum verhindert, dass man sich Hilfe sucht. Dieses Mädchen fuhr in der Mitte des ersten Studienjahres zu Besuch nach Hause, in das okkupierte Gebiet. Das gesamte zweite Semester sprach sie mit niemandem und ihre Studienleistungen verschlechterten sich rapide. Niemand verstand das, schließlich war sie doch an einem neuen, sicheren Ort. Dass sie aufgrund von Gewalt ihr Zuhause verloren hatte, in diesem Fall durch Kriegsgewalt, und dass das Wohnheim zwar ein Dach über dem Kopf, aber ihr sicherer Herzensort jetzt Kriegsgebiet war, hat niemand reflektiert. Die ganze Zeit über kämpfte sie mit einem unbehandelten Trauma, angesichts ihrer finanziellen Not und ihres Immigrantinnenstatus konnte sie sich keine Therapie leisten. Weder sie noch ich haben das Studium beendet.
Ich war eifersüchtig auf ihre Blicke, Worte, auf jede ihrer Bewegungen, darauf, wie sie ihn umarmte. Ich hatte Lust sie zu erschießen.
Die jüngste Abwandlung meines eigenen Traumamusters, eine toxische Beziehung, an deren Ende ich gezwungen war, mich einem medizinischen Eingriff zu unterziehen (auch dies nahm ich als eine gewaltvolle Erfahrung wahr), brachte mich dazu, mein Zuhause im weitesten Sinne des Wortes aufzugeben. Vor der Stadt, in der ich mein ganzes Leben verbracht hatte, jetzt jedoch nicht mehr atmen konnte, weil jede Straße für mich zum Auslöser einer Posttraumatischen Belastungsstörung geworden war, floh ich ins Ausland. In den ersten Tagen, in denen ich in der Fremde ganz auf mich gestellt war, nach dem Eingriff immer noch fragil, habe ich oft an die ukrainische Studentin gedacht. Wenn ich mich selbst aus der Perspektive einer anderen Person betrachtete, nahm ich an mir die gleichen Verhaltensmuster wahr, wie ich sie von ihr in Erinnerung hatte. Ich war in einem fremden Land, unter fremden Menschen, in einem besetzten Haus, das geräumt werden sollte. Im Garten gab es Bäume und die Sonne schien. Die Eltern unter den Hausbesetzern kamen mit ihren Kindern in den Garten, um sich vom Haus zu verabschieden, das für sie vorübergehend ein Zuhause gewesen war. Ich verurteile sie nicht dafür, dass sie ein Haus besetzt hatten, das unterstütze ich. Die mit mir gleichaltrigen Besucherinnen der Aktion sprachen darüber, was wohl ihre Eltern dazu gesagt hätten. Ich schwieg. Ich hasste das Wort Eltern und wollte nicht über sie sprechen. Wieder schämte ich mich für mich selbst und war eifersüchtig auf den Jungen, dessen Mutter vor Rührung über die Schönheit des besetzten Hauses geweint hat und mit ihm an einem Tisch saß. Ich war eifersüchtig auf ihre Blicke, Worte, auf jede ihrer Bewegungen, darauf, wie sie ihn umarmte. Ich hatte Lust sie zu erschießen. Ich fühlte mich wegen dieser Gefühlsregungen schuldig und erstickte sie in mir. Das war nicht das erste Mal.
Die Aktion war öffentlich und jede*r willkommen. Als Snack gab es verschiedene Naschereien, die Krönung war ein Obsttörtchen mit Zuckerguss. Ich hatte großen Appetit darauf. Doch meine Angst, es mir einfach zu nehmen, war größer. Ich zitterte und bekam kein Wort raus. Ein Kloß im Hals, ich konnte mich mit niemandem unterhalten und keinen Bissen Essen vom Tablett nehmen, das genau vor mir stand und für alle war. Wie selbstverständlich habe ich mich von der Kategorie alle ausgeschlossen. Etwas in mir hielt mich davon ab, eine Position einzunehmen, die es mir erlaubte, das Gebäck zu nehmen. Ich wollte abwarten, bis niemand hinsah und heimlich zuzugreifen. Es war mir peinlich. Es war absurd. Ich nahm es nicht. Plötzlich hatte ich ein Bild im Kopf, wie ich nach dem Eingriff daliege, physisch geschwächt, depressiv, überall um mich herum Flaschen, kann mich nicht aufrichten, nicht essen und auch niemanden rufen. In der Stadt, in der ich lebe, kenne ich einen Haufen Leute. Ich melde mich bei niemandem und liege weiter nur da, während sich um mich herum die Unordnung türmt und die Ausscheidungen eines erkrankten Katers. Dieses Bild erinnert mich auffällig an die Unfähigkeit mich (um mich selbst) zu kümmern, eine Unfähigkeit, die ich von den Erwachsenen aus meiner Kindheit kenne. Der Unterschied zwischen mir und ihnen besteht darin, dass der Urin in meinem Bett vom Kater stammt und nicht von mir selbst.
Es kommen andere Assoziationen, Erinnerungen an eine Klientin, die immer in einer Ecke des Centers saß und nie um etwas bat, nie etwas sagte, selbst wenn man sie ansprach. Ich stellte mir vor, wie in ihr – genau wie in meinen Eltern, wenn sie es nicht fertigbrachten, sich um uns zu kümmern, genau wie in mir, wenn ich es nicht fertigbrachte, mich um mich selbst zu kümmern und genauso wie in der ukrainischen Studentin als ihre Leistungen schlechter wurden – das gefangene ICH schreit und gegen die Tür hämmert, ein ICH, das sich auszudrücken vermag ob der vielen Verletzungen. Diese Art der Isolation definiert Gabor Maté im Film Der weise Schmerz der Seele und beschreit sie mit einer grafischen Illustration, von der ich mich habe inspirieren lassen. Mein traumatisiertes Ich ist in seiner körperlichen Hülle hinter einem Gitter gefangen und kann nicht sprechen, nicht die eigenen Bedürfnisse ausdrücken. Heinz-Peter Röhr hat in seinem Buch Ich traue meiner Wahrnehmung. Heilung nach sexuellem und emotionalem Missbrauch diesen Zustand anhand des Märchens Allerleirauh erklärt – die missbrauchsgefährdete Prinzessin flieht aus ihrem Zuhause und versteckt sich unter einem Pelz, damit ihr niemand etwas tun kann. Doch kann sie deshalb einem Prinzen und ihrem wirklichen Ich nicht näherkommen und so ihre ganzheitliche Persönlichkeit nicht entfalten oder sich in die Gesellschaft einfügen. Sich im Pelz zu verstecken ist ihre durch Angst und Scham motivierte Überlebensstrategie. Viele Betroffene schämen sich ihrer eigenen Existenz. Die verinnerlichte Isolation führt zu unüberwindbarer Einsamkeit und der Unfähigkeit spontan zu reagieren. Es bleibt einem nur unauthentisch Reaktionen nach Schema F abzuspulen und zu hoffen, dass man irgendwo reinpasst. Wirkliche Kommunikation ist nicht möglich und diese Situation verhindert es, um die so dringend benötigte Hilfe zu bitten. Um Hilfe zu bitten ist einer der schwersten Schritte. Es braucht ein Gegenüber mit offenen Ohren und beginnt im Kleinen, mit Alltäglichkeiten, wie zum Beispiel dem Verlangen, sich ein Gebäck zu nehmen oder zu gönnen. Beim nächsten Mal schaffe ich es vielleicht und kann dabei hoffentlich auch ein paar Worte wechseln, dass ich außer der Nascherei noch ein paar andere Dinge nötig hätte.
Ein Hausprojekt wie im Fall des besetzten Hauses versucht schon aus seiner Natur heraus, Menschen einen Rückzugsort zu bieten, die ebendiesen vermissen. Ich sehe in diesem Weg Potenzial, wie man ein Ersatzzuhause schaffen kann, das nicht auf dem Modell der Kernfamilie, sondern auf einer Gemeinschaft beruht. Für diese Art des Zusammenlebens braucht man jedoch ein starkes Selbstbewusstsein und viel zwischenmenschliche Kommunikation. Wenn man das aufgrund von Ängsten oder Depressionen nicht hat oder kann, bleibt einem diese Möglichkeit versperrt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein obdachloser Mensch an diesen Ort kommt, über den ich gerade schreibe, und sich einfach das Obsttörtchen nimmt.
Sucht und eingefahrene Muster vermitteln Sicherheit
Was tun, wenn die Isolation verhindert, Kontakte mit anderen Leuten aufzunehmen? Wie kann man die Lücke ausfüllen, die das Fehlen eines Zuhauses gerissen hat? Wie umgehen mit dem unstillbaren Hunger nach Nähe, die einem verwehrt bleibt? Die einfachste Lösung sind abhängig machende Substanzen, die den Schmerz für einen Moment betäuben. Je stärker jedoch das Bemühen ist, auf diese Art und Weise die imaginäre Lücke zu füllen, umso mehr frustriert die Unmöglichkeit das zu erreichen. Nach Maté sind 99 Prozent der Abhängigen traumatisiert. Die Substanzen sind eine Abkürzung, die dabei hilft, sich zu befreien und den aus der Isolation und unerfüllten Bedürfnissen gewachsenen Schmerz zu betäuben. Deshalb betrifft diese Diagnose so viele Menschen ohne Obdach. Die Sucht dämpft nicht nur den Schmerz, sie vermittelt auch ein Gefühl von Sicherheit. Wenn die Lehrerin das Zuhause als sicheren Ort definiert, dann ist für viele Abhängige gerade ihre Sucht so ein Zuhause. Menschen können einen enttäuschen, die Außenwelt kann einen verletzen, aber wenn man einen Liter Wein aus dem Tetrapack trinkt, dann wird man davon auf jeden Fall betrunken. Das ist eine Gewissheit. Die Sucht – die nicht unbedingt eine stoffliche sein muss, siehe Workaholics – ist eine Überlebensstrategie. Für eine bestimmte Zeit funktioniert sie, braucht man sie, langfristig ist sie jedoch nicht aufrechtzuerhalten und destruktiv. Sie verstärkt die Isolation, die es unmöglich macht, (sich) zu heilen und (wieder) zu integrieren. Der Journalist Johann Hari sagt: „Das Gegenteil von Sucht ist nicht Nüchternheit, sondern die Nähe zu anderen Menschen.“Bestimmte Muster sind in unser Nervensystem und in den Verbindungen der Synapsen eingeschrieben. Diese umzukodieren ist sehr viel Arbeit.
Gewissheit und Halt bietet in dieser unsicheren Welt auch das, was man bereits kennt. Wenn aber das, was man am besten kennt, Gewalt ist, dann wird man wahrscheinlich auch zu dieser Gewalt zurückkehren, weil man bereits weiß, was man von ihr erwarten kann. Dann nimmt man die Rolle ein, die man zu spielen gelernt hat. Die Klientinnen kehren immer wieder in solche Beziehungen zurück oder gehen ähnliche neue ein, Beziehungen, die ihnen schaden. Es ist für sie eine gewisse Art des Unterschlupfs. Als sicher erachtet man, was man kennt, und das sind dann eben altbekannte Muster. Diese eingefahrenen Muster vermitteln aber nicht nur ein Sicherheitsgefühl, sie sind auch in unseren Gehirnen eingebrannt und wir können nicht anders, als uns an ihnen zu orientieren. Wenn man dieses Leben ändern will, muss man dort ansetzen, wo diese Muster angelegt sind – im Körper. Erst diese Erkenntnis hat mir geholfen, endlich zu versuchen wahrzunehmen, dass nicht ich schuld an der Gewalt bin, die immer wieder in mein Leben zurückkehrt. Ich habe bei mir folgendes Muster festgestellt: in einem Intervall von ein-zwei Jahren tauchte immer wieder jemand auf der Bildfläche auf, dem gegenüber ich mich als Opfer gefühlt habe. Als ob ich immer einen Platz freihielte für jemanden, der micht unterdrücken kann. Selbst nachdem ich mich von demjenigen befreit hatte, hing mir das alles noch eine Weile nach. In Gedanken blieb derjenige weiter auf seiner Position und kaum hatte ich mich im Rahmen der Möglichkeiten von den Auswirkungen seines Verhaltens erholt, wurde die Position frei und es kam ein anderer. Ich bin doch erwachsen und kann selbst entscheiden, welche Beziehungen ich eingehe, so das Argument meiner inneren und manchmal auch äußeren Kritiker. Es liegt doch in meiner Entscheidungsgewalt. Aber das ist so nicht ganz richtig. Diesbezüglich war für mich die Entdeckung der EMDR Therapie ein ausschlaggebender Wendepunkt, wie auch das Buch Verkörperter Schrecken: Traumaspuren in Gehirn, Geist und Körper und wie man sie heilen kann von Bessel van der Kolk. Bestimmte Muster sind in unser Nervensystem und in den Verbindungen der Synapsen eingeschrieben. Diese umzukodieren ist sehr viel Arbeit. Genauso wie zu jeder anderen Arbeit braucht man auch hier die dazugehörigen Grundlagen und Werkzeuge. Wenn ich in einer Situation wieder so reagiere, dass ich mir selbst damit schade, weil ich es zulasse, dass andere mir schaden, weil ich mich nicht wehren kann und mit meinem submissivem Verhalten Raum gebe für Erniedrigung und Gewalt, bedeutet das, dass ich nach und nach lernen muss, anders zu reagieren, neue Muster und neue Erfahrungen einzuüben. Das funktioniert nicht von jetzt auf gleich. Auch Lesen lernt niemand an einem Tag.
Die eindrücklichste Erkenntnis aus meiner Zeit als Sozialarbeiterin war für mich die Feststellung, dass ich mich in manchen Momenten in dem niedrigschwellig zugänglichen Tageszentrum für wohnungslose Frauen zuhause gefühlt habe. Wenn ich diesen Frauen gegenübersaß und wir uns in die Augen geschaut haben, war da manchmal so ein Gefühl von gegenseitigem Verständnis. Die geteilte Erfahrung hat uns verbunden: Obwohl diese Frauen im Gegensatz zu mir oft Extremfälle waren, teilten wir doch die Wurzeln unseres Übels. Mit vielen von ihnen habe ich mich innerlich tief verbunden gefühlt. Das Thema Gewalt und Abhängigkeit war für mich etwas, in dem ich selbstsicher war – ich hatte das Gefühl, dass ich in diese Umgebung gehörte, und innerlich war ich den Klientinnen oft näher als den Mitarbeitenden. Sie erinnerten mich an mir nahestehende Personen, hauptsächlich an die, die ich schon verloren hatte. Ja, Sucht bedeutet in vielen Fällen auch den Tod. Deshalb wollte ich die Klientinnen retten, die mich an die Verstorbenen erinnerten. Ich konnte auch sehr gut mit Krisensituationen umgehen. Angesichts der Tatsache, dass ich diese Arbeit unfreiwillig seit meiner Kindheit ausübte, die Sorge um Personen, die unter dem Einfluss von gewissen Substanzen standen und das Beruhigen aggressiver Tendenzen sind mein Parkett, und was ich dabei fühle, ist das, was ich mit dem Wort Zuhause verbinde. Es ist mein sicheres eingefahrenes Muster. Ich habe mit den anderen Mitarbeitenden nie darüber gesprochen. Dass ich in dieser Arbeit mein fehlendes Zuhause gesucht habe, ist mir erst später, dank einer individuellen Supervision, klar geworden. Kurz nach dieser Feststellung habe ich die Arbeit gekündigt.
Zuhause als Fähigkeit
Zuhause ist kein Ort. Das mag paradox klingen, betrachtet man die aktuellen Bemühungen, leerstehende Häuser zu erhalten und diese wohnungslosen Menschen zur Verfügung zu stellen, weil die Mieten steigen und es viele Krisen gibt. Ich beteilige mich mit meinen Bemühungen gern an diesen Aktivitäten und möchte das nicht madig machen. Zuhause kann natürlich auch ein Ort sein und es wichtig, Orte zu schaffen, die ein solches Zuhause bieten. Bevor jedoch ein physischer Raum zur Wohnung wird, sollte man seinen mentalen Raum wohnlich gestalten. Denn sonst sind die Versuche von vornherein zum Scheitern verurteilt. Ich würde sagen, dass ein Zuhause vor allem eine Fähigkeit ist. Nur wenn es entsprechende Bedingungen gibt, die es einem ermöglichen, sich diese Fähigkeit anzueignen, schafft man es, einen physischen Ort in ein Zuhause zu verwandeln, solche Bedingungen auch für andere Menschen zu schaffen und sich die eigene Fähigkeit des Zuhause-Seins zu erhalten. Aber Zuhause-Orte, die auf unsere grundlegendsten Bedürfnisse keine Rücksicht nehmen, sind nur äußere Konstruktionen ohne Inhalt. Sozialwohnungen ohne soziale Integration haben keinen Sinn. Wir brauchen mehr Sozialwohnungen, aber noch viel stärkere Bemühungen um die Integration jener, die diese Zuhause-Fähigkeit nie erlenen konnten. Sie brauchen Zeit und Raum das nachzuholen.Es ist ein kontinuierlicher Prozess des Verwebens, in dem ständig sowohl nach Bedürfnissen gefragt als auch die Anstrengung unternommen wird, diese zu erfüllen. Zuhause ist dort, wo sich Menschen gegenseitig für ihre jeweiligen Bedürfnisse interessieren.
Wenn also ein Zuhause ein sicherer Ort ist, muss es ein Ort sein, wo sich um unsere Bedürfnisse gekümmert wird. Das benötigt selbstverständlich in vielerlei Hinsicht eine gewisse physische Grundlage. Die Erfüllung von Bedürfnissen liegt aber hauptsächlich im gegenseitigen Interesse an ebendiesen Bedürfnissen begründet, darin, nach ihnen zu fragen, sie zu äußern und dem Willen sie zu erfüllen. Die Suche nach geeigneten Mitteln und Strategien, die sich naturgemäß aus den Bedürfnissen ableiten lassen, ist erst ein zweiter Schritt. Nach den realen Bedürfnissen ausgegrenzter Personen zu fragen, ist die einzige Möglichkeit der Integration. Für die Integration ist es aber auch wichtig, keine Kategorien von „wir“ und „die“ zu bilden, weil sich wie bereits gezeigt diese Kategorien überschneiden und verändern. „Wir“ und „die“ existieren nicht; es gibt nur ein „uns“. Einige von uns sind von bestimmten Umständen weniger gezeichnet, andere mehr und diese Rollenverteilung kann sich im Laufe der Zeit und durch verschiedene Ereignisse auch umkehren.
Integration ist ein wechselseitiger Prozess aller Beteiligten, die als Teil des Ganzen mit dem gleichen Netz verbunden sind, einem lebendigen Organismus, aus dem man leicht herausfallen kann. Es ist ein kontinuierlicher Prozess des Verwebens, in dem ständig sowohl nach Bedürfnissen gefragt als auch die Anstrengung unternommen wird, diese zu erfüllen. Zuhause ist dort, wo sich Menschen gegenseitig für ihre jeweiligen Bedürfnisse interessieren. Mit Emma Goldmann gesagt heißt das: „der gewaltvollste Faktor in der Gesellschaft ist die Ignoranz,“ weil sie alle weiteren Arten von Gewalt ermöglicht. Unerfüllte Bedürfnisse waren bei den Klientinnen, mit denen ich gearbeitet habe, die häufigste Ursache für aggressives Verhalten. Ich glaube, dass die gleiche Ursache hinter jeder Gewalt steckt, inklusive der, die ich erlebt habe. Ich hoffe, dass mir diese Erkenntnis eines Tages erlaubt, mir selbst und den Verursachern meiner Gewalterfahrungen zu verzeihen.
Auch heute noch, genau wie vor zwanzig Jahren, sehne ich mich nach einem Zuhause. Ich brauche nicht die Magie der roten Zauberschuhe von Dorothy. Ich brauche auch keine vollständige Kernfamilie, deren Fehlen ich früher als nicht wiedergutzumachende Verletzung empfunden habe. Ich habe festgestellt, dass ich nicht einmal einen festen Ort benötige, an den ich zurückkehren kann. Ich könnte sogar barfuß durch Raum und Zeit wandern, wenn ich nur dabei auf Menschen treffen würde, die empathisch genug sind und mir Raum geben, mich zu öffnen, zu heilen und die Fähigkeit des Zuhause-Seins zu lernen, Zuhause-Sein auf dieser Welt. Auch ich gebe anderen diese Möglichkeit. Ich freue mich auf jeden Tag, an dem ich in einem Umfeld sein kann, wo die Menschen so sensibilisiert sind, dass auch ich sensibel sein und aus meinem Versteck herauskommen kann. Dann ist es möglich, in seinem Umfeld jemanden zu finden, den man an der Hand fassen kann und mit ruhigem Herzen sagen: mit dir fühle ich mich zuhause.
Dieser Text ist all jenen gewidmet, die ein Zuhause vermissen, meinen Geschwistern, Klientinnen und Mitarbeitenden der Organisation JAKODOMA (Wie Zuhause).
Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift Revue Prostor, einer unserer Medienpartner für PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES
Januar 2025