Soziale Berufe & Psychohygiene  Müde, so müde

Mangel Foto: Sharon McCutcheon via unsplash | CC0 1.0

Wie verhalten sich die, die beruflich andere versorgen, zu Hause? Manchmal ist auch des Schmiedes Pferd unbeschlagen, heißt es im Sprichwort. Auf Adas Mutter, eine Krankenschwester, trifft das wohl zu. Ada ist die Protagonistin in Bernardeta Babákovás Kurzgeschichte.

Ada kann den schwachen Geruch von Desinfektionsmitteln riechen, der vom Linoleum des Wartezimmers herüberweht. Ada schließt die Augen. Es ist ein sehr subtiler, aber dennoch sehr vertrauter Geruchseindruck. Ada ist müde, so müde, dass sie ihren halb geöffneten Augen erlaubt, sich ganz zu schließen. Während das Chlor in ihrer Nase kitzelt, durchdringt eine Schwere ihre Glieder und auch ihre Augenlider werden schwer. Irgendwo im Hintergrund ist ein Geräusch zu hören, irgendetwas zwischen einem Schmatzen und einem Klatschen. Das einzigartige und vertraute Geräusch von Hausschuhen mit Lederschnallen und dicken weißen Gummisohlen, die sich im Takt eines energischen Gangs vom Boden lösen und wieder auf ihn treffen.

Klatsch, klatsch.

Ada ist sich nicht sicher, ob sich die Schritte nähern oder entfernen. Sie öffnet ihre Augen nicht. Das ist nicht nötig. Denn sie weiß genau, wie die Pantoffeln aussehen, die einzigen auf der Welt, die dieses Geräusch machen können. Zu ihnen gehören dicke, leicht heruntergekrempelte Kniestrümpfe aus weißem Frottee. Dieselben hingen zu Hause immer paarweise auf dem Wäscheständer, und Adas kleine Hände griffen nach ihrem Saum, als sie ihre Mutter um nichts in der Welt zur Nachtschicht gehen lassen wollte. Wie oft kam es vor, dass Ada mit einer Socke in den feuchten Fäusten im Flur stand, während Mama nur halb beschuht zur Bushaltestelle lief, über die Schulter mit der Handtasche rief sie zum Abschied, das könnte nicht mal ein Heiliger ertragen.

Ihre abgenutzten und vergilbten Kniestrümpfe hat Mama immer zerschnitten. Den löchrigen und ausgefransten Stoff warf sie weg und aus dem Teil, der die Wade knapp unterhalb des Knies umschloss, machte sie Gummibänder. Immer in Paaren. Adas Haare ragen auf den Fotos aus dem Kindergarten in zwei Fontänen hoch über die Köpfe der anderen Kinder. Für die Bilder hat immer eine Nachbarin gesorgt, die Oma von Terina, Adas bester Freundin. Mama hat es einfach nie zu den Kindergartenvorführungen geschafft. Oft holte sie Ada nicht einmal von der Vorschule ab bevor das Gebäude abgeschlossen werden sollte. Ada wartete angezogen in der abgedunkelten Umkleidekabine, bis Mama in lila Labormontur, mit Einkäufen in der einen und einer Zigarette in der anderen Hand, herbeieilte. Glaubt nicht, dass Krankenschwestern, nur weil sie mehr über Gesundheit wissen als andere, auch gesünder leben. Adas Mutter rauchte hastig und hielt Ada auf dem Heimweg an der Kapuze ihres Mantels fest. Weil das Einatmen von Zigarettenrauch ungesund für Kinder ist, hielt Mama einen „Gesundheitsabstand“ ein und die Einkaufstüte schwang zwischen Mutter und Tochter wie der Klöppel einer Glocke.

Als Ada in die erste Klasse kam, hat Mama ihr vor dem Schlafengehen einen besonders engen Zopf mit einem weißen elastischen Sockengummi am Ende geflochten. Opa brachte sie zur Schule, weil er damals der einzige in der Familie war, der nicht mehr arbeiten gehen musste. Die Zöpfe auf Adas Kopf hielten bis zum Morgen, so fest waren die Gummibänder und Mamas Haar-Styling. Aber Adas Kopf juckte und die Kopfhaut zog am Nachmittag wie verrückt, sie hatte Schmerzen und beschwerte sich darüber bei Opa. Aber vielleicht war es auch nur das zurückgehaltene Weinen darüber, dass sie die einzige in ihrer Klasse war, deren Mama am ersten Schultag nicht bei ihr war.

Opa liebte Adas Mama. Obwohl sie rauchte. Großvater sagte, dass nur blöde Kühe rauchen, aber er ließ Mama immer außen vor, weil sie es schwer hat. Er hielt auch Papa da raus, weil beide rauchten wie die Blöden. Mama mochte Opa, denn obwohl der Krebs in ihm wuchert, beklagt er sich nicht. Aber Oma, die hat nix, die ist nur alt, hat sich ständig über irgendetwas beschwert. Mama hat ihr die Schlafzimmertür, die Badezimmertür oder die Balkontür vor der Nase zugeschlagen. Sie verdrehte die Augen, wenn ihre Großmutter trotzdem ausführlich Bericht erstattete, wie Durchfall, Verstopfung oder Rückenschmerzen sie schwächten. Heute haben wir die Niere eines Mannes entnommen. Dein Jahrgang. Also jammer nicht. Aber Oma ließ sich nicht so leicht abwimmeln, sie stellte sich nach Augenmaß mehrere ernste Diagnosen, und wenn das Mama nicht erweichte, streitete sie sich mit ihr zumindest bis aufs Blut.

Ada ist zehn, es sind Sommerferien. Die meiste Zeit langweilt sich Ada mit Opa oder besucht Terina. Terinas Mutter verkauft in der Apotheke. Terina ermahnt Ada, es nicht vor ihr laut zu sagen. Opa nennt Terinas Mutter Frau Magister. Terinas Mutter trägt weiße Hausschuhe, aber da sie in der Apotheke nur herumschlurft, klatscht es nicht auf dem Boden.

Das Gesicht ihres Vaters ist zerknautscht, weil gestern eine Grillparty war. Es ist der letzte Ferientag und Ada sieht, wie Mama kotzt. Eigentlich wollten sie zusammen mit den Fahrrädern an den See fahren, aber jetzt wünscht sich Ada, sie könnte neben ihrer stöhnenden Mutter sitzen und das Haar mit der schwarz-blauen Strähne streicheln. Als Ada nach Mamas Haar greift, bleibt es in ihren Händen. Mama ist ist aber unausstehlich, nimmt zwei Ibuprofen und eine Kohlekomprette und schickt sie mit Papa weg. Etwas mehr als sechs Monate später hat Ada eine Schwester.

Ada ist zwölf Jahre alt und hat schlimme Bauchschmerzen. Sie steht in der Küche und schämt sich. Mama bügelt. Ada öffnet ihren Mund zweimal, aber schließt ihn direkt wieder. Dann hat Ada das Gefühl, sofort duschen zu müssen. Als Mama ins Bad stürmt, sagt sie nur ganz schön früh und fängt an, den Schrank zu durchwühlen, in dem sie abgelaufene Medikamente, zerbrochenen und eingetrockneten Lippenstift und verschüttetes Haarfärbemittel aufbewahrt. Ada duscht währenddessen und versucht, eine Position einzunehmen, in der ihr nackter Körper so wenig wie möglich zu sehen ist. Mama sucht weiter in ihrer Handtasche. Vergeblich. Papa fährt Slipeinlagen kaufen.

Die abgetragenen und ausrangierten weißen Hausschuhe für den Saal trug Ada auf dem Gymnasium anstelle von Hausschuhen. Sie machten sie gut fünf Nummern größer. Die Hausschuhe schleiften auf der Treppe in die Kantine. Aber weil Terina im Gymnasium keine Pantoffeln trug und trotz der Drohungen der Lehrer ihre schwarzen Turnschuhe nicht auszog, kickte Ada nach etwa einem halben Jahr die Hausschuhe ihrer Mutter unter den Spind in der Umkleidekabine, dorthin, wo die angebissenen Pausenbrote und vergessenen Hefte lagen.

Nach der Schule hängen die meisten aus der Klasse an der Bushaltestelle, im Skatepark, vor der Schule oder im Einkaufszentrum ab. Nur Terina muss nach Hause zu ihrem Hund, der im Garten hinter ihrem schönen Haus auf sie wartet, und Ada muss in den Kindergarten, um ihre Schwester abzuholen. Die Schwester sieht genauso aus wie Ada, als sie noch so klein war, und auch der Kindergarten sieht genauso aus wie damals. Es ist dort warm und riecht seltsam. Ada flechtet morgens die Zöpfe ihrer Schwester, aber sie leiht ihr ihre eigenen Haargummis. Die weißen aus den Socken halten nicht an den feinen Haaren ihrer Schwester. Die Schwester weint, wenn Ada sie morgens weckt und versucht, Frühstück in sie hineinzustopfen, sie weint, wenn sie sie in den Kindergarten bringt, und sie weint, wenn sie sie abholt. Sie weint die ganze Zeit. Ada schleppt auf dem Rücken ihren schweren Schulranzen aus dem Gymnasium und zieht ihre weinende Schwester an der Hand. Manchmal schleppt sie auch eine Einkaufstasche, manchmal schreibt sie mit einer Hand eine SMS an Terina oder an die Jungs aus einer der höheren Klassen. Dann wieder zieht sie die weinende Schwester an der Kapuze. Einmal sah sich Ada gespiegelt in der abgedunkelten Scheibe eines Autos, das vor der Schule parkte. Sie sah genauso aus wie Mama, nur hielt sie statt der Zigarette ein Telefon.

Opa liegt. Erstmal zu Hause. Ada geht mit Papa zu ihm. Sie unterhalten sich mit ihm, bringen ihm das Mittagessen. Ada macht manchmal sauber. Sie saugt, wischt und schaltet die Waschmaschine ein, aber Opa macht sowieso fast nichts dreckig. Er trägt immer nur eine Hose, eine Weste, benutzt zum Essen nur einen Löffel, und trinkt nur aus einer Tasse. Papa sagt zu Mama „Kannst du nicht einmal mit mir kommen? Eine Krankenschwester?“ Ada berichtet Mama, was mit Opa ist. Dass seine Hüften schmerzen und seine Füße geschwollen sind, dass die Entwässerungstabletten nicht wirken. „Er muss laufen, er soll sich nicht wundern, wenn seine Füße geschwollen sind, wenn er den ganzen Tag nur rumsitzt. Wenn er zweimal die Straße rauf- und runterläuft und die Tabletten nicht vergißt, ist er in einer Woche wieder gesund. Habe ich etwa geschwollene Füße?“ Mama macht neben Ada ordentlich Tempo. Sie hat einen scharfen Gang, ist an stundenlanges Stehen gewöhnt, hat krumme Zehen und ein Geflecht blauer Krampfadern, die auf ihrer rasierten Wade trotz der Bräune deutlich hervortreten. „Solltest du damit nicht zum Arzt gehen?“ fragt Ada beim Blick auf die Krampfadern. „Das ist von euch, von den Geburten“, keift Mama Ada an, fügt dann aber hinzu, „ich habe eh keine Zeit“.

Ada hat ihren ersten Apfelkuchen gebacken und auch das Sonntagsessen gekocht. Es ist zwar nur Tomatensoße, Hörnchennudeln und Würstchen, aber Papa und ihrer Schwester schmeckt es. Mama probiert es nicht, nicht einmal ein bißchen, nicht einmal eine Kostprobe. Sie will vor der Nachtschicht schlafen, aber das geht nur mit leerem Magen, aber bevor sie in ihr Zimmer geht, schafft sie es noch, Ada anzumaulen, sie solle um Himmels willen aufhören, mit dem Geschirr so durch das ganze Haus zu klirren.

Opa liegt. Er ist jetzt im Krankenhaus. „Kannst du nicht auch einmal zu ihm gehen, du bist doch jeden Tag im selben Gebäude“, sagt Papa und schluckt die Traurigkeit mit kalten Würstchen hinunter. Ada bietet ihm an, sie wenigstens aufzuwärmen. „Das Krankenhaus ist kein Taubenschlag und die Intensivstation ist kein Hobbyraum, in den ich mal reinschauen könnte, um zu sehen, was es so Neues gibt.“ Ada füllt den Wasserkocher und fragt dann alle höflich, ob jemand Tee oder etwas anderes möchte. Mama will schon ablehnen, aber dann sieht sie Ada an und fragt „was hast du denn angestellt?“ Ada schiebt ihnen ihr Zwischenzeugnis hin, dreht sich um und rennt in ihr Zimmer. Die beiden tun ihr schon leid, weil sie sich wieder darüber streiten werden, wer nicht mit ihr gelernt hat und wer sie schlecht erzogen hat. Dann fängt die Krankenschwester an zu weinen und die Großmutter kommt herein und bittet ihre Mutter, ihr mehr B12 zu spritzen, bevor sie zur Arbeit geht. Mama schwingt sich auf und gibt Oma eine Spritze, so wie es nur ein Heiliger ertragen kann.

Klatsch, klatsch.

Schritte in weißen Hausschuhen mit Schnallen nähern sich und bleiben in einiger Entfernung von Ada stehen. Ada weiß, dass sie jetzt jemand ansprechen wird, um sie zu ermahnen, nicht im Flur zu schlafen. Ada weiß, dass es naheliegend wäre, jetzt die Augen zu öffnen und zu schauen, wer da kommt, aber sie tut es nicht. Sie verflucht sich im Geiste und beschwört die ganze Welt und das Schicksal, dass es die vertrauten, unruhigen Beine mit den schmerzhaft geschwollenen Krampfadern sind, die diese Pantoffeln und die weißen Frotteestrümpfe tragen, und dass dazu der Rest des Körpers, des Körpers ihrer Mutter gehört, der sich in diesem Augenblick neben sie setzt, ihr die Hand streichelt und ihr sagt, dass alles gut werden wird, nicht nur mit Opa, sondern im Allgemeinen, im Leben. Nur ist das Krankenhaus kein Taubenschlag, und so wird Ada in das Zimmer mit der Kaffeemaschine verbannt von einem stämmigen Pfleger, der ihr auf dem Weg dorthin noch mit dem Rollstuhl über die Füße fährt... nur um sicher zu gehen.

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