Eltern autistischer Kinder  Wieviel Liebe ist genug?

Eliška Antošová mit einem ihrer Söhne Foto: © Eliška Antošová

Eliška Antošová ist Psychologin, momentan aber vor allem Mutter von drei Kindern. Über das Leben mit zwei Autisten hat sie jahrelang einen Blog geführt. Im Dezember 2021 erschien ihr Buch „Gegen Autismus einzig und allein Autibiotika“ („Na autismus jedině autibiotika“). Kaum jemand schreibt über das Thema so authentisch und ehrlich wie Eliška Antošová. Für JÁDU gibt sie einen Einblick in das Innenleben einer Mutter zweier Autisten.

Als ich mir darüber klar wurde, dass meine Kinder autistisch sind und dazu noch ein paar weitere schwerwiegende Zusatzdiagnosen haben, dämmerte mir allmählich, dass unser Leben anders sein würde als das einer gewöhnlichen Familie. Ich hatte keine Ahnung, welches unsere Aussichten waren. Die einzige Familie mit einem behinderten Kind weit und breit war die alleinerziehende Mutter einer erwachsenen Tochter mit Down-Syndrom. Meine Oma sprach über sie wie über eine Frau deren Leben zerstört ist. Ein solches Schicksal kam für mich überhaupt nicht in Frage, also habe ich mich aufmerksam umgesehen. Glücklicherweise sind Behinderte und die Fürsorge für sie keine solchen Tabus mehr wie früher. Wir tun heute nicht mehr so, als würden diese Kinder nicht existieren. Sie sind auch nicht mehr bloß Material für Witze und enden auch nicht mehr in der isolierten Gemeinschaft irgendeiner mysteriösen Einrichtung, die idealerweise in irgendeinem verstaatlichten Schloss untergebracht ist.

Guten Tag, ist Ihr Leben zerstört?

Im Zusammenhang mit Behinderungen ist oft die Rede von Eltern, die ihre Kinder aufgegeben haben. In der Presse liest man hin und wieder von den traurigen Schicksalen behinderter Kinder, deren egoistische Eltern sie in sogenannte Pflegeanstalten gegeben haben. Ebenso hört man von Eltern, die willens waren, sich um ein behindertes Kind zu kümmern, die aber vom Arzt dazu gedrängt wurden, das Kind wegzugeben (frei zur Adoption oder in eine „Pflege“-anstalt) und ein gelungeneres Exemplar zu machen.

Im Stich lassen wollte ich meine Kinder aber nicht, also begann ich darauf zu achten, wie andere Eltern sich um ihre Kinder kümmern. Man kann aber nicht einfach zu irgendjemandem gehen und fragen. „Guten Tag. Ich sehe, Sie haben ein Kind mit Behinderung. Ist Ihr Leben zerstört?“ Aber vielleicht würde eine gut gezielte Antwort mit der Faust die Fragestellerin sogar entlasten. Ich begann trotzdem lieber Artikel über das Leben mit behinderten Kindern zu lesen und Dokumentarfilme über Familien mit Autisten zu schauen. Ich kaufte mir Bücher, die Eltern von Autisten geschrieben hatten wie Schlag mich nicht, mein geliebter Sohn (Nebij mě, můj milovaný synu) oder Autismus & Chardonnay. Ich beobachtete die Eltern von autistischen Kindern auf einem Ferienlager für solche Familien. Nach einiger Zeit entdeckte ich auch den Podcast Needo Talks zum Thema Fürsorge, produziert von zwei Müttern bereits erwachsener behinderter Töchter.

Ich kam zu dem Schluss, dass ich vollkommen unmöglich bin und niemals eine solche Balance, bedingungslose Liebe, Selbstaufopferung und absolute Akzeptanz aufbringen würde. Niemals würde ich unserem Schicksal so tapfer die Stirn bieten. Ich empfand Bewunderung, Faszination und Hochachtung für diese Menschen. Gleichzeitig begann ich mich selbst zu verachten, vor allem aber schämte ich mich sehr.
 

Ich empfand für meine Autisten diese unbeschreiblich starke und mitfühlende Liebe, aber auch eine Wut, dass ich ihretwegen unter einem enormen Stress stehe, gefesselt bin und dass sie mir meine Vorstellung von einem eigenen Leben, von Karriere und Familie genommen hatten.“

Ich war schockiert, wie wunderbar diese Familien, die sich geöffnet und über ihr Leben und ihre Gefühle berichtet haben, das alles bewältigten und akzeptierten, so dass ich völlig übersah, dass sie hier und dort auch mal düstere Gedanken erwähnten. Es war an manchen Stellen die Rede von Burnout, Wut, Ohnmacht, aber immer war das eine dünne Schicht Fleisch, die in ein dickes Burgerbrötchen aus Liebe und Fürsorge geschoben war. Ich hingegen erlebte in der Zwischenzeit einen Mix aus positiven und negativen Gedanken und wusste nicht, welche davon überwiegen. Ich spürte nicht diese enorme Kraft, die ich in den Geschichten der Autor*innen wahrnahm, sondern Angst. Ich hatte schreckliche Angst um meinen Komfort, mein Ego und auch um meine Kinder, die unter einer labilen Mutter leiden müssen.

Ich empfand für meine Autisten diese unbeschreiblich starke und mitfühlende Liebe, aber auch eine Wut, dass ich ihretwegen unter einem enormen Stress stehe, gefesselt bin und dass sie mir meine Vorstellung von einem eigenen Leben, von Karriere und Familie genommen hatten. Ich versuchte darüber zu schreiben, aber meistens war der Teig zu mehlig und der ganze Burger stürzte ein. Denn jedesmal, wenn ich begann über die hässlichen Seiten zu schreiben, fielen mir doppelt so viele schöne Dinge ein und mit dem Schmerz kam auch die Liebe. Und es gelang mir immer besser in den Mitteilungen anderer Eltern auch den fleischigen Teil wahrzunehmen, der zwischen den beiden Hälften des dicken Burgerbrötchens lag. Denn etwas ist da, zumindest bei den Eltern, die bereit sind, sich auch ihren düsteren Seiten zu stellen. Da ist etwas, bloß fällt es nicht so sehr auf, wie man erwartet. Es ist einfach schon Bestandteil des alltäglichen Fastfoods.

Schließlich ging auch mein Brötchenteig auf. Mit der Zeit rückt man sich im Kopf alles besser zurecht. Man verarbeitet seine Wehwehchen und Schwächen, in die sich die Unvollkommenheit so herrlich hineinkneten und wieder herauspulen lässt. Es heißt deshalb, dass besondere Kinder die besten Lehrer sind. So wie sie einem den Stolz, das Festhalten an bestimmten Vorstellungen, den Perfektionismus zunichte machen... und ich könnte die Aufzählung noch ganze Absätze lang fortführen und es wäre noch immer nicht alles. Sobald wir uns bewusst werden, was unseren kleinen Experten im Laufe der Zeit alles ihrer Prüfung unterzogen haben, können wir beginnen ein solches Leben wertzuschätzen. Und erst dann kann man auch die Kraft aufbringen, darüber zu reden.

Wie viel ist genug?

Auch ich habe manchmal die Sorge, ich könnte unauthentisch positiv rüberkommen. Dass ich die Tendenz haben könnte, mir selbst auf die Schulter zu klopfen. Ich jage den Gedanken nach, wie sauer ich bin, dass ich meine Tochter nie einfach so zum Skifahren mitnehmen kann. Jedesmal muss ich vorher den kleinen Autisten irgendwo unterbringen oder meinen Mann, seinen Stiefvater, einspannen, so dass wir uns nur noch verpassen vor lauter Arbeit und Kinderbetreuung. Es bedrückt mich, dass der kleine Autist fast alle meine schönen Dinge kaputt macht – er zerreißt T-Shirts und Bücher, zerschmettert meinen Lieblingsbecher. Ich will aussprechen, wie sehr mich das ärgert, aber kaum hole ich Luft, trifft sich mein Blick mit seinem, wie er umherwandelt und eine Melodie dabei summt. Ich werde mir dann bewusst, dass auch er nur ein Mensch ist. Dass er ein großes Herz hat, nur viele Dinge einfach nicht versteht. Dass er mir soviel, wie er mir genommen, auch gegeben hat. Und schon ist meiner Wut der Wind aus den Segeln genommen.

Unsere Emotionen durchlaufen den Filter einer ethischen Selbstreflexion und heraus kommt irgendein gezähmtes Gefühl der Erschöpfung. Es ist einfacher zu sagen, wir seien erschöpft, als dass die behinderten Kinder uns zum Hals raushängen...“

Wie viel ist also genug? Genug der Liebe und Fürsorge? Es kommt mir so vor, als würden alle anderen sich fast zu hundert Prozent aufopfern. Dann und wann betonen sie, dass es keine hundert sind, dass hier ein Prozent verloren gegangen sei und sie da für ein zweites Prozent nicht die Kraft aufbringen konnten. Aber immer noch liegt die Latte so hoch, dass ich mir – selbst wenn ich 80 Prozent aufbringen kann – immer noch Vorwürfe mache, dass das zu wenig ist. Wobei... Wieviele Eltern schaffen es überhaupt, ihre Rolle zu 80 Prozent zu erfüllen? Nur kommen ihnen bei gesunden Kindern einfacher Sätze über die Lippen wie: „Wenn sie doch nicht ununterbrochen so rumbrabbeln würde!“, „Er geht mir auf die Nerven.“ „Manchmal will ich ihm eine scheuern!“ Bei Behinderten, ganz gleich, ob sie nun eine geistige oder eine körperliche Beeinträchtigung haben, klingt das oft ziemlich unpassend. Unsensibel. Sie sind doch so wehrlos. Reine Seelen! Wohin also mit unseren Emotionen, wenn sie uns ganz unzweideutig wütend machen? Unsere Emotionen durchlaufen dann den Filter einer ethischen Selbstreflexion und heraus kommt irgendein gezähmtes Gefühl der Erschöpfung. Es ist einfacher zu sagen, wir seien erschöpft, als dass die behinderten Kinder uns zum Hals raushängen und wir dieses Leben am liebsten... nun, wir sind erschöpft. Und diesem Zustand spielt ganz hervorragend das Argument des Mangels an Pflegeunterstützung in die Karten. Wir sind einfach erschöpft! Und wieder stopfen wir Hamburger in mehligen Brötchen in uns hinein.

Alle tun, was sie können

In meiner psychologischen Praxis habe ich das Glück, die Schalen verschiedener solcher Filter beziehungsweise solcher psychologischer Abwehrmechanismen zu entfernen und ich stellte fest, dass es unter den fürsorgenden Menschen keine Guten und Schlechten gibt. Eher würde ich den Grad der Akzeptanz, des erfüllten Lebens, der Pflege und sogar der Liebe in ein Spektrum einordnen, dass von Ablehnung bis zur ungesunden Selbstaufopferung und der Aufzehrung des Ichs im Ego der betreuten Person reicht. Und dazwischen gibt es viele verschiedene Dimensionen der Tiefe und des Ausmaßes der Fürsorge und der Emotionen. Es ist überflüssig, sie zu messen, solange sie die betreute Person nicht beschädigen.

Eigentlich ist es ganz normal – es gibt verschiedene Eltern (oder Betreuende), aber immer ist es gut, dass genau sie unsere Eltern (oder Betreuenden) sind, die die Pfannkuchen genau so dick oder dünn machen, wie wir es am allerliebsten mögen, und niemals, wirklich niemals ziehen sie uns Strumpfhosen an, denn die hassen wir. (Das Team der Leggins-Gegner*innen spricht!) Weil sie uns kennen. Wir haben Bindung zueinander. Sie lassen uns nicht leiden. Die einen Eltern nehmen die Fürsorge eher sportlich, andere schaffen es, ein schönes und sauberes häusliches Umfeld zu schaffen, mit manchen hat man viel Spaß und wieder andere bezahlen eine Ausbildung, von der andere Kinder nicht mal zu träumen wagen. Alle tun, was sie können. Wenn sie das aus Liebe und nicht pathologisch tun und das nicht zu Vernachlässigung führt, sind sie ausreichend gute Eltern (oder Betreuende). Und mehr müssen wir nicht sein.

Sogar schon ganz am Anfang, wenn uns die Rolle als Eltern oder Betreuer (ob nun eines gesunden oder nicht gesunden Kindes) in den Schoß fällt, kommt es vor, dass wir nicht gut genug sind. Wir können in der Fürsorge versagen und auch in der Liebe. Es kommt sehr oft vor, dass Mütter im Wochenbett den Drang verspüren, vor ihrem Kind zu flüchten. Sie schreien ihr Baby an, dass nur fasziniert von der ganzen Situation mit den Augen rollt. Es gibt anstrengende Phasen mit Kindern, die aus den Eltern kreischende Zombies machen. Und so kann man als betreuende Person mal Lust bekommen, seinem geistig behinderten Kind in den Hintern zu treten oder die Lust einem Kind, das nicht laufen kann, davonzurennen. Ein seelisch gesunder Mensch aber wird niemanden erwürgen und auch eine*n Hilfsbedürftige*n nicht im Stich lassen. Die Phantasie ist immer einen Schritt voraus.

Und ganz ähnlich ist es auch mit der Fürsorge. Manchmal wärmen wir die Milch nicht richtig auf, manchmal versuchen wir das Geschrei des Kindes zu überhören. Manche mehr, manche weniger. Das ist das Spektrum. Es gibt auch Leute, die sich zwar kümmern, aber dabei nicht gerade zerreißen. Die einen kaufen Bioschinken, die anderen Billigwurst. Mir kommt das alles in Ordnung vor. Wir führen hier keinen Wettbewerb. Mit einer ängstlichen und intensiven Fürsorge kompensieren wir höchstens unsere eigenen Komplexe. Aber alle Betreuenden (die ihren Schutzbefohlenen nicht schaden) werden gebraucht! Alle Eltern. Wir.

So nachsichtig, wie wir die Unvollkommenheit unserer Kinder akzeptieren, können wir auch unsere eigene Unvollkommenheit akzeptieren. Wenn wir fähig sind, unsere komplizierten Kinder liebevoll anzunehmen, gelingt uns das auch mit unserem komplizierten Ich.

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