Sichtbare Musik  Die Rampensau

Portrait Foto von Laura Schwengber Foto: © Barbara Landsee

Es heißt „Musik hören“. Die Gebärdendolmetscherin Laura Schwengber zeigt: Musik kann man auch sichtbar machen, für die, die nicht hören.

Laura Schwengber steht auf der Bühne und winkt. Regen prasselt auf die Oberlichter, es donnert. Gemurmel erfüllt den Saal, gleich geht das Konzert los. Laura Schwengber formt jetzt mit den Zeigefingern ein Herz vor der Brust und bewegt dann ihre Hände, als würde sie einen Teller zu sich ziehen. „Hallo, herzlich Willkommen“, hat sie gerade gesagt. Sie spricht die Deutsche Gebärdensprache.

Die Dolmetscherin ist groß, ihre Bewegungen sind präzise. Sie trägt ein kurzärmliges schwarzes Kleid, schwarze Leggins, bunte Turnschuhe. Vor der dunklen Kleidung heben sich die durchtrainierten Hände ab. Die blonden Haare sind streichholzkurz, die Lippen rot nachgefahren. Nichts lenkt ab. Hinter ihr auf der Bühne sitzt die Band Blind Foundation: Schlagzeuger, Gitarrist, Bassist, Keyboarder. Der blinde Schlagzeuger schlägt den Takt, Laura Schwengber bewegt ihre Hände, ihre Arme zucken im Rhythmus. Sie winkt das Publikum heran, schwingt ein imaginäres Lasso, zeichnet mit den Händen eine weite Fläche vor sich. „Komm mit ins Abenteuerland“, singt der Sänger.

Schmerzverzerrtes Gesicht, Laura Schwengber wiegt ihren Oberkörper hin und her, mit der rechten Hand imitiert sie Zupfen: Gitarrensolo. Sie übersetzt nicht nur den Text, sondern auch die Musik. Stimmung, Stil und Geschwindigkeit wechseln von Lied zu Lied. Sechs Ebenen hat sie, um das, was andere hören, zu übersetzen. Offensichtlich sind die Hände und die Mimik. Aber auch Kopfstellung, Oberkörperhaltung, Mundbild und Blickrichtung lässt sie geschmeidig zusammenspielen.
 

Konzertdolmetscher geben ihre Gefühle preis

80.000 Gehörlose leben in Deutschland, so der Deutsche Gehörlosenbund. Rund 70 Prozent verständigen sich in Gebärdensprache. Laura Schwengber räumt gleich ein paar Mythen aus der Welt. Lippenlesen: Mehr als die Hälfte kann man da nur raten, zu ähnlich sehen manche Mundbilder aus. „Probieren Sie mal: Mir. Bier.“ Gebärden sind deutlicher, und man unterhält sich auf einer Ebene. Gebärdensprache: Das sind nicht alles selbsterklärende Zeichen, nur 30 Prozent sind ikonisch, wie Haus, schlafen und essen. Den Rest muss man lernen.

Das Publikum muss jetzt selbst ran. Hakuna Matata lernen, nicht den Text, sondern die Gebärden. Laura Schwengber macht die Bewegungen einmal vor. „Und jetzt Sie!“. Bis auf zwei ältere Damen in der ersten Reihe sind die Besucherinnen und Besucher etwas überfordert. Gucken auf Laura Schwengbers Hände, versuchen die Gesten nachzumachen, scheitern an den schnellen Wechseln. Aber nach ein paar Minuten wird es ganz still im Saal. Und dann beginnt die Musik, und fast alle singen mit – in Deutscher Gebärdensprache.

Die Berlinerin ist an diesem schwülwarmen Sommerabend im August nach Eppstein im Taunus gekommen, um aufzuklären. „Gebärdensprache ist toll! Wir verpassen was, wenn wir sie nicht können“, sagt sie und erzählt von ihrem Freund Edi. Weil er ertaubte, lernte Laura Gebärdensprache und studierte dann in Magdeburg und Berlin, um Dolmetscherin zu werden. Weil sie früher eigentlich Musikerin werden wollte, fing sie an beides zu kombinieren. „Man muss schon eine Rampensau sein für das Konzertdolmetschen“, sagt sie. Sie gebe viel von sich preis, Emotionen, Interpretationen. Das sei anders als reines Simultanübersetzen im Bundestag, einer Uni-Vorlesung oder einer Vereinssitzung. „Am liebsten übersetze ich Pop-Musik mit Inhalt“, sagt sie und lacht. Wer Gebärdensprache lernt, sucht sich eine Gebärde aus, die dann der Name ist. Mit dem Rufnamen muss die nicht unbedingt zusammenhängen. Laura Schwengbers Gebärdenname ist Programm: Daumen und Zeigefinger bilden ein L und werden vom Kinn nach vorne geführt. Lachen bedeutet die Geste. Und der Nachname? Die Gebärde für Teddybär.
Foto von Laura Schwengber auf der Bühne. „Und jetzt Sie!“ Laura Schwengber macht die Bewegungen vor. Dann muss das Publikum in Eppstein selbst ran: „Hakuna Matata“ lernen. | Foto: © Birte Mensing

Gebärden sind wie ein weiteres Musikinstrument

Jede Schule in Deutschland hat ihre etwas eigene Version der Deutschen Gebärdensprache, erklärt die Berlinerin zwischen den Liedern. Es gibt Dialekte, so wie in der gesprochenen Sprache auch.

Egal ob beim Oben ohne Festival in München mit den Orsons rappen, das Filmorchester Babelsberg in Potsdam begleiten oder die Band Blind Foundation im Taunus – Laura Schwengber ist froh, wenn das Publikum ihr eine Chance gibt. Sie ist nicht nur für die tauben Menschen da, sie ist wie ein weiteres Instrument, eine zusätzliche Ebene der Musik. Sie erzählt eigene Geschichten. Die Band spielt ein Instrumentalstück von Duke Ellington. Laura Schwengber schließt die Augen, guckt dann als würde sie jemand kitzeln und spinnt eine Geschichte: Ein Mann geht zum Bahnhof, kauft ein Ticket, steigt ein. Auf seinem Platz sitzt schon jemand. Sie streiten kurz. Dann merkt der Mann, dass er sein Ticket für den falschen Tag gelöst hat und steigt wieder aus. Meist kennt sie die Lieder, die sie übersetzt vorher. Heute hat die Band spontan ein paar Songs geändert, sie passt sich an.

Hiltrude Morr, 76, und Ursula Weber, 69, sind heute zum ersten Mal bei einem Konzert. Die beiden Damen sind von Geburt an taub. Sie sind begeistert. „Die Dolmetscherin hat gute Stimmung verbreitet und sehr gut gebärdet“, schreibt Hiltrude auf einen Block. Die Frauen sind aus Frankfurt gekommen. Nach dem Konzert machen sie ein Foto mit Laura Schwengber. Sie ist ein Promi in der Szene. Momentan ist sie eine der wenigen, vielleicht die einzige, die nicht nur Text übersetzt, sondern die Musik überträgt, erfahrbar macht für Menschen, die nicht hören. Für den Norddeutschen Rundfunk hat sie dieses Jahr den Eurovision Song Contest gedolmetscht. Deutschland war das einzige Land, in dem Taube nicht nur sehen, sondern auch „hören“ konnten.

Als Zugabe begleitet Laura Schwengber noch With a little help from my friends von den Beatles, verausgabt sich: springt, bewegt sich ausladend. Erschöpft sitzt sie danach auf einem Stuhl, trinkt einen Schluck Wasser. „Jetzt geht es noch, morgen früh wird es schlimm“, sagt sie. Dann sind die Arme lahm, sie fühlt sich ausgelaugt, wenn sie wieder im Zug sitzt, unterwegs an einen anderen Ort in Deutschland. Gäbe es mehr wie sie, müsste sie weniger reisen. Hessen macht ihr Hoffnung. Denn dort können Schüler ab nächstem Jahr auch an Regelschulen Gebärdensprache als Wahlfach belegen.

Einblick in Laura Schwengbers Arbeit gibt ein Dossier des Hessischen Rundfunks, ausgezeichnet mit dem Grimme Online Award.

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