Winnetou-Debatte  Zum Verzweifeln

Winnetou. Ansichtskarte aus den 1960er Jahren.
Winnetou. Ansichtskarte aus den 1960er Jahren. Foto: © Dr. Jan Koten, Karl-May-Archiv in Valašské Meziříčí, Tschechien

Was als mittlere Aufregung begonnen hat, ist kaum noch auszuhalten: In der Scheindebatte über Winnetou zeigt sich die intellektuelle Faulheit deutscher Diskussionskultur.

Nun hat sich endlich Andreas Scheuer in die Debatte um Winnetou eingeschaltet. Es wurde Zeit, alle mussten lange warten. In der Bild-Zeitung hat der ehemalige Verkehrsminister angekündigt, er werde nun schon einmal „Winnetou-Material hamstern“. Seine CSU-Parteifreundin Dorothee Bär mahnt im selben Artikel, man dürfe dieses Kulturgut nicht aus den Kinderzimmern „verbannen“, und auch Wolfgang Kubicki von der FDP bricht sein minutenlanges Schweigen und fordert von der Kulturstaatsministerin Claudia Roth höchstpersönlich, sie solle klarmachen, dass „Kultur Verfassungsrang“ besäße. Zuvor hatte sich schon der einstige Vizekanzler Sigmar Gabriel aus Goslar gemeldet und mit bemerkenswert widerständigem Trotz seine fröhlichen Kindheitserlebnisse verteidigt, die ihm Karl Mays Romane beschert hätten.

Und wenn so viele Politiker nun schon als schrille, erregte Sachwalter eines vermeintlich bedrohten kulturellen Erbes auftreten, kann man sich fragen, was eigentlich passiert sein muss. Man kann sich aber auch fragen, was seit einiger Zeit intellektuell aus dem Ruder gelaufen ist; seit der Ravensburger-Verlag zwei Bücher zurückgezogen hat, die er zum neuen Film Der junge Häuptling Winnetou veröffentlicht hatte. Der Vorgang war sicherlich im Ablauf ein wenig unglücklich, die Begründung, man habe „Gefühle verletzt“ möglicherweise sogar ein wenig paternalistisch gegenüber potenziell Verletzten, die als Leserinnen und Leser ja selbst entscheiden können, welches Verhältnis sie zu den Büchern eingehen. 

Aber Bücher führen nun einmal mindestens eine Doppelexistenz. Sie sind, so ungern das manche vielleicht hören wollen, nicht nur kulturelle Artefakte, die sakral angeorgelt werden können. Sie sind auch schlicht Produkte des Warenkapitalismus, darin mithin eher Tiefkühllasagne nicht unähnlich, mit denen ein Vertreiber, hier ein Buchverlag, relativ frei verfahren darf, ob man dies nun mag oder nicht.

Karl Mays Werk kann man noch kaufen, und das wird sicher so bleiben.

David Hugendick


Doch darum geht es schon gar nicht mehr. Es geht um Winnetou an sich, um Karl May, um die Überkommenheit seiner literarischen Fiktionen oder seine historisch begründbare Relevanz, und es geht vor allem mal wieder um eine fatale Debattendynamik, an deren vorläufigem Höhepunkt mancher glauben könnte, Winnetou sei per Eildekret verboten worden, die Lektüre von Karl-May-Büchern werde mindestens vom Geheimdienst sanktioniert, das Karl-May-Museum in der Villa Shatterhand in Radebeul werde bald umbenannt und das Kalkbergstadion der Bad Segeberger Festspiele zur Fledermauszone renaturiert, wenn man schon dabei ist.

Kurz dazu: Nein, Karl Mays Werk kann man noch kaufen, und das wird sicher so bleiben, Radebeul steht noch, ebenso alles in Bad Segeberg. Und die ARD hat Winnetou nicht aus dem Programm genommen, es sind einfach vor zwei Jahren die Lizenzen der Verfilmungen aus den Sechzigerjahren ausgelaufen, das ZDF hat sie gerne übernommen, aber das haben die empörten Politiker vielleicht in der Eile überlesen.

Doch die ersten Prepper sind trotzdem schon da und hissen die Fahne, obwohl ja überhaupt kein Sturm in Sicht ist: Die dreibändige Winnetou-Ausgabe steht aktuell in mehreren Amazon-Bestsellerkategorien auf dem ersten Rang. Erst waren es Hefe, Mehl und Klopapier, jetzt eben Karl May. Was der von irrealer Verlustpanik getriebene Schnauzevolldeutsche hat, das hat er.

Fotokarte aus dem Film „Winnetou, der Rote Gentleman.“ Fotokarte aus dem Film „Winnetou, der Rote Gentleman.“ | Foto: © Dr. Jan Koten, Karl-May-Archiv in Valašské Meziříčí, Tschechien In den vergangenen Wochen konnte man den Eindruck gewinnen, Winnetou und Old Shatterhand seien nun endgültig in jenes fiktive letzte kulturelle Reservoir hinübergaloppiert, das ohnehin unentwegt von irgendwas bedroht erscheint und daher umso grimmiger verteidigt wird: Kantinenschnitzel, schwüle Stampfbratenschlager, freie Fahrt für freie Bürger. Und wann immer es um diese Dinge geht, lässt sich ahnen, dass diese Debatten bloß Geisterzüge sind und die Orte, an die sie fahren, will man eigentlich gar nicht sehen. Es hat sich in jüngster Tradition solcher Diskussionen leider ein gewisses Maß an strategischer Verblödungsbereitschaft etabliert, die bereits dort beginnt, wo Kritik und Verbot nicht mehr auseinandergehalten werden.

Dabei kann man im Fall von Karl May wirklich gut streiten. Über die orthodoxe Auslegung des Konzepts der „kulturellen Aneignung“ im Verhältnis zur Freiheit literarischer Fiktion, erbittert, höflich, vielleicht auch vollständig ohne Ergebnis; man kann die Vorstellung von „symbolischen Verletzungen“ durch einen Roman sicher auch befragen, die durch unzureichende Darstellungen von Minoritäten bei ihren Mitgliedern vollständig hervorgerufen würden; und man kann über Lektüre und ihre intellektuellen (nicht emotionalen) Bedingungen diskutieren, inwieweit rein identifikatorische Lesarten nicht Verfallsformen kindlicher Lektüreweisen sind oder dies gerade das distanzierte Lesen in solchen Fällen ersetzen muss.

Und man sollte auch kurz daran erinnern, dass Neubewertungen von Werken vergangener Tage schon immer nicht nur Teil von akademischer, sondern allgemein kultureller Praxis waren – gleichviel, ob das historische Urteil von damals dem heutigen standhielt oder ihm etwas hinzugefügt wurde, es neu befragt wurde im Blick auf soziale, politische und ästhetische wie rezeptionsästhetische Fragen, die sich damals noch nicht stellten. Dass sich daraus Verbannungen oder Verbote dieser Werke ergeben hätten, lässt sich nicht sagen. Höchstens kritisch kommentierte Ausgaben und einordnende Vor- und Nachworte.

All dies ergäbe möglicherweise sogar eine anregende Debatte. Man kann sie allerdings auch zur „Cancel Culture“ heruntertrivialisieren, damit es in sozialen Netzwerken wieder etwas zu brüllen gibt. Und da das kindische „Darf man noch?“ zur notorischen Lieblingsfrage nahezu sämtlicher deutscher Kulturdebatten geworden ist, ist dies vielleicht gar nicht mehr so überraschend. Nur wer soll diese lächerliche Frage überhaupt klären? Die stets so gern amorph adressierte „Politik“? Das Feuilleton? Der Papst? Uli Hoeneß? Rübezahl vielleicht?

In diesem Fall wünscht sich Neuköllns ehemaliger Bürgermeister Heinz Buschkowsky dringend einen „Winnetou-Gipfel“: Die Koalitionsparteien müssten damit den Häuptling „retten“ und der Kanzler dort „endlich Flagge zeigen“. So hat er es nun der Bild-Zeitung gesagt, und man kann in der Verzweiflung hoffen, dass hier vielleicht noch ein zarter Satirevorbehalt gilt. Doch sollte dieser Gipfel tatsächlich zustande kommen, dann bittebitte am Silbersee.

Dieser Kommentar erschien zuerst auf Zeit Online am 27. August 2022.

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