Während sich rechts und links der Berliner Mauer die Blätter herbstlich färben, beginnt in der DDR die Friedliche Revolution. Ein Jahr später ist Deutschland wiedervereint. Die Fakten sind bekannt – doch wie fühlte sich der Herbst 1989 wirklich an? Über Montagsdemonstrationen und den portionierten Verkauf der Mauer an Tourist*innen.
Von der Absurdität der Schilder

Seit dem 13. August 1961 umschließt die Mauer Westberlin, manchmal trennt sie die geraden von den ungeraden Hausnummern auf der rechten und linken Straßenseite. Das Foto zeigt, wie sie die Straßen der Berliner*innen durchzieht, wie nah sie an ihre Fenster reicht und wie notgedrungen selbstverständlich sie mit ihr leben.
Die Mauer als Leinwand
| Foto: © Andreas Ludwig
Auf der anderen Seite besprühen die Westberliner*innen die Mauer, eignen sich die Grenze als Leinwand an. Ironisch kommentieren sie mit ihren Graffiti das West-Berliner Lebensgefühl – direkt auf dem grauen Beton, der die Stadt teilt.
Im Schnee liegen entlang der Mauer umgefallene, viersprachige Hinweisschilder. Sie warnen vor der Freiheit oder Gefahr, die Grenze zu übertreten. Einige Schritte weiter ist klar: Hier ist ohnehin kein Übertritt möglich. An dieser Stelle in Kreuzberg, heißt es: „You are Leaving the American Sector“. Auf der Ost-Berliner Seite zieht sich ein trostloser Sperrbezirk an der Mauer entlang, hält die eigene Bevölkerung von der „Friedensgrenze“ fern.
Revolution und Kerzen
Demonstration in Wittenberge am 15. Januar 1990
| Foto: Horst Podiebrad © wir-waren-so-frei.de
„Es waren jedenfalls nicht die fehlenden Bananen, die uns auf Straßen brachten, sondern dieses ständige Gefühl der Angst und dass man endlich mal frei seine Meinung äußern wollte“, erinnert sich Katharina Steinhäuser aus Jena.
Jeden Montag nach den Friedensgebeten in den Kirchen Ostdeutschlands wird klarer, dass diese Zahlen nicht die tatsächliche Stimmung im Land ausdrücken. Bei den Montagsdemonstrationen demonstrieren die Bürger*innen gegen das Regime. „Im ersten Moment ist die Stimmung noch angespannt und angstvoll“, beschreibt die Zeitzeugin, die selbst in Jena dabei war – schließlich wissen alle Anwesenden, wie der Staat im Zweifelsfall mit Regimekritiker*innen umgeht. Sie beschreibt dieses Gefühl als den grundlegenden Ton der DDR: ein Summen oder Grundrauschen der Angst, das über Jahre im Hintergrund läuft. „Natürlich waren wir auch mal glücklich, frisch verliebt und jung. Aber man sollte permanent Hurra schreien – und auch das konnte falsch sein. Ich erinnere mich an eine große Trostlosigkeit.“ An den Alltagssituationen und Waffen hing die „permanente, diffuse Unsicherheit und Angst, etwas falsch zu machen, rechtlos eingesperrt zu werden und dem Staat ausgeliefert zu sein.“ Katharina Steinhäuser erinnert sich an ihre erste Demonstration: „Als ich hörte, dass in Leipzig Zehntausende demonstrieren, hat es mich unheimlich ermutigt. Ich dachte: Nun kannst du auch nicht mehr an der Seite stehen. Es machte uns einfach Mut zu wissen, wie viele es schon waren.“
Es herrscht Aufbruchstimmung als sie nah aneinander stehen, loslaufen und sich gegenseitig die Kerzen anzünden. Obwohl sie von den brutalen Übergriffen auf Demonstrierende in der Vergangenheit, den Konsequenzen für ihre beruflichen Laufbahnen und das eigene Leben wissen, spüren die Demonstrierenden nicht nur Mut, sondern auch Erleichterung. Nach einer „langen Zeit der Depression“ fühlt sich jeder gemeinsame Schritt auf der Straße nach Freiheit an. „Alleine schon gegen das Regime zu demonstrieren, war eine plötzliche Veränderung, zu sagen: Jetzt geht’s los! Wir lassen es einfach nicht mehr zu, Stillschweigen über alles zu werfen, was uns belastet.“
Heimlich filmt der Journalist Siegbert Schefke mit. Sein Video wird nach Westdeutschland geschmuggelt, im Westfernsehen gesendet – und verbreitet die Nachricht der friedlichen Revolution.
Aufruf der DDR-Opposition Neues Forum
| Foto: © Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR
Wie können die Oppositionellen diese Proteste eigentlich organisieren? Jemand gibt heimlich einen Zettel weiter, ein anderer schreibt ihn eilig ab, die Worte auf den Rechenkästen sehen „unschuldig“ aus, fast wie eine Mitschrift aus dem Unterricht – tatsächlich sind sie aber zutiefst politisch. Mit diesen losen Blättern verbreitet sich der Aufruf des Neuen Forums in wenigen Tagen. Zum ersten Mal in der Geschichte der DDR wollen Oppositionelle offiziell als politische Gruppe zugelassen werden. Es sind Stunden der Positionierung – in ein paar Tagen unterschreiben tausende Bürger*innen den Aufruf.
Berlin Alexanderplatz – live im DDR-Fernsehen
Alexanderplatz-Demonstration, Berlin, 4. November 1989
| Foto: Thomas Wiesenack © wir-waren-so-frei.de
„Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen“, sagt der Schriftsteller Stefan Heym und trifft damit die Stimmung der 500.000, die am 4. November auf dem Berliner Alexanderplatz die DDR-Führung zu einer politischen Neuorientierung auffordern. Die Künstler*innen verschiedener Ost-Berliner Theater rufen zu dieser Demo auf, warten auf die Demonstrant*innen. Währenddessen stehen die Menschen dicht aneinander in den Gängen der U-Bahnen – zwischen ihren Knien: die noch eingerollten Transparente und nach unten gehaltenen Plakate. Wie schon in den Wochen zuvor in Leipzig und anderswo sind sie fantasievoll, ironisch und drücken die unterschiedlichsten politischen Forderungen nach einer Reform des Sozialismus in der DDR aus. Mit Parolen wie „Mit dem Gesicht zum Volk“ und „130000 Stasiknechte haben keine Sonderrechte“ richten sich die Demonstrierenden direkt an die DDR-Führung. Bei der ersten genehmigten regimekritischen Demonstration erobern die Bürger*innen die Straße zurück – und der Staat erlaubt diesen Akt. Freiheit und Veränderung ziehen die Menschen in ihren Bann. Mehr als 20 Redner*innen, darunter auch offizielle Vertreter der DDR-Politik, analysieren die Lage ihres Landes und stellen ihre Forderungen. Es ist ruhig: Wohl niemals hörten Demonstrant*innen in der DDR auf einer Kundgebung so aufmerksam zu.
Alexanderplatz-Demonstration am 4. November 1989 in Berlin
| Foto: Merit Schambach © wir-waren-so-frei.de
Die kritischen Gedanken klingen über den Platz hinaus bis zu den Klappsofas der Republik: Das DDR-Fernsehen sendet live, präsentiert damit die Dialogbereitschaft der Regierung. Wir wissen nicht, ob es am Ende zu diesem Dialog gekommen wäre und die DDR sich zu einem demokratischen Land entwickelt hätte, denn fünf Tage später fiel die Berliner Mauer. Die nach innen gerichtete Forderung nach Reformen stand nun unter dem Druck der offenen Grenze. Während Hunderttausende in den Westen gingen, löste sich die DDR gleichsam von innen auf.
Demonstration in Berlin am 4. November 1989
| Foto: Hubert Link © Bundesarchiv / Wikimedia
Wie bewusst sie sich dem politischen und historischen Wert ihrer Handlungen sind, zeigt ein Kreis inmitten der Menschenmenge: Sie sammeln am Ende der Kundgebung die Plakate ein und legen sie schließlich vor dem Museum für Deutsche Geschichte ab, dem offiziellen Geschichtsmuseum der DDR.
Das gilt ab sofort
„Ich habe bis zum Schluss nicht daran geglaubt, dass die Mauer sich öffnen wird“, erinnert sich Katharina Steinhäuser. „Einmal haben uns Freunde aus Bonn besucht. Als wir dann am Bahnhof standen, sagte meine kleine Tochter „Beim nächsten Mal fahren wir dann aber auch mal hin und besuchen die“, ich habe geantwortet „Das wird niemals sein.“ Dass der Mauerfall dann kam – und auch relativ schnell kam – hätte ich nie für möglich gehalten.“ Sie erzählt, wie zentral der Wunsch nach Freiheit, nach der Möglichkeit zu reisen und frei zu sprechen war – und dass die meisten nicht das Ende, sondern eine Reform der DDR herbeisehnten.
„Ab wann gilt das?“ Es fühlt sich an, wie eine Abfrage an der Tafel in der Schule: Die Nachfragen der Journalist*innen treffen Günther Schabowski scheinbar überraschend, er antwortet unbeholfen, hofft vielleicht sogar, dass ihm jemand etwas zuflüstert, nachdem er die neue Reiseregelung verkündet hat. „Das tritt nach meiner Kenntnis – ist das sofort, unverzüglich“. Aus Versehen erklärt der Berliner SED-Chef damit den sofortigen Mauerfall, einige Minuten später verbreitet die Tagesschau, dass die Grenze offen ist!
„Wir fluten jetzt“, berichtet der zuständige Kommandant der Grenzkontrolle an der Bornholmer Straße um 23:30 Uhr und öffnet als erster vollständig den Übergang – die Stempel ruhen, die Leute strömen über die Grenze. „Das war nur Befreiungsgefühl – dieser Jubel – das kann man fast nicht vergessen haben. Ich habe immer noch Gänsehaut, wenn ich daran denke und die Bilder von damals im Fernsehen sehe“, erinnert sich die Zeitzeugin.


Der erste Tag „drüben“




Wie die Mauer zum Material wurde

Jahrelang ist die Mauer für beide Seiten der Stadt ein reales Bauwerk, das die Straßenbahnschienen abschnitt, Möglichkeiten, Beziehungen und Wege begrenzte. Gleichzeitig war die Mauer aber auch ein Symbol für den Kalten Krieg, das Entweder-Oder der Zugehörigkeit zu den politischen Blöcken – wechselweise der reaktionären Politik des Konsums oder der sozialistischen Unfreiheit. Sie symbolisierte eine Ordnung, die keine Zwischentöne zulässt und den Bürger*innen auf beiden Seiten die eigene Machtlosigkeit präsentiert. An diesen Novembertagen befreien sie sich auch körperlich.


Die portionierte Grenze


November 2019