Relotius-Skandal  Von wegen: Schreiben, was ist.

Foto von Martin Nejezchleba.
Reporter Martin Nejezchleba: „Der Skandal um Relotius ist nicht das Ende der Reportage.“ Foto: © Reto Klar

Der Skandal um die gefälschten Reportagen von Claas Relotius hat den deutschen Journalismus erschüttert. Unseren Autor auch. Trotzdem sagt er: wir brauchen mehr Reportagen. Nur besser sollten sie sein.

Ich fange mal mit dem klassischen Reportage-Einstieg an: mit einer Szene. Denn knapp zwei Monate nachdem der Skandal um den Spiegel-Reporter Claas Relotius platzte, denke ich: wir brauchen nicht weniger Reportagen, wir brauchen bessere Reportagen – und mehr davon. Also so:

Als der Hauptgewinner die Bühne betritt, ist das Publikum müde. Es war eine lange Preisnacht am 3. Dezember 2018 im Tipi am Kanzleramt. Viele Lobesreden, viel Applaus, zu wenig Häppchen. Eine Laudatio noch. Auf Claas Relotius, Gewinner des Reporterpreises. Sein Text Ein Kinderspiel sei „von beispielloser Leichtigkeit, Dichte und Relevanz“, heißt es. Seine Reportage über einen syrischen Jungen, der in dem schrecklichen Glauben lebt, durch ein Graffiti den Bürgerkrieg ausgelöst zu haben, sei ein Text, „der nie offenlässt, auf welchen Quellen er basiert.“

Nur ist er zum Teil frei erfunden. Aber das weiß zu diesem Zeitpunkt vielleicht nur Relotius. Er gewinnt den Deutschen Reporterpreis an diesem Abend zum vierten Mal.

Wie konnte ein einziger Reporter so viele tolle Geschichten recherchieren?

Der Moderator versucht es mit Humor, um Publikum und Nominierte, zu denen auch ich zähle, bei Laune zu halten. Er fragt Relotius, ob es langsam langweilige Routine für ihn sei, all diese Preise entgegen zu nehmen. Relotius bügelt den Moderator ab, sagt, sein Text sei zu ernst für Witzchen und bedankt sich bei dem syrischen Jungen für sein Vertrauen.

Ziemlich steifer Auftritt, dachte ich damals – aber ehrenhaft. Den Gewinnertext kannte ich nicht. Andere Relotius-Reportagen habe ich verschlungen. Das Porträt des Guantanamo-Häftlings, der nach Jahren so gebrochen ist, dass er sein Gefängnis nicht mehr verlassen will. Die geflüchteten syrischen Waisenkinder, die als Arbeitssklaven in türkischen Nähwerkstätten und auf dem Schrottplatz malochen. Ich war Relotius auf den Leim gegangen, war begeistert von dieser Gabe, die ganz großen Menschheitsthemen in ergreifend menschlichen Geschichten zu erzählen. Und ich war ein wenig neidisch. Wie konnte ein einziger Reporter nur eine Wahnsinns-Geschichte nach der anderen recherchieren?

Die Krise ist Wasser auf die Mühlen der Lügenpresse-Schreier

Zwei Wochen später flog der ganze Schwindel auf. Relotius hatte über Jahre Reportagen mit ausgedachten Zitaten und Szenen frisiert, er hat mit echten Menschen und wahren Tragödien Gott gespielt, sie wie Versatzstücke für fiktive Kurzgeschichten verwendet, mit frei erfundenen Passagen zur vermeintlich perfekten Reportage verwoben. Andere hat er anscheinend komplett erfunden, Zitate aus anderen Medien abgeschrieben. Einer der größten Fälscherskandale in der deutschen Journalismus-Geschichte.

Erst machte mich das traurig. Dann sauer. Später ratlos.

Traurig, weil der Skandal in eine Zeit der Finanz- und Glaubwürdigkeitskrise der Medien fällt. Die Relotius-Krise ist Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulisten und Lügenpresse-Schreier.

Sauer wegen dieses – im Rückblick wirkt es so – verlogenen Auftritts beim Reporterpreis. Und weil Relotius alles hatte, und ihm das nicht genug war. Er hatte ja wirklich Kontakt mit einem syrischen Jungen, der glaubte den Krieg ausgelöst zu haben, er konnte ihm wochenlang im Nahen Osten hinterher recherchieren. Aber die Wahrheit war ihm nicht packend genug.

Alle gingen sich gegenseitig an die Gurgel

Ratlos machten mich die Reaktionen vieler Journalisten, die angesichts der Misere gar nicht daran dachten, Demut zu zeigen und über strukturelle Probleme nachzudenken. Wie konnte sich das angeblich härteste Fact-Checking-Team des deutschen Journalismus, die Spiegel-Dokumentation, derart vorführen lassen? Wie anfällig sind erst Redaktionen, in denen es ein Fact-Checking gar nicht gibt? Wie weiter Reportagen schreiben, wenn das Entscheidende, was ihr Bedeutung und Kraft verleiht, in Frage steht: die Wahrhaftigkeit der Erzählung.

Manche dieser Fragen wurden angesprochen. Aber vor allem gingen sich alle gegenseitig an die Gurgel. Der Ressortleiter und Förderer von Relotius, Ullrich Fichtner, genügte sich damit, seinen Schützling in einer brillant geschriebenen Abrechnung als genialen Blender zu enttarnen. Die BILD-Zeitung schwang sich als Hüterin der journalistischen Wahrheit auf, stürzte sich genüsslich auf den verhassten Spiegel. Nachrichtenjournalisten ließen ihrem alten Misstrauen gegen die „Edelfedern“ und „Schönschreiber“ freien Lauf.

Die Reportage wurde verteufelt, Reporterpreise wurden verteufelt, Journalistenschulen wurden verteufelt – denn das dort gelehrte Storytelling, also das Anwenden literarischer Mittel im Journalismus, sei die Quelle aller Relotiaden.

Krasser Einzelfall und Produkt struktureller Probleme zugleich

Zugegeben: Das alles traf mich auch persönlich. Denn ja, ich habe ein Storytelling-Seminar an einer Journalistenschule besucht. Ja, meine Texte wurden bei Reporterpreisen nominiert. Ja, ich liebe es, Reportagen zu schreiben. Aber ich finde man sollte den Relotius-Skandal als das betrachten, was er ist. Ein krasser Einzelfall – und doch ein Produkt struktureller Probleme. Also der Reihe nach.

Lernen Reporter an Journalistenschulen, dass die Story wichtiger ist als die Wahrheit?

Ich habe zwei Jahre lang an der EJS Berlin gelernt. Natürlich wurde mir dort beigebracht, was guter Schreibstil ist. Und wie man eine Reportage so aufbaut, dass sie den Leser in ihren Bann zieht. Und im Nachhinein sage ich: Ich hätte lieber mehr investigative Recherche gelernt, auf das ein oder andere Stilseminar verzichtet. Aber wenn ich etwas wirklich gelernt habe, dann das: Spannender Journalismus hat ziemlich wenig mit schreiberischem Talent und schönen Sätzen zu tun.

Gute Reporter quälen sich für gute Geschichten. Sie recherchieren monatelang, sie erschließen sich das Vertrauen ihrer Protagonisten, sie schlagen sich Nächte auf der Suche nach entscheidenden Szenen um die Ohren – oft vergeblich. Wenn alles gut läuft, haben sie irgendwann Blöcke voller Rohmaterial und neuem Wissen über die Welt da draußen.

Ist die Reportage an allem schuld?

Was dann folgt ist keine Kunst – sondern Handwerk. Es geht darum, den unübersichtlichen (und viel zu oft unleserlichen) Wust an Notizen zu einem Text zu organisieren. Und zwar so, dass man an den richtigen Stellen die Spannung hochhält, um die Menschen dazu zu bringen, auch die komplexen Sachverhalte hinter der Geschichte verstehen zu wollen. Hier entwickelt die Reportage ihre Wucht und kann genau das, wofür sich Claas Relotius scheinbar zu schade war. Erzählen, was am spannendsten ist: die Wirklichkeit.

Das führt zur zweiten Frage: Verdammt der Zwang zur Story, dazu, die Erzählung über die Wahrheit zu stellen? Ist die Reportage an allem schuld?

Sehr anschaulich lässt sich das an Relotius’ Reportage In einer kleinen Stadt beantworten. Der Spiegel hat Relotius für fünf Wochen dorthin geschickt, wo Trump 2016 die Wahl gewonnen hat – in Fergus Falls, eine Kleinstadt im Mittleren Westen. Der Auftrag: Der Reporter sollte erkunden, wer diese Menschen sind, die America First, die Mauer und all den Hass gewählt haben. Nur war die Wirklichkeit in Minnesota komplexer, als sie von Hamburg aus schien.

Hat Relotius womöglich nur geliefert, was sich die Redaktion gewünscht hat?

Statt sich der Komplexität zu stellen, hat Relotius die Stadt den Erwartungen angepasst. Seinen eigenen, denen seiner Redaktion – womöglich auch jenen seiner Leser. Er hat die Stadt in seiner Reportage in die Mitte eines dunklen Waldes verpflanzt, obwohl sie höchstens von ein paar Bäumen umgeben ist. Er hat ein Schild vor den Ortseingang fantasiert, auf dem „Mexicans Keep Out“ steht, reelle und ziemlich interessante Menschen zu Karikaturen der abgehängten, amerikanischen Hillbillies gemacht.

Zwei jener Menschen, die Relotius in Fergus Falls ausgeblendet hat, haben die Fiktion über ihre Stadt im Spiegel gelesen – und die Arbeit der Fact-Checker aus der Hamburger-Dokumentation übernommen. Sie haben akribisch aufgezählt, wo Relotius die Wahrheit in Fergus Falls in die deutschen Vorstellungen des Trumpismus gepresst hat, wie er ein ziemlich normales Städtchen in die Hochburg der dumpfen weißen Männer umgeformt hat.

Das ist keine Entschuldigung für das Versagen des Reporters Relotius. Aber: Wenn Laien bei der aufmerksamen Lektüre faktische Fehler entdecken – wie etwa das von Relotius hochgeschraubte Wahlergebnis für Trump – hat dann die Dokumentation nicht auch versagt? Hat Relotius womöglich nur geliefert, was sich seine Redaktion gewünscht hat?

Zeitgemäße Reportagen lassen Zweifel zu

Wenn wir über die Fallstricke der Reportage sprechen, dann sollten wir auch über den Einfluss von Redaktionen sprechen. Denn oft werden im Büro Thesen – wie die über den Abstieg des Mittleren Westens, der zu Wut und schließlich zu Trump geführt hat – vorformuliert. Dann wird ein Reporter losgeschickt, der Belege dafür finden soll.

Wenn er aber keine Belege findet, oder sein Material die vorformulierte These gar widerlegt, kostet es den Reporter Kraft, seiner Redaktion so etwas wieder auszureden. Und Relotius hat es gar nicht erst versucht. Im Gegenteil, er hat alles dafür getan, damit sich in seinen Texten die Vorurteile der Redaktion und der Leser widerspiegeln. Das hat sich am besten verkauft.

Der Skandal um Relotius ist nicht das Ende der Reportage. Er ist das Ende einer bestimmten Form der Reportage – und die war sowieso auf dem Rückzug. Jene allwissende Erzählung, die keine Zweifel zulässt. In der klassischen Spiegel-Reportage löst sich der subjektive Beobachter und Analytiker, der ein Reporter immer bleiben wird, in einen allwissenden Erzähler auf. Verschwindet hinter der vermeintlichen Objektivität der Geschichte.

Im Endeffekt ist diese Form der Reportage die Textwerdung des Spiegel-Mottos: „Schreiben, was ist.“ Gemessen daran ist jeder Text zum Scheitern verurteilt. Denn ein Reporter kann immer nur „Schreiben, was er sieht“. Und versuchen, sich damit so gut er das kann der Wahrheit anzunähern. Diese Unvollkommenheit sollte er so transparent wie möglich machen.

Zeitgemäße Reportagen lassen Zweifel zu, sie brechen immer wieder dann mit den Erwartungen des Lesers, wenn der glaubt, die Geschichte verstanden zu haben. Sie können auch die Zweifel des Autors transportieren. In einer guten Reportage über Fergus Falls hätte Relotius seine Leser mit auf seine eigene Reise genommen, auf der die Wirklichkeit vorgefertigte Meinungen durchkreuzt und des Unerwartete in das Erwartbare einbricht.

Wenn junge Reporter aufsteigen wollen, müssen sie sich bemerkbar machen

Und die Reporterpreise? Zugegeben: diese Preisverleihungen haben etwas Absurdes, sind Stunden der Selbstbeweihräucherung. Und leider werden sie allzu oft im gleichen Dunstkreis von privilegierten Star-Reportern aus zwei, drei deutschen Medienhäusern hin und her gereicht.

Aber der Vorwurf lautete ja: um Preise zu gewinnen, würden Reporter die Wahrheit zu ihren Storys zurechtzimmern. Ich kenne eine Menge Reporter, die Preise gewinnen wollen. Aber keine, die Texte eigens für Preisverleihungen schreiben.

Für viele Kollegen sind Preisverleihungen eine wichtige Plattform. Es gibt immer weniger Stellen im Journalismus – und die sind meist in fester Hand. Wenn junge Journalisten aufsteigen wollen, müssen sie auf sich aufmerksam machen. Preise sollten eine Anerkennung für den Fleiß, die Ausdauer und Relevanz sein, die hinter einem Text stecken; für Reporter, die trotz schlechter Bezahlung großen Aufwand dafür betrieben, um zu schreiben, was sie sehen.

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