Kippelemente für den Klimaschutz  Lass mal kippen

Lasst es endlich kippen! Foto: Cindy Tang via unsplash | CC0 1.0

Kipppunkt und Klima – das klingt nach Katastrophe. Und tatsächlich läuft uns die Zeit davon. Aber es gibt auch Kippelemente, mit denen wir das Klima retten können. Welche sind das, und wie lösen wir die Kippdynamik so schnell wie möglich aus?

Ist es der Krieg in der Ukraine, der uns rettet? Wer diese Frage heute mit Ja beantwortet, glaubt entweder das Putinsche Märchen von der Entnazifizierung der Ukraine oder darf sich angesichts des Leids, das die russischen Truppen über die Bevölkerung des Nachbarlandes bringen, nicht beschweren, für eine*n Zyniker*in oder Schlimmeres gehalten zu werden.

Wenn aber einst Historiker*innen über das 21. Jahrhundert und das Jahr 2022 urteilen, werden sie vielleicht – vorausgesetzt sie leben in einer Zukunft, in der auf unserem Planeten noch lebenswerte Bedingungen herrschen – folgende These aufstellen:
 
Wegen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine beschleunigten die westlichen Industrienationen den Übergang zu erneuerbaren Energien, und nur deshalb konnte es schließlich gelingen, das Pariser Klimaabkommen einzuhalten, also die menschgemachte Erderwärmung auf unter 1,5 Grad Celsius im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter zu drücken und das Klima zu stabilisieren.

Wenn wir uns diesen – zugegebenermaßen wenig empathischen – „Optimismus“ gönnen wollen, müssen wir einen kritischen Blick werfen auf die Jahre vor der „Zeitenwende“ (Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 über den russischen Angriff auf die Ukraine). Statt konsequent die Energiewende voranzutreiben, hat sich Deutschland, eine der größten Industrienationen der Erde, in immer stärkere Abhängigkeit von fossilen Energieträgern aus Russland begeben… von Kohle, Öl und vor allem von Gas.

Das ist doppelt schlecht und – euphemistisch formuliert – verwunderlich, denn die Karten lagen längst offen auf dem Tisch. Russlands imperialistische Ambitionen waren spätestens seit dem Georgienkrieg 2008 bekannt, den Einsatz fossiler Energie als geopolitische Waffe spürte Südosteuropa bereits während des Gasstreits im Winter 2009. Allerspätestens seit der Annexion der Krim und der Entfesselung des Krieges in der Ostukraine ab 2014 waren Geschäfte mit dem System Putin nur unter Ausschaltung des moralischen Gewissens möglich. Und seit vielen Jahrzehnten schon wissen wir vom menschgemachten Klimawandel, der die Abkehr von fossiler Energie von Jahr zu Jahr dringender macht. Warum brauchte es erst einen Angriffskrieg, um den politischen Willen zu entfachen, endlich gegenzusteuern? Und wird es gelingen, die ganze (!) Gesellschaft für die notwendigen Maßnahmen zu gewinnen?

Doppelt gut ist jedenfalls, wenn sogar die wirtschaftsliberale FDP in Person ihres Parteivorsitzenden und Bundesfinanzministers Christian Lindner erneuerbaren Energieträgern ein neues Framing als Freiheitsenergien verpasst (daran werden er und seine Partei sich allerdings messen lassen müssen). Denn für die Klima-PR gibt es nach wie vor noch viel Luft nach oben. „Die Konsumgesellschaft erzählt pausenlos gute Geschichten über sich, während die Umwelt- und Klimabewegung nur Geschichten über den Untergang des Planeten und über Genügsamkeit verbreitet“, wies der Soziologe Harald Welzer im März 2021 auf das Kommunikationsproblem hin. „Damals“ war es die Covid-19-Pandemie, die uns einen „Verzicht“ lehrte, der vorübergehend mit einer Senkung der Treibhausgas-Emissionen einherging. Die stiegen jedoch anschließend wieder deutlich an. Ein ähnlicher Backlash könnte erneut drohen.

Für die Historiker*innen der Zukunft bietet sich nämlich eine weitere Erzählung über das Jahr 2022 an:
 
Um die Abhängigkeit von russischen Energieträgern zu verringern, beschloss Deutschland zunächst die Reaktivierung von Kohlekraftwerken und anschließend eine Verschiebung des für 2030 anvisierten Kohleausstiegs. Weitere große Industriestaaten zogen nach. Die CO2-Emissionen stiegen rasant an, so dass das weltweite Klimasystem mehrere Kipppunkte erreichte, die im Dominoeffekt weitere Kipppunkte auslösten. Eine Heißzeit begann. Weite Teile des Planeten wurden für Menschen unbewohnbar, gigantische globale Fluchtbewegungen und erbitterte Kriege um Trinkwasser-Ressourcen waren die Folge. Die Weltbevölkerung schrumpfte auf rund zwei Milliarden Menschen, die sich allerdings auf circa 0,1 Prozent der globalen Landfläche, vor allem in den Polarzonen, drängeln.

Wird die Menschheit in einer solchen Zukunft nicht zu beschäftigt mit Überleben sein, um Geschichtsschreibung zu betreiben? … Wer so fragt, erliegt schon wieder dem erwähnten Kommunikationsproblem von der Apokalypse.

Positive Kipppunkte, negative Kipppunkte

Fragen wir lieber, wie sich das Schreckensszenario vermeiden lässt. Die Antwort scheint banal einfach: Dekarbonisierung sofort! Aber wo können wir ansetzen, um schnell genug eine ausreichend breite gesellschaftliche Grundlage für die notwendigen Maßnahmen zu schaffen? Ohne Blutvergießen und ohne dass ein (zu) starker Staat Freiheiten über alle Maßen einschränkt? Ist das überhaupt möglich?

Diese Fragen stellten sich die Mitglieder einer interdisziplinären Forschungsgruppe um die Soziologin und Ressourcenökonomin Ilona M. Otto und den Physiker Jonathan Donges. Im Rahmen einer Studie fragte das Team internationale Expert*innen aus Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und NGOs und studierte einschlägige Literatur, um herauszufinden, welche sozialen Kippelemente das Zeug haben, breite gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen.
 

Kippelemente im Erdklimasystem

Der Begriff der Kippelemente stammt zwar ursprünglich aus den Sozialwissenschaften, ist einer breiteren Öffentlichkeit vor allem in einem Kontext bekannt, in dem sie alles andere als erwünscht sind. Sie bezeichnen „Bestandteile des Erdsystems von überregionaler Größe, die ein Schwellenverhalten aufweisen“, heißt es in einer Definition des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK). Beispiele für solche Kippelemente sind etwa das Schmelzen der großen Eiskörper in den Polargebieten, Umwandlungen und Zerstörungen großer Ökosysteme wie des Amazonas-Regenwaldes, tropischer Korallenriffe oder der borealen Nadelwälder und Veränderungen in großen Luft- und Meeresströmungen. „Bereits das Überschreiten einzelner Kipppunkte hat weitreichende Umweltauswirkungen, die die Lebensgrundlage vieler Menschen gefährden. Es besteht zudem das Risiko, dass durch Rückkopplungsprozesse weitere Kipppunkte im Erdsystem überschritten werden und so eine dominoartige Kettenreaktion ausgelöst wird. Eine solche ‚Kipp-Kaskade‘ könnte das Erdsystem in eine neue Heißzeit katapultieren“, so das PIK.

Wie lange es dauert, bis das globale Klimasystem oder dessen Bestandteile kippen, kann kaum genau vorhergesagt werden. Fest steht: Warten ist keine Option. Erst kürzlich schlugen Wissenschaftler in der Fachzeitschrift nature Alarm, dass der Amazonas-Regenwald sich einem Kipppunkt nähert, ihn aber „wahrscheinlich noch nicht überschritten hat“.

Ebenso schwierig lässt sich vorhersagen, wann ein sozialer Kipppunkt erreicht oder überschritten ist, einen solchen Zeitpunkt könne man eigentlich nur rückschauend bestimmen, sagt Ilona M. Otto und gibt ein Beispiel aus ihrem Herkunftsland Polen: „Von der sehr konservativen polnischen Regierung hört man Statements, dass man bis in Ewigkeit die polnische Kohle verbrennen möchte. Aber man sieht in Polen auch schon viele Solarpanels und Windräder, viele Kommunen investieren in Biogasanlagen. Da passiert unglaublich viel. Fossile Brennstoffe aber werden immer noch sehr stark subventioniert. Das macht es schwierig zu sagen, ob das System bereits gekippt ist.“

Die erwähnte dezentrale Energieerzeugung gehört zum ersten der sechs sozialen Kippelemente, die Ilona M. Otto mit ihren Kolleg*innen ausgemacht hat, mit dem Potential für einen „disruptiven Wandel“ hin zu mehr Klimaschutz:
 
  1. Produktion und Speicherung von Energie
  2. Menschliche Siedlungsgebiete; Städte und urbane Räume
  3. Finanzmärkte
  4. Werte- und Normensystem
  5. Bildungssystem
  6. Informationsfeedback über die Emission von Waren und Dienstleistungen

Die Studie liefert außerdem einige Ideen, wie die entsprechenden Kippdynamiken ausgelöst werden könnten. Denn die sollten wir schnellstmöglich ansteuern, um das globale Klimasystem zu stabilisieren.
 

Soziale Kippelemente

Ilona M. Otto und ihre Kolleg*innen haben ihre Arbeit an der Studie Social tipping dynamics for stabilizing Earth’s climate by 2050 (Die Dynamik sozialer Kipppunkte zur Stabilisierung des Erdklimas bis 2050) bereits im Jahr 2016 begonnen. Das Paper erschien schließlich im Februar 2020 in der renommierten US-amerikanischen Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS).

Abbildung aus „Social tipping dynamics for stabilizing Earth’s climate by 2050“ (PNAS) Abbildung aus „Social tipping dynamics for stabilizing Earth’s climate by 2050“ (PNAS) | © Ilona M. Otto, Jonathan F. Donges et. al.

Wie lange dauert es, bis wir die Kurve kriegen?

„In einem sozialen System ist alles miteinander verbunden“, betont Ilona M. Otto. Die Vorstellung, dass wir ein Kippelement auslösen und die übrigen dann wie Dominosteine „nachkippen“, sei deshalb falsch. Zwar könne theoretisch jedes einzelne der identifizierten Kippelemente zu einer schnellen Änderung führen, realistischerweise dauert es aber eine gewisse Zeit, bis gesellschaftliche Beharrungskräfte – die Forscherin spricht von einer „gesellschaftlichen bias“ – überwunden sind. Entscheidend für das Tempo ist demnach auch, welche gesellschaftlichen Akteure die Träger*innen des Wandels sind.

Kippdynamiken auf dem Finanzmarkt (Soziales Kippelement 3) können etwa innerhalb von Stunden oder Tagen ausgelöst werden – Stichwort: fossil fuel divestment, also der Abzug von Investitionen aus Unternehmen, die Gewinne aus Geschäften mit fossilen Brennstoffen erwirtschaften. Große Aufmerksamkeit auf den Finanzmärkten erregte etwa im Januar 2021 der jährliche Rundbrief von Larry Fink, Geschäftsführer von Blackrock, einem der weltweit größten Vermögensverwalter. Fink schrieb darin an die CEOs der größten Unternehmen unter anderem: „Wir rufen Unternehmen dazu auf, einen Plan vorzulegen, aus dem hervorgeht, wie sie ihr Geschäftsmodell an eine klimaneutrale Wirtschaft anpassen wollen – also an eine Wirtschaft, in der die Erderwärmung auf deutlich unter 2 Grad Celsius begrenzt wird und die mit dem globalen Ziel von Netto-Null-Treibhausgasemissionen bis 2050 vereinbar ist.“

Ungeachtet der Verstrickungen, die Blackrock nach wie vor zum Kohle-, und Ölbusiness unterhält, ist das Signal an die Unternehmen der Welt eindeutig. Denn in seinem Rundbrief ging Fink noch weiter: „Wir fordern Sie auf darzulegen, wie Sie diesen Plan in Ihre langfristige Geschäftsstrategie einbinden und wie Ihr Aufsichtsrat die Einhaltung überprüfen wird.“ Dies ist die Sprache, die man in gewinnorientierten Unternehmen versteht: Wer dreckige Geschäfte macht, braucht nicht mit Investitionen zu rechnen!

Wenn wir irgendwann genauso über fossile Brennstoffe denken wie über Sklaverei, also dass man sagt: ‚Ich will das nicht, das ist schmutzig, damit will ich nichts zu tun haben!‘, dann ist das System wirklich gekippt.“

Ob dem Rückzug aus klimaschädlichen Technologien (bei allen Beteiligten) dann auch bereits ein grundlegender Sinneswandel zugrunde liegt, darf bezweifelt werden. Dass Divestment eine wichtige Rolle auf dem Weg zu einer nachhaltigen Veränderung spielen kann, zeigen mehrere historische Beispiele. So nutzte das abolitionist movement im Großbritannien des 19. Jahrhunderts Divestment als Werkzeug, um die Sklaverei in den britischen Kolonien zu beenden. In der neueren Geschichte trugen Divestment-Kampagnen maßgeblich zur Überwindung der Apartheid in Südafrika bei.

„Wenn wir irgendwann genauso über fossile Brennstoffe denken wie über Sklaverei, also dass man sagt: ‚Ich will das nicht, das ist schmutzig, damit will ich nichts zu tun haben!‘, dann ist das System wirklich gekippt“, sagt Ilona M. Otto. Für einen solchen nachhaltigen Wandel im Normen- und Wertesystem einer Gesellschaft (Soziales Kippelement 4) veranschlagen sie und ihre Kolleg*innen die längste Zeitspanne, nämlich über 30 Jahre. (siehe Grafik)

In der Zwischenzeit besteht eine – je nach Kippelement – mehr oder weniger große Gefahr, dass das System „zurückkippt“. Wie schnell das gehen kann, bewies die EU-Kommission erst Anfang Februar 2022, also noch vor der russischen Invasion in die Ukraine. In der sogenannten EU-Taxonomie „zur Erleichterung nachhaltiger Investitionen“ stuften die Kommissar*innen Investitionen in neue Atom- und Gaskraftwerke unter bestimmten Umständen als „grün“ ein (unter anderem durchgesetzt von Ländern wie Deutschland, die nur wenige Wochen später fieberhaft versuchen, sich schnellstmöglich aus der Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen zu befreien). Anfang Juli 2022 billigte das EU-Parlament die Einstufung. Kritiker*innen sehen damit die gesamte EU-Taxonomie in ihrer Glaubwürdigkeit bedroht.

Die Soziologin und Ressourcenökonomin Ilona M. Otto Die Soziologin und Ressourcenökonomin Ilona M. Otto | Foto: © privat

Was können wir Einzelnen tun?

Trotz aller politischen Entscheidungen „von oben“: Die von Ilona M. Otto in Polen beobachtete (und nicht nur dort bereits sehr verbreitete) dezentrale Energieerzeugung, die stärker werdende Divestment-Bewegung, die wachsende Zahl von Städten, die Klimaneutralität anstreben (Soziales Kippelement 2), und eine junge klimabewusste Generation, die in den kommenden Jahren und Jahrzehnten gesellschaftliche und politische Verantwortung übernehmen wird, geben Anlass zur Hoffnung, dass die Wende (rechtzeitig!) gelingt.

Kauf- und Konsumentscheidungen für Produkte und Dienstleistungen auf der Basis der Klimaverträglichkeit zu treffen, wird für viele Menschen immer wichtiger. Wer dafür nicht extra aufwändige Recherchen anstellen will, kann vielleicht bald schon auf eine Kennzeichnungspflicht vertrauen, die direkt vor dem Supermarktregal verrät, welche Emissionsbilanz die Salami, das Shampoo oder die Avocado aufweisen (Informationsfeedback – Soziales Kippelement 6). Vielleicht werden unsere Wissenslücken in einigen Jahren auch durch unsere Kinder gefüllt, die Klimabildung nicht mehr nur im Erdkundeunterricht ein paar Stunden pro Schuljahr erfahren, sondern umfassend und kompetent an allen Schulformen und in allen Fächern (Soziales Kippelement 5).

Wie auch immer die Gegenwart und die Zukunft aussehen, unserer Verantwortung entkommen wir nicht – weder morgen noch heute. Klar, nur die wenigsten können CEO, Abgeordnete*r, EU-Kommissar*in werden oder als Influencer Millionen Follower in sozialen Netzwerken beeinflussen. Das kann frustrierend sein, wenn man jeden Freitag einen Schulstreik für das Klima macht, aber noch kein Wahlrecht hat und den Entscheidungen der Älteren ausgeliefert ist. „Es ist wichtig, dass wir unsere agency erkennen und dann auch aktiv nutzen.“, sagt Ilona M. Otto deshalb.

Mit agency meint Otto den Handlungsrahmen, die Handlungsfähigkeit, die jede*r Einzelne hat. Individuell können wir zum Beispiel nicht beeinflussen, welche großen Infrastrukturprojekte gefördert werden, etwa ob eine Autobahn ausgebaut oder ins Bahnnetz investiert wird. „Man braucht auch NGOs und Politiker, Entscheidungsträger… und Firmen natürlich auch. Ich denke auch, dass Wissenschaftler*innen viel zu oft fertige Anleitungen rausgeben nach dem Motto: ‚Wir müssen das oder das tun.‘ Wir brauchen aber mehr partizipative Prozesse, damit die Menschen sich selbst als Teil der Lösung begreifen. Man braucht verschiedene soziale Akteure, die sich zusammensetzen und überlegen, wie sie sich gegenseitig unterstützen können.“

Die gute Nachricht ist: „Soziale Bewegungen gehen immer von Minderheiten aus“, konstatiert der bereits zitierte Soziologe Harald Welzer, der glaubt, dass „ein Lebensstilwandel, der von 5 Prozent [der Bevölkerung] auf die Wege gebracht wird, effektiv“ ist (und umgekehrt, dass sich 80 Prozent „einen Scheiß für irgendwas interessieren“ und alles mitmachen, was ihnen vorgegeben wird.). Auch Ilona M. Otto setzt ihre Hoffnung in engagierte Minderheiten, die das System ändern können. Ein Beispiel ist die Bewegung Fridays For Future, eine gesellschaftliche Minderheit, die den öffentlichen Diskurs prägt und bei der letzten Bundestagswahl 2021 sicher auch die Wahlentscheidung vieler (nicht nur) Erstwähler*innen beeinflusst hat.

„Ein Kind hat eine sehr geringe individuale agency, aber wenn wir Millionen von Kindern auf der Straße haben, dann haben sie zusammen eine sehr große“, sagt Ilona Otto. Das sei bisher noch kaum erforscht, ebenso wenig wie Konsument*innenboykotts, oder deren Gegenteil, die so genannten Carrotmobs, zu denen sich Kund*innen verabreden, um klimafreundliche Geschäfte zu unterstützen. Und so weist auch Ilona M. Otto darauf hin, dass die Liste der sechs sozialen Kippelemente keinesfalls der Weisheit letzter Schluss sei. Seit der Veröffentlichung der Studie im Februar 2020 ist viel passiert, was uns die Welt heute mit anderen Augen sehen lässt.

Ilona M. Otto erinnert sich an Rückmeldungen auf den Fragebogen, den sie und ihr Team zu Beginn der Forschungen 2016 verschickt hatten: „Manche der Expert*innen hatten damals Gesundheit als negatives Kippelement gesehen, dass zum Beispiel die Hälfte der Bevölkerung durch ein Virus sterben könnte.“ So wenig, wie wir uns damals die Covid-19-Pandemie vorstellen konnten, so wenig haben wir noch bis vor einigen Monaten mit dem russischen Vernichtungsfeldzug in der Ukraine gerechnet, der einen weiteren Makel unserer Nutzung fossiler Brennstoffe offenbart hat. Ganz gleich, welches der beiden eingangs skizzierten Szenarien sich als das wahrscheinlichere erweisen wird: Es gibt sechs (und wahrscheinlich noch mehr) weitaus weniger katastrophale Hebel, um das System zu kippen. Und alle können mithelfen, sie umzulegen.
 

Prof. Dr. Ilona M. Otto ist Professorin für Gesellschaftliche Auswirkungen des Klimawandels am Wegener Center für Klima und Globalen Wandel an der Universität Graz. Sie leitet eine Forschungsgruppe, die sich auf Soziale Komplexität und Systemtransformation konzentriert. Die Gruppe verwendet neuartige theoretische Ansätze und Forschungsmethoden um soziale dynamische Prozesse zu analysieren, die Wechselwirkungen von menschlichen Gesellschaften mit der Natur und den Ökosystemdiensten in den nächsten 30 Jahren radikal umgestalten können. Früher hat sie am Potsdam Institut für Klimafolgenforschung gearbeitet.

Quelle: Universität Graz

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