Seltener genetischer Defekt  Das Musik-Syndrom

Ein Mädchen im karierten Hemd sitzt am Klavier. Foto: © Jakob Härter, CC BY-SA 2.0

Kinder mit Williams-Beuren-Syndrom sind eingeschränkt in ihrer Entwicklung und Motorik. Der seltene genetische Defekt sorgt aber auch dafür, dass sie oft überdurchschnittlich musikalisch sind. So wie Lea.

Lea liebt Musik. Am liebsten hört sie sie mit aufgedrehten Boxen in ihrem Zimmer. Sie spielt auch Klavier, singt gerne. Die 16-Jährige hat aber auch Angst vor Geräuschen. Wenn sie einen Luftballon sieht, will sie schnell wieder weg – nicht, dass er platzt und es laut knallt. Ähnlich schlimm: die Böller an Silvester. Und Motorräder, allgemein der Verkehr. Lea mag Berlin nicht, da ist ihr alles zu laut. In ihrem Heimatdorf in Brandenburg ist es zum Glück ruhiger.

Lea hat das Williams-Beuren-Syndrom. Das heißt, bei ihr fehlt ein Stück auf dem siebten Chromosom. In Deutschland sind zwischen 1.600 und 8.200 Menschen von dem Syndrom betroffen. Zum Vergleich: Mit dem Down-Syndrom leben etwa 30.000 bis 50.000 Menschen in Deutschland.

Ähnlich wie beim Down-Syndrom ist auch beim Williams-Beuren-Syndrom die Bandbreite groß. Manche Kinder können sehr selbstständig leben, andere brauchen viel Hilfe. Kinder mit Williams-Beuren-Syndrom sind in der Regel weniger intelligent als der Durchschnitt, sie entwickeln sich langsamer. Lea konnte zum Beispiel erst mit drei Jahren laufen.

Alle Melodien im Kopf

Viele Betroffene sind geräuschempfindlich, aber auch außergewöhnlich musikalisch. Manche haben sogar ein absolutes Gehör – wahrscheinlich auch Lea. Dass Lea besonders musikalisch ist, haben ihre Eltern gemerkt, als sie vor vier, fünf Jahren in der Adventszeit mit einem Kinderkeyboard gespielt hat. Dort waren viele Lieder voreingestellt, man konnte auf einen Knopf drücken und sie abspielen. Die Eltern dachten, Lea hört sich diese voreingestellten Lieder an. Lea spielte die Lieder aber selbst – nach Gehör. Mit einer Betreuerin hat sie dann zum ersten Mal richtig Keyboard gespielt, den Flohwalzer rauf und runter, mit bunten, aufgeklebten Punkten auf den Tasten. Jetzt steht im Wohnzimmer der Familie ein Klavier. Notenblätter gibt es nicht.

Lea spielt Hallelujah von Leonard Cohen vor. „Das mag ich ganz doll gerne – ich liebe das Lied!“, sagt sie begeistert. Zuerst ist sie ein bisschen aufgeregt, aber sie spielt gerne vor, trifft alle Töne. Im Anschluss noch Tabaluga, Lea hat alle Melodien mit den Begleitungen im Kopf. Sie ist die Einzige in der Familie, die musikbegabt ist. Einen geeigneten Musiklehrer zu finden, sei schwer, erklärt die Mutter. Lea kann zwar inzwischen ein paar Noten lesen, aber eigentlich macht ihr das nicht so viel Spaß. Sie will keine typischen Klavierunterrichtlieder spielen, sondern das, was ihr gefällt.

Gerade hört sie die Hermes House Band, aber auch griechische Volkslieder stehen auf ihrer Favoritenliste. Ein anderer Lieblingskünstler: der südkoreanische Pianist Yiruma, dessen bekanntestes Lied River Flows in You ist. Lea würde gerne etwas von Yiruma nachspielen. Die Melodie kriegt sie auch gut hin alleine, aber bei der Begleitung mit der zweiten Hand bräuchte sie jemanden, der Stück für Stück mit ihr übt. Ihre Musiklehrerin kann das nicht – sie ist sehr auf Noten fixiert, auch wenn sie sich bisher gut auf Lea einlassen konnte.
Foto von klavierspielenden Kinderhänden. Leas Hände sehen verkrampft aus, wenn sie die Klaviertasten drücken. Die Koordination der beiden Hände funktioniert dagegen sehr gut. | Foto: © Christina Spitzmüller

Musikalisch dank Besonderheit im Gehirn

Einen anderen Musiklehrer zu finden, der selbst nach Gehör spielt oder Erfahrung mit Williams-Beuren-Kindern hat, ist auf dem Land in Brandenburg schwer. Lea spielt die Stücke, die sie hört, nach, probiert sie in tausend verschiedenen Versionen aus, sie macht die Lieder zu ihren eigenen. „Im Prinzip spielt sie nicht falsch, aber halt nicht immer so, wie es auf dem Notenzettel steht“, erklärt Leas Mama.

Leas Hände sehen verkrampft aus, wenn sie die Klaviertasten drücken. Menschen mit Williams-Beuren-Syndrom sind motorisch oft eingeschränkt. Die klassische Klavierhaltung, auf die im Musikunterricht eigentlich viel Wert gelegt wird, kann Lea nicht einnehmen. Die Koordination der beiden Hände funktioniert dagegen sehr gut.

In Leas Ohren stecken kleine Notenschlüssel. Auch an ihrer Kette hängt ein Notenschlüssel mit drei glitzernden Steinchen. Lea ist klein und zierlich, ihre Haare sind dunkel und sehr lockig – typisch für Kinder mit dem Syndrom. „Sie sehen sich untereinander ähnlicher als ihren Geschwistern“, erklärt Leas Mama. Auch typisch: eher kleine Zähne, die weit auseinander stehen.

Lea erzählt gerne und viel. Sie freut sich, wenn man sich für sie interessiert. Kinder mit dem Williams-Beuren-Syndrom sind in der Regel sehr kontaktfreudig, kennen keine Distanz, sind sehr offen, auch Fremden gegenüber. Lea kann sich gut an Gesichter erinnern, an Namen, an Menschen, die sie mag. Abschiede fallen ihr oft schwer. Sie wird dann emotional, fängt an zu weinen.

Die Forschung über das Williams-Beuren-Syndrom ist noch sehr jung, auch, weil es so selten auftritt. Was inzwischen bekannt ist: Die besondere Musikalität von einigen Betroffenen liegt an einer Besonderheit im Gehirn. Die Hirnbereiche, die sich bei Berufsmusikern nach und nach vergrößern, sind bei den besonders musikalischen Menschen mit dem Syndrom von Anfang an besonders ausgeprägt.

Die Aufmerksamkeitsspanne steigt mit Musik

Leas Familie lebt kurz vor der polnischen Grenze, ein Bus fährt nur alle paar Stunden ins Dorf. Jeden Freitagnachmittag bringt Leas Mutter sie zum Musikunterricht. Eine Stunde lang spielt Lea dort Klavier. „Sonst ist ihre Aufmerksamkeitsspanne so bei 20 Minuten, da haben wir uns hingearbeitet“, sagt Leas Mutter. Aber wenn es um Musik geht, kann Lea sich länger konzentrieren. Vor ihr hat ein Kind Blockflötenunterricht, die Töne sind manchmal krumm und schief. Das mag Lea nicht. Vor allem bei den hohen Tönen, die nicht sauber gespielt werden. Da hält sie sich die Ohren zu oder geht lieber weg.

Lea kann sich Melodien schnell merken, hat sie im Kopf und kann sie jederzeit wieder abrufen. Sie darf in ihrer Schule, einer Förderschule mit Sonderförderung für geistige Entwicklung, bei der Einschulung spielen. In diesem Jahr hat sie Tabaluga und Komm, lieber Mai, und mache gespielt, vor allen Kindern, auf dem großen Flügel. Das macht ihr Spaß. Sonst findet sie die Schule eher anstrengend, wie alle Teenager. Was ihr dort Spaß macht? „Deutsch! Lesen, schreiben...“ Mathe funktioniert nicht so gut. Das hat mit dem Syndrom zu tun. Das räumliche Vorstellungsvermögen fehlt, auch logisches Denken fällt Menschen mit Williams-Beuren-Syndrom schwer.

Im April war Lea beim David Garret Konzert in Berlin. Ihre Mutter hat sich vorher informiert, ob es auch nicht zu laut wird – keine Showeffekte mit lauten Knalls. Als Garret Purple Rain gespielt hat, hat Lea geweint. „Es war sehr schön“, sagt sie mit Nachdruck.

Das Williams-Beuren-Syndrom (WBS)

Das Williams-Beuren-Syndrom ist eine seltene Behinderung, die erst seit den 1960er Jahren bekannt ist. Pro Jahr werden in Deutschland nur etwa 15 bis 75 Kinder mit dem Syndrom geboren. Ursache ist eine Verkürzung des siebten Chromosoms. Die Genveränderung entsteht spontan während der Bildung der Keimzellen, vor der Geburt wird sie in der Regel nicht festgestellt.

Kinder mit dem Syndrom entwickeln sich langsamer als der Durchschnitt, sind meist sehr geräuschempfindlich und sogenannte „Schreikinder“. Sie haben Probleme, von Brei zu fester Nahrung überzugehen.

WBS-Betroffene sind meist sehr sprachgewandt, freundlich und kontaktfreudig, können sich gut einfühlen, sich sehr gut an Personen und Orte erinnern. Viele sind außerdem außergewöhnlich musikalisch. Räumliches und logisches Denken fällt ihnen jedoch schwer.

Betroffene Familien haben sich in Deutschland zum Bundesverband Williams-Beuren-Syndrom zusammengeschlossen. Auf ihrer Internetseite w-b-s.de gibt es weitere Informationen zum Syndrom.

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