Effektiver Altruismus  Der größte Nutzen

Effektiver Altruismus Foto: Josh Boot via unsplash | CC0 1.0

Überkommt euch angesichts der Schwere und der Fülle globaler Krisen und Probleme auch manchmal ein Gefühl der Ohnmacht? Als wäre alles, was ihr tun könnt, immer nur ein Tropfen auf den heißen Stein? Die Anhänger*innen der philosophischen und sozialen Bewegung des Effektiven Altruismus (EA) lassen sich davon nicht abschrecken.

Sedmá generace logo Dieser Artikel erschien bereits in der Zeitschrift Sedmá generace, die alle zwei Monate erscheint und sich ökologischen und gesellschaftlichen Themen widmet. Wir danken für die Erlaubnis zur Zweitveröffentlichung.

Altruist*innen bemühen sich darum, das Leben anderer zu verbessern. Effektive Altruist*innen gehen noch einen Schritt weiter – sie entwickeln und nutzen Strategien, um ihre begrenzte Zeit, Energie und Mittel am wirkungsvollsten einzusetzen, also mit dem größtmöglichen positiven Effekt.

Effektiver Altruismus (EA) kann sich auf praktisch alle Bereiche des Lebens erstrecken. Ob man sich für einen Beruf entscheidet oder für eine ehrenamtliche Tätigkeit, ob man eine Organisation oder ein Projekt finanziell unterstützen möchte oder ob es darum geht, Dinge zu kaufen, die nach ethischen vertretbaren Maßstäben produziert wurden.

Was bringt den größten Nutzen? Den meisten wird vermutlich als erstes eine Spende für einen guten Zweck einfallen. Das hat seine Tücken. Denn nicht jede karitative Einrichtung ist in der Lage, ihre Mittel effektiv einzusetzen, und viele gemeinnützige Programme funktionieren in der Praxis einfach nicht, selbst wenn es auf den ersten Blick zunächst so scheinen mag. Viele Spender*innen lassen sich manchmal auch mehr von ihren Emotionen leiten als von Pragmatismus. Dabei können auch finanziell weniger anspruchsvolle Projekte weitreichende Wirkungen entfalten, ohne dass ihnen gleichzeitig irgendeine starke Geschichte zugrunde liegen muss.

Wenn es euer Ziel ist, so viel Gutes wie möglich zu tun, solltet ihr euch laut William MacAskill, einem der Begründer der Bewegung des effektiven Altruismus (EA), fünf grundlegende Fragen stellen:
 
  • Wie vielen Menschen kommt meine Aktivität zu Gute und in welchem Ausmaß?
  • Ist es das Effektivste, was ich tun kann?
  • Zielt meine Aktivität auf einen vernachlässigten Bereich?
  • Was würde geschehen, wenn ich es lasse?
  • Wie groß ist die Aussicht auf Erfolg und wie viel wäre ein Erfolg wert?

Antworten auf diese Fragen zu finden, ist nicht einfach. Effektive Altruist*innen stützen sich dabei vor allem auf finanziellen Grenznutzen, statistische Analysen, randomisierte kontrollierte Studien und logische Modelle. Ein Experiment untersuchte zum Beispiel, welches Programm in Subsahara-Afrika am effektivsten eine höhere Schulbesuchsquote im Grundschulalter garantieren könnte, was den Kindern später eine bessere Position auf dem Arbeitsmarkt verschaffen und damit eine Erhöhung des Lebensstandards ermöglichen würde. Mehr Lehrbücher in den Klassen? Gratis Schuluniformen? Nein! Man fand heraus, dass der häufigste Grund, warum Kinder nicht in die Schule gingen, Darmparasiten sind, die zudem ihre Gesundheit dauerhaft schwächten. Investitionen in den Vertrieb von Medikamenten zur Entwurmung erwiesen sie darum als wirksamste und gleichzeitig günstigste Methode um die Schulbesuchsquote zu steigern. Die Medikamente kosten umgerechnet etwa 3,30 Euro pro Jahr für ein Kind. Sobald die Kinder die Parasiten los waren, sank die Abwesenheitsquote laut MacAskill um 25 Prozent. Aufwändigere Analysen finden Anwendung bei der Untersuchung von globalem Wohlstand und Sicherheit.

Der Bewertung einzelner karitativer Projekte – vor allem solcher in Ländern des globalen Südens – und der Auswahl der effektivsten widmet sich die humanitäre Hilfsorganisation GiveWell. Die Organisation Giving What We Can wiederum ruft dazu auf, monatlich zehn Prozent des Einkommens zu spenden, am besten ein Leben lang. Mithilfe eines interaktiven Formulars kann man sich auf der Webseite von Giving What We Can ausrechnen lassen, wie reich man im Vergleich zur restlichen Weltbevölkerung ist und welche positiven Auswirkungen die Spende von zehn Prozent des Einkommens haben würde.

Screenshot howrichami.givingwhatwecan.org de Angenommen, du verdienst im Jahr 24.539 Euro netto (Durchschnittseinkommen von ledigen Arbeitnehmer*innen ohne Kinder in Deutschland im Jahr 2021), dann gehörst du umgerechnet auf die Kaufkraft zu den reichsten vier Prozent der Menschheit. Würdest du zehn Prozent deines Einkommens spenden, wärest du zwar nur noch unter den reichsten fünf Prozent, aber immer noch ziemlich weit oben, oder?!. Dank deiner Spende könnten 601 Moskitonetze (der wirksamste Schutz vor Malaria) und mehr als 3100 Arzneidosen gegen Darmparasiten finanziert werden. Umgerechnet auf die Anzahl von Jahren mit höherem Lebensstandard, die einem Menschen damit ermöglicht werden (ja, so nerdig (im besten Sinne) kalkulieren effektive Altruist*innen), könntest du dich schon nach etwas mehr als einem Jahr damit rühmen, ein ganzes Menschenleben gerettet zu haben. | Quelle: Screenshot howrichami.givingwhatwecan.org | © Giving What We Can

Eure 80.000 Stunden

Wie oben schon erwähnt, geht es beim effektiven Altruismus (EA) aber nicht nur um finanzielle Hilfe. Jeder Mensch verbringt im Laufe seines Lebens viele Stunden mit Erwerbsarbeit, dessen sind sich auch die Gründer der Organisation 80.000 Hours bewusst. 80.000 Stunden ist unsere durchschnittliche Lebensarbeitszeit. Die Organisation berät dabei, welche Karriere man einschlagen sollte, um einen maximalen positiven Effekt zu erzielen. Der wiederum lässt sich aus verschiedenen Perspektiven bewerten. Die meisten werden sich darunter vermutlich eine Tätigkeit vorstellen unmittelbar in oder für eine Organisation mit einem hohen gesellschaftlichen Nutzen. Auch wenn diese von der Bewegung am häufigsten empfohlen wird, ist sie doch nur eine von mehreren Möglichkeiten.

Durch das Spenden eines ausreichend hohen Betrags über mehrere Jahre hinweg kann ich statistisch gesehen, jemandem das Leben retten. Gleichzeitig ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich selbst wegen dieser finanziellen Abstriche sterbe, praktisch gleich Null.“

Michal | Mitglied des tschechischen Vereins der effektiven Altruisten


Michal, Mitglied des tschechischen Vereins der effektiven Altruist*innen, hat sich für die Strategie „Verdiene, um zu spenden“ entschieden. Er arbeitet als Backend-Programmierer für eine internationale Firma, eine Tätigkeit, die ihn zeitlich voll ausfüllt und die ihm einen überdurchschnittlich hohen Verdienst einbringt. 15 Prozent davon spendet Michal: Einen Teil überweist er an die oben erwähnte Hilfsorganisation GiveWell, die damit Entwicklungshilfe leistet, ein Teil geht in den EA-Fond zur Unterstützung langfristiger Projekte, und ihm vergangenen Jahr erhielten auch die Umweltschutzorganisation Hnutí DUHA oder das unabhängige Nachrichtenportal Deník Referendum kleinere Beträge. Michal könnte zwar auch selbst mit anpacken und unmittelbar Hilfe leisten. Dadurch, dass er sein Potenzial in der finanziell sehr lukrativen IT-Branche einbringt, ist er jedoch in der Lage, das Leben von um ein Vielfaches mehr Menschen zu verbessern. „Im Bereich der Entwicklungshilfe ist der Effekt extrem“, erklärt Michal seine Motivation. „Durch das Spenden eines ausreichend hohen Betrags über mehrere Jahre hinweg kann ich statistisch gesehen, jemandem das Leben retten. Gleichzeitig ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich selbst wegen dieser finanziellen Abstriche sterbe, praktisch gleich Null.“

Der Mathematiker Jan Kulveit, erster Vorsitzende des tschechischen Vereins der Effektiven Altruisten, hat sich dafür entschieden den Weg der wissenschaftlichen Forschung zu gehen, um anderen zu helfen. Kulveit ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Future of Humanity Institute an der Universität Oxford. In Tschechien ist er vor allem bekannt als Mitglied der interdisziplinären Forschungsgruppe MeSES, die Empfehlungen für den Kampf gegen die Covid-19-Pandemie ausspricht. Ähnlich wie in der freien Wirtschaft oder in der Politik ist auch der Effekt einer Tätigkeit in der Wissenschaft mit Risiken behaftet, birgt aber gleichzeitig ein enormes Potenzial. Um dieses gerecht beurteilen zu können, arbeiten effektive Altruist*innen im Rahmen der Entscheidungstheorie mit dem sogenannten erwartbaren Nutzen.

Denen, die noch am Anfang ihres Karriereweges stehen, empfiehlt William MacAskill in seinem Buch Gutes besser tun: Wie wir mit effektivem Altruismus die Welt verändern können (Doing Good Better: Effective Altruism and How You Can Make a Difference, 2015) sich ruhig auch im privatwirtschaftlichen Sektor auf das Sammeln von Fähigkeiten, Kontakten und Referenzen zu konzentrieren. Arbeitgeber*innen können in die Entfaltung der Karrieren von Angestellten mehr Geld investieren als im gemeinnützigen Sektor. Die Angestellten können ihre erworbenen Kompetenzen dann in einer für die Gesellschaft gewinnbringenden Form zur Geltung bringen.

Altruistisch nicht nur gegenüber Menschen

Die EA-Bewegung wurde stark von den Ansichten des australischen utilitaristischen Philosophen und Aktivisten Peter Singer beeinflusst. Singer ist in Tschechien vor allem bekannt durch sein Buch Animal Liberation. Die Befreiung der Tiere (englisches Original 1975). So ist es wenig verwunderlich, dass neben der Bekämpfung von Armut in den Ländern des globalen Südens auch die Linderung des Leids von Tieren – sowohl solcher in industrieller Haltung, als auch frei lebender – zu den Prioritäten der effektiven Altruist*innen gehört. Gleichzeitig handelt es sich dabei um einen vernachlässigten Bereich, in dem eine präzise und zielgerichtete Veränderung das Leben von Milliarden Lebewesen weltweit verbessern kann. Die größte Gruppe und die gleichzeitig unter den schlimmsten Bedingungen lebenden Tiere sind dabei, dreimal dürft ihr raten… Masthühner.

Ähnlich wie bei der Hilfe für Arme, gibt es auch in diesem Bereich eine Organisation, die Tierschutzorganisationen im Hinblick auf ihre finanzielle Effektivität und ihre Transparenz beurteilen – Animal Charity Evaluators. Vielleicht freut es euch zu hören, dass auch die tschechischen Organisationen Obránci zvířat (Tierschützer) und die Tschechische vegane Gesellschaft von den Animal Charity Evaluators unterstützt werden, wie aus den Jahresberichten hervorgeht.

Konferenz EAGxPrague 2016 Konferenz EAGxPrague 2016 | Foto: © Ester Dobiášová

Nicht nur ein Tropfen im Ozean, sondern eine ganze Meeresströmung

Das Spektrum der Themen, denen sich der effektive Altruismus widmet, ist weit. Es betrifft eine Unzahl von philosophischen und praktischen Fragen. Außer denen, die ich hier bereits angerissen habe, geht es etwa um die Förderung von seelischer Gesundheit, einer besseren Entscheidungsfindung von Institutionen oder auch um Entfaltung der Gemeinschaft der effektiven Altruist*innen selbst.

Als ich zum ersten Mal zu einem Treffen des tschechischen Vereins der effektiven Altruist*innen ging, hatte ich keine Ahnung, dass mich eine Diskussion erwartet über den Einsatz künstlicher Intelligenz zur Minimierung existenzieller Risiken sowie über den so genannten Longtermismus, ein Konzept, das sich mit den Auswirkungen unserer Handlungen auf eine ferne Zukunft beschäftigt.

Solltet ihr Interesse bekommen haben, tiefer in die Gedankenwelt des effektiven Altruismus einzutauchen, könnt ihr euch auf effektiveraltruismus.de umfassen informieren. Dort sind auch die Kontakte zu Lokalgruppen aufgelistet, die sich regelmäßig treffen, Vorträge und Events organisieren. Für mich persönlich war es erfreulich zu erfahren, dass jemand mit einem besseren Draht zur Mathematik, als ich ihn habe, Werkzeuge entwickelt hat, wie man schon mit vergleichsweise geringem Einsatz, das Leben vieler Menschen und anderer Lebewesen verbessern kann. Und ich bin umgeben von Menschen, die ehrlich – rational und analytisch – versuchen herauszufinden, wie sie gegenwärtigen und künftigen Generationen am besten helfen können.

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