Frontstadt  Die Vision eines Architekten für das Charkiw von morgen

Freiheitsplatz in Charkiw
Auf dem Freiheitsplatz in Charkiw Foto: © Denis Vėjas

Charkiw, die zweitgrößte Stadt der Ukraine, liegt nur eine Artillerie-Schussweite von der russischen Grenze entfernt. Seit Beginn der großangelegten Invasion ist die Stadt heftigen Angriffen ausgesetzt. Der Charkiwer Architekt Max Rosenfeld arbeitet an Plänen für den Wiederaufbau; zur Mitarbeit wurde auch der berühmte britische Architekt Norman Foster eingeladen. Im Januar und Februar 2024 erkundete der Fotojournalist unseres Partnermagazins NARA Denis Vėjas gemeinsam mit Max die Stadt.

Als ich Max kontaktierte, um mit ihm über seine Entwürfe für das Charkiw von morgen zu sprechen, lud er mich zu einer Veranstaltung eines Underground-Kunstclubs ein. „Komm vorbei“, schrieb er, „bevor wir über Pläne sprechen, musst du den Geist dieses Ortes verstehen.“

Unter Kriegsbedingungen hat das Wort Underground eine neue Bedeutung bekommen. Es steht nicht mehr nur für Gegenkultur, sondern ganz wörtlich für das Leben unter der Erde – für Orte, die von russischen Raketen nicht erreicht werden können. Im Keller eines Jazzclubs führte der Charkiwer Modedesigner Kostja Ponomarjow an diesem Abend durch eine virtuelle Tour zu den Kunstgalerien Londons. Zunächst erinnerte mich dieses Online-Format an die Pandemiezeiten – ein Gedanke, der mich sogar kurz anwiderte. Doch schon bald versank ich, zusammen mit etwa fünfzig Besucher*innen, in eine träumerische Meditation: geführt durch Epochen und Werke, die uns von der flimmernden Projektionsleinwand entgegenblickten.
 
Der Architekt Max Rosenfeld

Der Architekt Max Rosenfeld | Foto: © Denis Vėjas

Max Rosenfeld ist Architekt, Dozent an der Kunstakademie Charkiw, Designer, Illustrator und Historiker. Seit mehr als 25 Jahren beschäftigt er sich mit moderner Architektur und sein besonderes Interesse gilt Norman Foster und der Hightech-Architektur der 1970er Jahre. Dieser Stil betont den Einsatz von Technologie, technischen Lösungen und industriellen Materialien und zeichnet sich oft durch offene Konstruktionen, sichtbare Rohrleitungen, Aufzüge und andere technische Details aus, die Teil des Gebäudedesigns werden. Zu den berühmtesten Entwürfen Fosters gehören der Londoner Wolkenkratzer The Gherkin, das neue Wembley-Stadion, die gläserne Kuppel des Berliner Reichstags, der Apple Park in Kalifornien und der Flughafen von Hongkong. Über Fosters architektonischen Ansatz hat Rosenfeld promoviert und ein Buch geschrieben. Er betrachtet Norman Foster nicht nur als bedeutenden Architekten, sondern auch als Symbol des Hightech-Stils und als Architekturphilosophen aufgrund seines futuristischen Denkens und seiner Zukunftsorientierung.

Rosenfelds persönliche Begeisterung für Norman Foster und die lebendige Geschichte Charkiws fanden am 4. April 2022 einen unerwarteten Knotenpunkt. In Genf tagte eine Konferenz europäischer Bürgermeister*innen, als Foster ankündigte, seine Stiftung werde beim Wiederaufbau einer großen ukrainischen Stadt helfen. Der Bürgermeister von Charkiw, Ihor Terechow, reagierte sofort und schlug vor, dass diese Stadt Charkiw sein solle. Foster stimmte zu.

Die Norman Foster Foundation stellte bald darauf ein internationales Expert*innenteam zusammen – und lud auch Max Rosenfeld ein, daran mitzuwirken. Für ihn war das eine seltene Gelegenheit: Teil des Wiederaufbaus seiner Heimatstadt zu werden und mit dem Architekten zusammenzuarbeiten, den er seit Jahren als sein Vorbild betrachtete. Rosenfeld wurde eines von neun Mitgliedern der Architekt*innengruppe, die gemeinsam mit Fosters Stiftung einen strategischen Entwicklungsplan für Charkiw erarbeiten – ein Leitdokument, das Themen wie Verkehr, Ökologie, Industrie und Energieinfrastruktur umfasst. Im Zentrum steht eine klare Idee: Charkiw soll als Front-Stadt – als Grenzstadt – neu gedacht werden.

Max betont, dass Front in diesem Zusammenhang mehr bedeutet als die Nähe zur Frontlinie. Die Front im Sinne von frontier (englisch für Grenzland) beschreibt einen Raum, an dem Grenzen nicht nur trennen, sondern verbinden – eine Zone, in der sich Kulturen und Ideen begegnen. „Es ist ein Raum des Austauschs“, sagt er, „ein Ort der Interaktion und Entdeckung, wo Wandel und Wachstum überhaupt erst möglich werden.“
 
Skateboarder am Nationalen Akademischen Theater für Oper und Ballett in Charkiw

Skateboarder am Nationalen Akademischen Theater für Oper und Ballett in Charkiw | Foto: © Denis Vėjas

Charkiw liegt nur 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt, in Reichweite der Artillerie. Vierzig Kilometer weiter, jenseits der Grenze, liegt das russische Belgorod. Die Städte sind durch eine Reihe von Schützengräben voneinander getrennt. Seit Beginn der großangelegten Invasion prasselt der Beschuss unaufhörlich auf Charkiw nieder.

Kann eine Stadt, die sich ständig im Krieg oder in unmittelbarer Nähe dazu befindet, trotzdem erfolgreich sein? Kann sie sich entwickeln, statt nur bedrückend und deprimierend zu wirken? Gibt es weltweit Beispiele für erfolgreiche Randstädte? Das sind Fragen, die Max oft gestellt werden, wenn er über seine Vision für Charkiw spricht. Er antwortet, dass die Beziehung zwischen Charkiw und Belgorod der zwischen Seoul und Pjöngjang ähnele.

Die südkoreanische Hauptstadt liegt ebenfalls nur 30 Kilometer von der nordkoreanischen Grenze entfernt. Für Max ist Seoul ein Vorzeigebeispiel: eine Grenzstadt, die Freiheit und westliche Werte sichtbar macht – ein Schaufenster der westlichen Welt für die andere Seite. „Ich glaube, dass Charkiw ein ähnliches Schaufenster für Belgorod werden könnte“, sagt er. „Wir stehen dort, wo die Werte der Freiheit am stärksten sichtbar sein müssen. Es ist unsere Pflicht, die Freiheit zu demonstrieren, für die wir kämpfen.“

Für Max war Charkiw nie nur eine Grenzstadt. Schon immer war sie ein Ort der Innovation, ein Magnet für Dissidenten, Menschen, die widersprechen, Neues schaffen und ausprobieren wollten. Verschiedene Kulturen, Ideen und Persönlichkeiten trafen hier aufeinander. „Und daran hat sich in der Stadt nichts geändert. Sie ist eine frontier.“
 
Charkiw bei Nacht. Auf dem Busbahnhof leuchtet ein QR-Code, der zu einem Formular führt, mit dem man sich für den Militärdienst anmelden kann.

Charkiw bei Nacht. Auf dem Busbahnhof leuchtet ein QR-Code, der zu einem Formular führt, mit dem man sich für den Militärdienst anmelden kann. | Foto: © Denis Vėjas

In den ersten Kriegsjahren wirkte die Vorstellung einer solchen Stadt beinahe surreal. Charkiw lag im Dunkeln, ohne Strom, erfüllt von Angst und Unsicherheit. Niemand konnte sagen, ob die Stadt überhaupt überleben würde. Aus Max’ Erzählung wird deutlich, dass er sich damals selbst wie die Stadt fühlte – düster, gelähmt, depressiv, gefangen in einer ungewissen Zukunft, bevor er seine Arbeit mit der Foster Foundation aufnahm.
Egal, was man in solchen Momenten tut – alles scheint falsch. Weggehen fühlt sich falsch an, bleiben ebenso. Egal wie man sich entscheidet, es gibt keine richtige Lösung.“
Die Schlacht um Charkiw von Februar bis Mai gehörte zu den entscheidenden militärischen Operationen des Jahres 2022. Die Stadt wurde heftig bombardiert, und russische Truppen versuchten, sie von allen Seiten einzukreisen. Bis Mitte Mai gelang es den ukrainischen Streitkräften jedoch, die Angreifer zurückzuschlagen und bis an die Grenze zurückzudrängen.

Max erinnert sich an die ersten Tage der großangelegten Invasion und daran, wie schwer es ihm fiel, seinen Platz in diesem Krieg zu finden. Freiwillige und Soldaten hatten eine klare Aufgabe, konnten anderen helfen – er hingegen fühlte sich mit seinen eigenen Talenten und Fähigkeiten eher wie eine Last. „Egal, was man in solchen Momenten tut – alles scheint falsch. Weggehen fühlt sich falsch an, bleiben ebenso. Egal wie man sich entscheidet, es gibt keine richtige Lösung.“

Max gelang es, aus seiner Apathie herauszufinden, dank Viktor Frankls Buch …trotzdem Ja zum Leben sagen. Frankl, selbst Jude und Häftling in einem Konzentrationslager, beschrieb darin seine Erfahrungen: Diejenigen, die darauf hofften, dass alles schnell vorbei sein würde, starben als Erste. Wer glaubte, dass es niemals enden würde, folgte kurz darauf. Überleben konnten nur diejenigen, die ihre Arbeit taten, ohne ans Ende zu denken.
 
Ein Soldat freut sich über den Schnee in Charkiw.

Ein Soldat freut sich über den Schnee in Charkiw. | Foto: © Denis Vėjas

Im Jahr 2022 gab es noch viele, die glaubten, dass der Krieg schnell vorbei sein würde – besonders nach dem ukrainischen Gegenangriff. Es schien, als sei das Ende nah: noch ein paar Wochen, und alles wäre vorbei. Doch bis zum Ende des Sommers 2022 waren diejenigen, die an ein schnelles Ende geglaubt hatten, mental gebrochen – sie hatten erkannt, dass der Krieg noch ein Jahr oder länger dauern könnte. Viele setzten ihre Hoffnungen später auf die Gegenoffensive im Sommer, doch bis Herbst 2023 war klar, dass auch dies keine schnelle Lösung brachte. Enttäuschung, Apathie und Depressionen breiteten sich aus. Einige verließen die Stadt Charkiw und kehrten nicht zurück, andere distanzierten sich emotional. Nun scheint eine Welle der Hoffnungslosigkeit über diejenigen hereingebrochen zu sein, die nicht mehr an ein baldiges Ende des Krieges glauben.

Max erzählt, dass einer von Frankls Tipps, um unter schrecklichen Umständen geistig gesund zu bleiben, wenn man täglich mit Tod, Hunger und Trümmern konfrontiert ist, darin besteht, sich vor dem inneren Auge ein Bild zu machen. Frankl stellte sich vor, wie er in seinem üblichen Anzug vor dem Lehrstuhl seiner Heimatuniversität in Wien stand und eine Vorlesung über die Transformation der menschlichen Psyche unter extremen Bedingungen hielt. Für ihn war dieses Bild so klar, dass er seine Umgebung nicht mehr als schreckliche Umstände wahrnahm, sondern als unvermeidliche Bedingungen, unter denen er arbeiten musste.

So auch Max: Dieses Bild half ihm, seinen Platz in diesem Krieg zu finden, eine Vision zu entwickeln und zu arbeiten.
 
Max zeigt auf seinem Tablet einen Entwurf für die Restaurierung eines historischen Gebäudes im Herzen von Charkiw.

Max zeigt auf seinem Tablet einen Entwurf für die Restaurierung eines historischen Gebäudes im Herzen von Charkiw. | Foto: © Denis Vėjas

Seit Kriegsbeginn konnten viele Charkiwer*innen die Stadt verlassen und sich in Sicherheit bringen, doch etwa 25.000 Einwohner*innen – darunter ältere Menschen, Kinder und ganze Familien mit ihren Haustieren – verbrachten von Februar bis Mitte Mai Tage, Wochen, teilweise sogar Monate unter der Erde. Manche von ihnen traten in dieser Zeit kaum an die Oberfläche. In der U-Bahn erhielten sie Unterstützung von Freiwilligen, die Lebensmittel und dringend benötigte Güter brachten.

Eine der Leitideen für die Stadtentwicklung Charkiws ist die Vision einer unterirdischen Stadt – geboren aus dem Bedürfnis nach Sicherheit. Angesichts der Nähe zur Frontlinie sollen Schutzräume nicht nur bei Beschuss Sicherheit bieten, sondern auch als Räume für Schulen, Freizeit, Infrastruktur und alles dienen, was das soziale Leben ausmacht. Initiator dieser Idee ist der Architekt Jurij Spasow, Leiter des Projekts für Charkiw. Gemeinsam mit seinem Teamkollegen Dmitrij Fomenka reiste er nach Helsinki, wo ihnen das unterirdische Infrastruktur der finnischen Hauptstadt vorgestellt wurde – ein System von Luftschutzbunkern, das zu Beginn des Kalten Krieges geschaffen wurde und nicht nur ganz Helsinki, sondern theoretisch auch die Hälfte Finnlands schützen konnte.
 
Charkiw, versunken in Dunkelheit. Januar 2023

Charkiw, versunken in Dunkelheit. Januar 2023 | Foto: © Denis Vėjas

In Charkiw gibt es bereits fünf unterirdische Schulen, eingerichtet in U-Bahn-Stationen. Eine davon befindet sich im Durchgang der Station „Unabhängigkeit“. Laut der Schulleiterin dauerte die Einrichtung nur einen Monat.

Der Durchgang wurde in separate Räume unterteilt, ausgestattet mit Beleuchtung, Belüftung, Luftrückgewinnung und Heizung. Derzeit besuchen 478 Schülerinnen und Schüler der Klassen 1 bis 11 diese Schule, der Unterricht findet in Schichten statt.

Insgesamt lernen aktuell 2.094 Kinder in den fünf U-Bahn-Schulen Charkiws – und der Bedarf an solchen sicheren Bildungseinrichtungen wächst rapide.
  Max erklärt, dass die Idee einer unterirdischen Stadt nicht nur Sicherheitsaspekte umfasst, sondern auch ein neues Verkehrssystem vorsieht. Das Zentrum Charkiws liegt auf einem Hügel im sogenannten Nahirnij-Viertel, wo, wie in vielen europäischen Städten, das Verkehrsaufkommen sehr hoch ist. Bereits in den 1960er Jahren gab es Pläne, quer verlaufende Autotunnel unter dem Hügel zu bauen, um die wichtigsten Stadtteile unterirdisch zu verbinden – ähnlich wie in Brüssel, Düsseldorf oder im mexikanischen Guanajuato. Laut Max eignet sich die Geografie Charkiws besonders dafür. Eine Gruppe von Architekt*innen hat die alten Pläne wiederentdeckt und passt sie nun an die Bedürfnisse der modernen Stadt an.

Max scherzt, dass die Diskussion über den neuen Verkehrsplan mit einem Gespräch über Fahrradwege begann. Es war April 2022, wenige Monate nach Beginn der Invasion, und in der Stadt funktionierte kaum noch etwas – weder U-Bahn noch öffentlicher Nahverkehr, auf den Straßen waren fast keine Autos zu sehen. Das einzige verlässliche Transportmittel war das Fahrrad.

Und dann sind da noch die Flüsse. Charkiw wird von vier größeren Flüssen durchzogen – Udy, Nemyschlja, Lopan und Charkiw –, die das „blaue Gerüst“ der Stadt bilden. Für Max sind die Flüsse nicht trennend, sondern verbindend. Er schlägt vor, entlang der Ufer grüne Korridore zu schaffen, Fahrradwege und Erholungsgebiete anzulegen.
 
Einwohner*innen von Charkiw feiern den Jahreswechsel 2023-24 in einer U-Bahn-Station.

Einwohner*innen von Charkiw feiern den Jahreswechsel 2023-24 in einer U-Bahn-Station. | Foto: © Denis Vėjas

Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Energieautonomie. In der Sowjetzeit wurden zentralisierte Heizsysteme eingeführt, die die ganze Stadt versorgten. Unter Kriegsbedingungen erweisen sich solche zentralisierten Anlagen jedoch als ineffizient und anfällig. Max schlägt daher vor, mehrere kleinere, unterirdisch installierte Wärmequellen zu schaffen.

Auch viele Fabriken und Industrieanlagen könnten unter die Erde verlegt werden. Ein Beispiel liefert Norman Foster selbst: In Großbritannien baute er eine unterirdische Autofabrik, darüber entstand eine grüne Wiese – eine typisch englische Landschaft mit Schafen und einem kleinen See.

Max lässt sich vom London des 19. Jahrhunderts inspirieren, als städtische Infrastruktur, wie U-Bahn, Tunnel unter der Themse und Energieversorgungssysteme unter die Erde verlegt wurde, während darüber Gärten, begrünte Dächer, Parks und repräsentative Architektur die Stadt prägen.

„Die Idee einer unterirdischen Stadt hat einen utopisch-englischen Beigeschmack“, sagt Max. „Herbert Wells beschrieb in seinem Buch Die Zeitmaschine düster die soziale Kluft zwischen der unterirdischen Arbeiterklasse und den an der Oberfläche lebenden Aristokraten. Heute jedoch wirkt dieses Konzept weder utopisch noch absurd: Die unterirdischen Schulen in der U-Bahn zeigen, dass es funktioniert.“
  Wir stehen im Herzen der Stadt. Über uns weht eine riesige blau-gelbe Flagge, gehisst auf dem zweithöchsten Fahnenmast Europas. Sie ist zum Symbol der Stärke geworden: Seit Beginn des Krieges wurde sie kein einziges Mal eingeholt, selbst dann nicht, als in der Nähe Bomben und Raketen einschlugen. Hier, erzählt Max, wurde Charkiw vor rund 350 Jahren gegründet.
Charkiw entstand als Festung – als frontier der Freiheit. Das war der erste Impuls in der Entwicklungsgeschichte dieser Stadt. Es geht nicht nur darum, zerstörte Gebäude wieder aufzubauen, sondern darum, die Bedeutung Charkiws zu verstehen. Man muss zum Geist und zur Geschichte dieser Stadt zurückkehren.“
Die Stadt entstand als Verteidigungsfestung in einem Landstrich, der damals als wild galt: eine Pufferzone zwischen Moskau, der tatarischen Krim und Polen, eine Grenze zwischen Orthodoxie, Katholizismus und Islam. Kaum jemand lebte hier, ähnlich wie heute in der Frontzone. In der Mitte des 17. Jahrhunderts flohen Menschen aus der Westukraine vor dem Krieg mit Polen hierher, um im „wilden Land“ Schutz zu suchen. So entstand die erste hölzerne Festung – der Ursprung Charkiws.
  Die anderen Festungen wurden in solcher Entfernung voneinander errichtet, dass man im Ernstfall das Signalfeuer der jeweils nächsten sehen konnte. Bei einem Angriff der Tataren loderten die Feuer als Warnzeichen über das Land. So entstanden Charkiw, Isjum, Tschuhujiw und andere Städte deren Namen heute durch die Kriegschroniken erneut in die Welt hinausgetragen werden. Das Gebiet, in dem diese hölzernen Vorposten standen, nannte man Slobozhanshchyna, das Land der Freiheit. Die Menschen hier waren frei von Leibeigenschaft und lebten unabhängig, auch weil sie in einer Zone mit höherem Risiko siedelten. Sie waren von Handels-, Salz- und Alkoholsteuern befreit. Sie lebten also in einer Art Freihandelszone, einem „Offshore-Gebiet jener Zeit“.

„Charkiw entstand als Festung – als frontier der Freiheit. Das war der erste Impuls in der Entwicklungsgeschichte dieser Stadt. Es geht nicht nur darum, zerstörte Gebäude wieder aufzubauen, sondern darum, die Bedeutung Charkiws zu verstehen. Man muss zum Geist und zur Geschichte dieser Stadt zurückkehren.“
 
Die durch Bombenangriffe beschädigte orthodoxe Kirche im Zentrum von Charkiw

Die durch Bombenangriffe beschädigte orthodoxe Kirche im Zentrum von Charkiw | Foto: © Denis Vėjas

Jahrhunderte später, im aktuellen Krieg mit Russland, hat Saltiwka, ein Stadtteil im Norden Charkiws, die Rolle der Verteidigungsmauer übernommen. Es ist der größte und am dichtesten besiedelte Teil der Stadt; vor der Invasion lebten hier rund eine halbe Million Menschen. Zugleich ist Saltiwka das Tor Charkiws – von hier führt die Straße direkt nach Belgorod in Russland.

Saltiwka ist ein grauer, betonierter Hochhauskomplex. Dahinter reihen sich Garagen, dann Felder, und weiter draußen beginnen die vom Krieg verwüsteten Vororte der nordukrainischen Metropole. Max erzählt, dass in diesen Feldern einst russische Artillerie stand – und alles, was in Richtung Stadt flog, über Saltiwka hinweg zog.
 
Der nördliche Stadtteil Saltiwka ist der größte und am dichtesten besiedelte Teil von Charkiw. Es handelt sich um graue, betonierte Hochhaus-Monolithen. Dahinter befindet sich eine Reihe von Garagen, und hinter den Garagen liegen Felder.

Der nördliche Stadtteil Saltiwka ist der größte und am dichtesten besiedelte Teil von Charkiw. Es handelt sich um graue, betonierte Hochhaus-Monolithen. Dahinter befindet sich eine Reihe von Garagen, und hinter den Garagen liegen Felder. | Foto: © Denis Vėjas

„Dieser Ort ist schwer beschädigt. Diese grauen Gebäude mit neun, zwölf, sechzehn Stockwerken – sie haben die Stadt geschützt und dem Ansturm der russischen Armee standgehalten.“

In der Architektengruppe war die Frage, was mit Saltiwka geschehen solle, eines der Schlüsselthemen – und die Antwort schien auf der Hand zu liegen: abreißen und neue Mehrfamilienhäuser bauen. Max beschreibt diese Option als schnell und profitabel. „Für eine solche Lösung gäbe es eine Reihe von Investoren. Die Russen machen dasselbe mit Mariupol – sie veranstalten Architekturwettbewerbe für den Wiederaufbau der Stadt. Für mich ist das ein Beispiel dafür, wie man es nicht machen sollte. Alles abzureißen und neu zu bauen, ist wie die hier begangenen Verbrechen zu vertuschen und so zu tun, als wäre hier nie etwas gewesen.“

Eine andere Möglichkeit wäre, die Geschichte des Krieges sichtbar zu bewahren: Saltiwka als Mahnmal, als Museum lebendiger Erinnerungen – ein Ort, an dem die Narben des Krieges nicht verschwinden, sondern zum Teil der Stadtidentität werden. So wie in Sarajevo, wo nach dem Bosnienkrieg die Spuren von Kugeln und Bomben bewusst in der städtischen Textur erhalten blieben. Doch auch diese Idee überzeugt Max nicht. „Für mich würde das bedeuten, dass die Wunden nicht heilen“, sagt er.
Ich spreche von einer Idee, von einem Symbol. Ich glaube, dass Wunden mit Pflanzen geheilt werden können.“
Als Max nach dem Rückzug der russischen Armee zum ersten Mal wieder in Saltiwka stand, empfand er den zerstörten Stadtteil als Ort der Meditation. „Es ist schrecklich, sich vorzustellen, was hier passiert ist“, sagt er. „Für mich war es eines der schlimmsten Dinge, die geschehen können. Wenn man so etwas überlebt hat, gibt es nichts mehr zu fürchten. Wenn Raketen fallen, bleibt nur der Instinkt: zu überleben. Aus diesem Ort spricht der Instinkt zu leben.“

Für Max soll gerade der am stärksten zerstörte Ort wieder aufblühen. In seiner Vision entsteht in Saltiwka eine neue, grüne Architektur: Explosionskrater werden mit Bäumen bepflanzt, beschädigte Gebäude verwandeln sich in Wintergärten, und begrünte Brücken verbinden die Häuser miteinander. „Ich spreche von einer Idee, von einem Symbol. Ich glaube, dass Wunden mit Pflanzen geheilt werden können.“

Diese Begrünung von Saltiwka sei für ihn eine symbolische Aufgabe – ein Zeugnis des Überlebens und des Sieges. Wenn diesem Ort kein Respekt entgegengebracht wird, werde er wie Prypjat bei Tschernobyl enden: Alle werden sich nur an die Tragödie erinnern, aber nicht daran, dass sie überstanden wurde.

Max träumt davon, die Dächer der Mehrfamilienhäuser in grüne Aussichtsplattformen zu verwandeln. Im Moment erinnern sie jedoch noch an Landschaften nach schweren Zerstörungen: Wer hinaufsteigt, kann deutlich erkennen, woher die russischen Panzer kamen und welche Spuren ihre Angriffe hinterlassen haben.
  Die Fläche dieser Flachdächer in Charkiw ist gewaltig. Im Sommer, wenn das Thermometer auf 40 Grad klettert, verwandeln sie sich in Hitzespeicher. Die Dachmaterialien heizen sich auf, und über ihnen staut sich die Luft – flirrend wie über einem Lagerfeuer.

Max hat dafür eine Idee: Warum diese Dächer nicht begrünen, mit Rasen bedecken, vielleicht sogar Bäume pflanzen? Technisch ist das machbar. So könnten hoch über den Straßen ganze Gartenlandschaften entstehen – Dachparks, die nicht nur der Erinnerung dienen, sondern zugleich einen ökologischen Mehrwert für die Stadt haben.

Max sieht Saltiwka als die größte Kriegswunde der Stadt, die eine besonders aufmerksame und sensible Herangehensweise erfordert. Zunächst gelte es, innezuhalten, nachzudenken – und Menschen zusammenzubringen, die aus unterschiedlichen Disziplinen kommen: Soziolog*innen, Stadtplaner*innen, Ingenieur*innen, Künstler*innen und Philosophen*innen. Nur im gemeinsamen Denken könne eine tragfähige Zukunftsvision für Saltiwka entstehen.

Max weiß, dass seine Idee komplex ist. Ein solches Projekt verlangt sorgfältige Planung: die Entwicklung nachhaltiger Wurzelsysteme, die Auswahl geeigneter Pflanzen, die Einrichtung moderner Bewässerungstechniken und so weiter.

Die Zukunftsvision für Charkiw sieht vor, Vielfalt und eine Stadtstruktur zu schaffen, in der jedes Viertel sein eigenes Gesicht trägt. Dieses Prinzip steht im Zusammenhang mit der Bildung von Gemeinschaften. Die sowjetische Architektur basierte auf Standardisierung; alle lebten in identischen „Kästen“, aber im wirklichen Leben schließen sich Menschen entsprechend ihrem Lebensstil, ihren Interessen und sozialen Beziehungen zusammen. Wenn sich diese natürlichen Verbindungen auch in der Architektur widerspiegelten, könnte die Stadt lebendiger, menschlicher und persönlicher werden.
 
Dieser Straßenmusiker im Zentrum von Charkiw ist den Einwohner*innen der Stadt gut bekannt. Als er nach dem Abzug der russischen Armee auf die Straßen zurückkehrte, war dies für die Bevölkerung ein Zeichen dafür, dass das Leben in der Stadt allmählich wieder in normale Bahnen zurückkehrt.

Dieser Straßenmusiker im Zentrum von Charkiw ist den Einwohner*innen der Stadt gut bekannt. Als er nach dem Abzug der russischen Armee auf die Straßen zurückkehrte, war dies für die Bevölkerung ein Zeichen dafür, dass das Leben in der Stadt allmählich wieder in normale Bahnen zurückkehrt. | Foto: © Denis Vėjas

Wir kehren ins Stadtzentrum zurück. Max führt mich zum zerstörten Gebäude der Medizinischen Universität von Charkiw.

„Der zweite frontier-Bereich in der Geschichte dieser Stadt war die Bildung“, sagt er.

1804 gründete der Aufklärer Wassili Karasin die Universität von Charkiw. Seine Idee war, Bildung in die Provinz zu bringen. Damals mangelte es an Schulen, an Lehrenden, an gebildeten Köpfen. Es gab zwei Möglichkeiten: die jungen Menschen in die Hauptstadt zu schicken, nach Moskau, oder vor Ort Universitäten zu gründen und die Kultur dort zu fördern, wo die Menschen leben. Karasin entschied sich für Letzteres. Denn wer in Moskau studierte, blieb meist auch dort.
Auch Ostberlin war vor dem Fall der Mauer eine Grenzstadt. Damals erklärte John F. Kennedy, dass alle freien Menschen, wo immer sie auch leben, Berliner sind. Heute könnte man dasselbe über Charkiw sagen.“
Die Gründung der Universität veränderte Charkiw grundlegend. Aus einer Grenzfestung, die einst militärische Bedeutung hatte, wurde eine Universitätsstadt, in der der Kampf gegen Unwissenheit und Begrenztheit begann. In gewisser Weise hat die Universität das Schicksal Charkiws stärker geprägt als die Festung selbst. Vor dem Krieg war Charkiw eine junge Stadt, Studierende machten ein Fünftel der Bevölkerung aus, rund 300.000. Sie kamen aus aller Welt kamen hierher, eine bunte, internationale Gemeinschaft, die der Stadt ihren besonderen Rhythmus gab. Laut Max machte die Bildung Charkiw historisch zu einer Grenze zwischen Dunkelheit und Möglichkeiten.

„Charkiw war immer eine offene Stadt – sie erinnerte mich an Berlin. Auch Ostberlin war vor dem Fall der Mauer eine Grenzstadt. Damals erklärte John F. Kennedy, dass alle freien Menschen, wo immer sie auch leben, Berliner sind. Heute könnte man dasselbe über Charkiw sagen.“

Derzeit funktionieren fast alle Universitäten und Schulen im Fernunterricht. Die Wiederbelebung des Bildungswesens bedeutet nicht nur, Gebäude wieder aufzubauen, Fenster einzusetzen und neue Computer zu kaufen. Bildung muss sich auch inhaltlich erneuern: Programme überdenken, veraltete schließen, zukunftsweisende stärken. Besonders die Medizinische Universität von Charkiw hat heute neue Aufgaben – durch ihre Nähe zur Front und den wachsenden Bedarf an Technologien und Wissen zur Bewältigung von Krisen.

Eines der entsprechenden Projekte entstand in Zusammenarbeit mit der Foster-Foundation: die Idee, in Charkiw einen internationalen Wissenschaftspark zu errichten. Als Norman Foster im Oktober 2024 am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston darüber sprach, wirkte die Idee zunächst wie eine kühne Utopie. Ein Forschungszentrum ausgerechnet in einer Stadt, die unter Stromausfällen und Angriffen leidet? Für Max ist die Idee dennoch richtig. „Man darf sich nicht nur auf die Gegenwart beschränken“, sagt er. „Man muss an die Zukunft denken.“

Für ihn eröffnet die Nähe des Krieges paradoxerweise neue Räume für die Bildung. „Wo ließe sich besser erforschen, wie sich Menschen in Krisensituationen verändern? Medizin, Technologie, Ingenieurwesen. Alles findet hier, an dieser Grenze, seine neue Bedeutung. Wir müssen eine neue Ebene erreichen, eine frontier schaffen – ein experimentelles Schiff, das ins Unbekannte aufbricht. Das heutige Charkiw ist wie der Mars: ein fremdes Terrain, auf dem intensive Veränderungen stattfinden.“

Wenn man von einer solchen frontier spricht, stellt sich natürlich die Frage nach der Sicherheit. Max winkt ab: Es gibt keine Sicherheit im Grenzgebiet. „An der Grenze zu leben, ist eine bewusste Entscheidung eines Erwachsenen. Wer absolute Sicherheit sucht, ist hier falsch. Aber für jene, die entdecken, forschen und sich auf das Risiko des Lebens einlassen wollen, für die ist Charkiw genau der richtige Ort.“
 
Max vor der bombardierten Medizinischen Universität von Charkiw

Max vor der bombardierten Medizinischen Universität von Charkiw | Foto: © Denis Vėjas

Sicherheit gibt es in Charkiw tatsächlich nicht. Fast täglich heulen die Sirenen, und nachts durchschneiden das Surren und Donnern vorbeifliegender Drohnen die Dunkelheit – mal fern, mal beängstigend nah. Für Russland ist Charkiw eines der am leichtesten zu treffenden Ziele. Oft trifft diese Stadt der Gegenschlag, wenn ukrainische Streitkräfte einen wichtigen russischen Zielpunkt erfolgreich angreifen. Dann folgen die Vergeltungsschläge… und Charkiw leidet.

Wenn Max über Sicherheit spricht, kommt er unweigerlich auf das Thema, das schwerer wiegt als jedes andere: den Tod – und die Frage, wie man den Gefallenen gerecht werden kann.

Als ich Mitte Februar 2024 Charkiw besuchte, waren die Friedhöfe längst überfüllt. Die frisch ausgehobenen Gräber waren mit blau-gelben Fahnen und Kränzen bedeckt. In der Luft lag der Geruch von feuchter Erde, die vermischt mit Nieselregen an den Schuhen klebte. Jeden Tag kamen Menschen, um ihre Angehörigen und Freund*innen zu besuchen, und es schien, als bliebe dem ständig betretenen Boden gar keine Zeit um gefrieren können.
  Ein Architekt aus Max’ Team, Dmitrij Fomenko, schlägt vor, die in der Ukraine tief verwurzelte Bestattungstradition zu verändern: Neue Nekropolen sollen als Ökoparks entstehen.

Dmitrij will die Todessymbolik – Grabsteine, Kreuze, Obelisken – durch Bäume und Pflanzen ersetzen. Friedhöfe sollen als Gärten der Zukunft betrachtet werden, in denen sich die Asche der Verstorbenen sich mit dem Wurzelsystem junger Bäume verbinden soll. In dieser Vision verwandelt sich das Grab in einen Baum und der Friedhof in Wälder und Parks.

Das Thema des Lebens nach dem Tod wurde seit der Entstehung der ersten Siedlungen in die Stadtentwicklung integriert, und den Nekropolen wurde stets besondere Bedeutung und Aufmerksamkeit beigemessen.

„Das Wort Nekropole bedeutet ‚Totenstadt‘. Doch die philosophische Idee des Gartens steht für Blüte, für Leben. In der Verbindung von beidem liegt für mich etwas Tröstliches: Die Erinnerung bleibt lebendig, sie wächst weiter. Das Leben besiegt den Tod.“

„So unterschiedlich wir auch sein mögen, wir können als Bäume nebeneinander wachsen“, sagt Max. „Ich finde, dass im Kontext des Krieges diese Idee eine besondere Bedeutung bekommt. Tausende Ukrainer sterben an der Front (und auch in ihren Häusern durch Luftangriffe). Die Ukrainer kämpfen für ihre Freiheit, und diejenigen, die im Kampf sterben, wachsen als Bäume im Stadtgarten. Dieser Garten wäre ihr Denkmal – eine ewige und bedeutungsvolle Renaissance der Freiheitsideen.“
 
Der 18. Friedhof von Charkiw am zweiten Jahrestag der Invasion.

Der 18. Friedhof von Charkiw am zweiten Jahrestag der Invasion. | Foto: © Denis Vėjas

Der Architekt weist darauf hin, dass das Thema Tod und Friedhöfe ein sehr sensibles und konservatives Thema ist. Unterschiedliche Religionen haben ihre eigenen Bestattungsrituale, die immer mit strengen Regeln darüber einhergehen, wie ein Mensch ins Jenseits verabschiedet werden soll. Über neue Formen des Bestattens zu sprechen, solange die Trauer noch so frisch und greifbar ist, erfordert Behutsamkeit.

Besonders schwierig ist dies im Fall der Kriegsopfer. Für sie werden meist eigene Bereiche auf Friedhöfen angelegt, oft mit monumentalen Gedenkstätten. „Meistens sind das die Marmorplatten mit den Namen der Gefallenen, riesige Metallmonumente, die von Symbolen der militärischen Kraft strotzen“, sagt Max. Doch die Vision seines Teams geht in eine andere Richtung. Statt heroischer Monumente sehen sie Orte vor, die Ruhe ausstrahlen: Nekropolen als Gärten der Stille, die nicht nur von Verlust erzählen, sondern auch von Nähe, Erinnerung und Erneuerung. Orte, an denen Natur und Mensch eins werden, und wo Trauer in Meditation übergeht.
 
Das Auto der Friedhofsmitarbeiter mit einer Schaufel auf dem 18. Friedhof von Charkiw

Das Auto der Friedhofsmitarbeiter mit einer Schaufel auf dem 18. Friedhof von Charkiw | Foto: © Denis Vėjas

Der erste Impuls für die Entwicklung dieser Grenzregion ging einst von der Festung aus, der zweite kam aus dem alten Universitätsgebäude, und der dritte schließlich entsprang der Avantgarde, sichtbar im monumentalen Bau des Staatlichen Industriehauses (Gosprom), errichtet 1928. Oft wird das Gebäude mit der sowjetischen Epoche gleichgesetzt, doch in Wahrheit ist es ein Zeitgenosse des Bauhauses.
Dieses Gebäude ist mehr als nur ein architektonisches Meisterwerk – es ist ein Symbol für die Fähigkeit des Menschen, selbst in Zeiten von Not und Verzweiflung Neues zu schaffen. Nach der Oktoberrevolution von 1917 und dem darauffolgenden Bürgerkrieg (1917–1921) wurde Charkiw zu einem der umkämpftesten Orte der Ukraine. Die Stadt wechselte mehrfach die Besitzer: Zwischen Bolschewiki, der von Deutschland unterstützten Regierung des Zweiten Hetmanats, der Ukrainischen Volksrepublik und den Weißgardisten – bis sie 1919 schließlich von den Sowjets eingenommen wurde. Die politische Lage blieb instabil, das Leben hart. Auch die ersten Jahre der Sowjetherrschaft brachten keine Besserung – im Gegenteil, viele Menschen verloren die Hoffnung. Und doch, gerade in dieser Zeit des Mangels, keimte eine erstaunliche Idee: der Wille, etwas Bedeutendes zu errichten. Die wirtschaftliche Lage war schwierig, und bald darauf sollte der Holodomor, die Hungerkatastrophe, eine der größten Tragödien in der Geschichte der Ukraine geschehen. Doch abgesehen davon erlebte Charkiw einen intensiven kulturellen Aufschwung und die Architektur und Kultur der Stadt wurden zum Inbegriff neuer Ideen.

Es war eine kühne Entscheidung: Die Stadt mit Stahlbeton und unter Einsatz neuer Technologien wieder aufzubauen. Damals wusste jedoch noch niemand genau, wie man mit diesem Material arbeitet oder Gebäude in dieser Größenordnung plant. Dennoch wurde der Gosprom in nur zweieinhalb Jahren errichtet. Er wurde nicht nur zu einem Symbol des sowjetischen Konstruktivismus, sondern auch zu einem Zeichen der Hoffnung – dafür, dass sich eine Stadt selbst in den schwierigsten Zeiten erneuern und wiederaufbauen kann.

Zwischen 1919 und 1933, als Charkiw Hauptstadt der Ukrainischen Sowjetrepublik war, entwickelte sich die Stadt zu einem der wichtigsten Zentren der Avantgarde – in Kunst, Wissenschaft und Bildung. Es war eine Epoche der Experimente: Es entstanden neue Richtungen in Kino, Theater, Fotografie, Malerei und Architektur, ähnlich der Bauhaus-Bewegung in Deutschland. Schriftsteller und Dichter schufen eine moderne, eigenständige Sprache und prägten damit die moderne ukrainische Literatur. Später nannte man diese Generation die „erschossene Renaissance“ – eine Erinnerung an die stalinistischen Repressionen.

Wissenschaftlich gehörte Charkiw zu den fortschrittlichsten Zentren der Sowjetunion. Am Institut für Physik und Technik arbeiteten Forscher wie Lew Landau, deren Entdeckungen die moderne Physik weltweit prägten. Hier wurde an Quantenmechanik und Kernphysik geforscht – die Stadt war ein intellektuelles Epizentrum, eine Avantgarde des Denkens.

Doch auch im politischen Widerstand spielte Charkiw eine besondere Rolle. In den 1960er Jahren entstand hier eine der stärksten Dissident*innenbewegungen der Sowjetunion. Max erzählt, dass als 1968 sowjetische Panzer in Prag einrollten, acht Menschen mit Plakaten auf den Roten Platz in Moskau gingen. „Für unsere und eure Freiheit“ stand auf diesen Plakaten. „Acht – in der ganzen Sowjetunion! Drei von ihnen kamen aus Charkiw: aus der Kulturstraße, aus der Baratschnyj-Gasse. Ich kann euch das Haus zeigen, in dem sie sich getroffen haben.“
 
Skulptur zeitgenössischer Kunst auf dem Freiheitsplatz in Charkiw

Skulptur zeitgenössischer Kunst auf dem Freiheitsplatz in Charkiw | Foto: © Denis Vėjas

Charkiw wurde zum Industriezentrum der Ukraine – und das ohne Bodenschätze. Anders als Donezk, Luhansk, Mariupol, Saporischschja oder Krywyj Rih, wo unter der Erde alles Nötige zu finden war, musste Charkiw andere Wege gehen. Hier wurden Strategien entworfen, Industriepolitik gestaltet – als  das intellektuelle Zentrum des Donbas. Die Industrie war auf Produktion und Innovation ausgerichtet: Autos, die erste Flugzeugfabrik, die erste Kamerafabrik, Fahrräder, Turbinen, Traktoren – alles, was mit Technologie, Ingenieurskunst und Erfindungsgeist zu tun hatte, nicht mit der Förderung von Rohstoffen.

Max ist überzeugt: Viele dieser Fabriken haben ihre wirtschaftliche Daseinsberechtigung verloren und sollten aus ökologischen wie ökonomischen Gründen stillgelegt werden. Seiner Meinung nach ist ihr Betrieb ein Versuch, einen längst verstorbenen Patienten wiederzubeleben. Es werden nie wieder so viele Traktoren gebraucht werden wie in den 40er Jahren.

Viele Fabriken haben ihre Bedeutung und ihren Bedarf verloren, deswegen könnten die Industrieflächen den Bedürfnissen der Stadtbewohner*innen angepasst werden – zu Kulturräumen, die Charkiws Industriegeschichte bewahren. Einige Fabriken könnten sich in Museen der industriellen Revolution verwandeln und in die Liste der Kulturerbestätten aufgenommen werden, während die alte Industriearchitektur zu Loftwohnungen und kreativen Räumen umgebaut werden könnte.

Viele dieser Fabriken wurden am damaligen Stadtrand gebaut, doch inzwischen stehen sie in Zentrumsstadtteilen. Solche Räume können zu Galerien, Konzertsälen, Museen, IT-Zentren, Kreativ- und Designräumen, Architekturbüros werden.
 
Das historische Zentrum von Charkiw, zerstört durch Bomben

Das historische Zentrum von Charkiw, zerstört durch Bomben | Foto: © Denis Vėjas

Ich verbrachte einige Tage mit Max, schlenderte durch die Straßen Charkiws und hörte seinen Geschichten und Visionen zu. Es war ein surrealer Moment: Die Luftschutzsirenen heulten über der Stadt, während er von mutigen, futuristischen Ideen sprach. Und natürlich stellte sich die Frage: „Wie realistisch ist das alles?“

Max macht deutlich, dass seine Vorstellungen keine fertigen Projektpläne sind – es ist eine Einladung zur Diskussion. Die Idee der drei frontiers führe unausweichlich zu einer vierten: dem Krieg mit Russland, der die neue Peripherie Charkiws formt.

„Heute müssen wir eine neue Zukunft schaffen, basierend auf dem, was bereits existiert. Wir müssen das wiederbeleben, was zerstört wurde, und erschaffen, was noch nicht existiert.“
 

Charkiw Foto: © Denis Vėjas

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