Straight Edge und die Musik  „Ohne Punk wäre ich nicht abstinent“

Jan Stromšík aka Blum (rechts) 2016 mit der Band Marnost. Foto: © Daniel Goliaš

Sie trinken keinen Alkohol, essen kein Fleisch, nehmen keine Drogen. Dabei geht es gar nicht mal so sehr um Gesundheit oder Geschmack. Hinter all dem steht eine Haltung, eine freiwillige Entscheidung. Die Subkultur des Straight Edge verbindet den eigenen Verzicht mit dem Schutz der Rechte von Mensch und Tier. Mit Jan Stromšík, in der Punk-Szene unter dem Namen Blum bekannt, haben wir vor allem über die Selbstkontrolle gesprochen, auf der der Gedanke des Straight Edge beruht. „Ich muss mir kein X auf die Hand malen, aber ich bin stolz, dass ich drangeblieben bin“, sagt er in Anspielung auf das Symbol der unorganisierten Bewegung.

Viele Menschen nehmen dieses Jahr wieder an der Kampagne „Trockener Februar“ teil, bei der sie einen Monat auf Alkohol verzichten. Wie siehst du als langjähriger Abstinenzler diese Enthaltsamkeit?

Positiv. Aus meiner Sicht eines fast zwanzigjährigen Abstinenzlers scheint es aber unverständlich, warum man sich für die Zeit ohne Alkohol grade den kürzesten Monat aussucht. Man zählt jeden Tag und freut sich darauf, bis es wieder losgeht. Ich glaube, dass es da eher zu einem Jo-Jo-Effekt kommen kann. Klar, manche Leute in meinem Umfeld haben aus dem „Trockenen Februar“ eine Tradition gemacht, andere beginnen schon im Januar oder verlängern bis in den Sommer. In Tschechien ist das gemeinsame Bier die beliebteste Art, Alkohol zu konsumieren. Wegen Covid geht das gerade nicht, also denken manche darüber nach, ob sie es schaffen könnten, nicht zu trinken, und in der gegenwärtigen Situation ist es für sie einfacher.

Wer einmal versucht hat, nicht zu trinken, der weiß, dass das Schwerste dabei ist, seine Entscheidung vor anderen zu verteidigen. Wie siehst du das?

Für die Leute ist es schlimmer, wenn du nicht trinkst, als wenn du andere Dinge nicht machst, wie zum Beispiel kein Fleisch essen. Das Anderssein dadurch, dass du Abstinenzler bist, versteht die Gesellschaft nicht.
 
Der Song „Straight Edge“ (1981) der Band Minor Threat gab der Bewegung ihren Namen.

Was hat dich dazu gebracht, das mit dem Alkohol sein zu lassen? Hatte das was mit der Musik zu tun?

Sicher. Wäre ich nicht zum Punk gekommen, wäre ich kein Abstinenzler geworden. Mit 19 haben wir angefangen, auf Konzerte zu gehen, ich habe viel Hardcore Punk gehört. Dann kannst du dich entscheiden. Entweder fährst du auf Konzerte, lässt dich schon am Bahnhof volllaufen und bist Abschaum. Oder du bist irgendwo dazwischen, trinkst, nimmst softe Drogen und eine Wochenend-Party nach der anderen mit. Oder du triffst auf Bands, die einen Ansatz von Aktivismus und Abstinenz in sich tragen. Genauer gesagt die Straight Edge Bewegung. Das merkt man auch ihrer Musik an. Engagierte Bands klangen anders, mehr wie Metal als Punk. Aus musikalischer Sicht hat mir das besser gefallen.

Gilt das auch heute noch?

Straight Edge im Jahr 2021 zu definieren ist ziemlich schwierig. Es gibt keine klaren Grenzen mehr zwischen den Subkulturen, sie sind stark miteinander verschmolzen, genauso wie ihre Erkennungsmerkmale. Es lässt sich nicht mehr sofort erkennen, wer seinem Aussehen nach wohin gehört. Auch bei der Straight Edge Identität geht es nicht mehr nur um die Musik, wobei das auch früher nicht unbedingt immer so war. Ich kenne vegane Straight Edge Rapper, Punks und Black-Metal-Bands. Ich weiß von Leuten, die aus der musikalischen Straight Edge Szene kommen, sich jetzt aber schon lange nicht mehr dafür interessieren. Jetzt sind sie anderweitig aktiv oder machen Kampfkunst. Eigentlich weiß ich nicht, wie ich Straight Edge definieren soll. Ich lebe in meiner Bubble und kann sie nicht beschreiben.
 

Konzerte geben mir viel mehr Energie, wenn ich nüchtern bin.“

Seit wann trinkst du keinen Alkohol?

Total abstinent, Straight Edge, bin ich seit fünfzehn Jahren. Dieses Jahr werde ich 38. Irgendwann mit 23 habe ich aufgehört zu kiffen, aber schon mit etwa 19 habe ich aufgehört zu trinken. Diese Kultur hat mir nicht gefallen. Seitdem ich fünfzehn war, habe ich so halblegal Bier getrunken. Ich war mit Freunden unterwegs, aber klar bin ich dann nicht besoffen nach Hause… Mit achtzehn kamen dann Discos, Konzerte, es wurde getrunken, dann habe ich aufgehört.

Kaum konntest du dir legal Alkohol kaufen, hast du es auch schon wieder sein lassen…

Ich stamme aus Valašské Meziříčí und da ganz in der Nähe, in Rožnov pod Radhoštěm, gab es den Club Vrah (Mörder). Das war ein einzigartiges Zentrum auch in Bezug auf das ganze Land, also fuhr man schon mal drei Stunden vor dem Konzert hin. Das wurde dann automatisch immer zur Party. Auch wenn philosophiert wurde, das Bier war dabei. Es wurde gesoffen und alles war gut bis zum Moment, als es zehn Uhr schlug. Dann zogen alle aus den Kneipen, in denen sie Bier getrunken hatten, in den Club Vrah, wo es Schnaps gab. Und von da an ging es bergab, die Sturzbesoffenen fielen nur so durcheinander. Das war schon jenseits der Grenze, was sich für einem normalen Menschen ok anfühlt.
 
Ich bin auf der Welle mitgeritten, aber dann wurde mir klar, dass ich alle vierzehn Tage auf ein Konzert gehe und nachher nie weiß, welche Band gespielt hat. Dabei interessierten mich die Bands mehr als das Saufen. Ich wollte Leute treffen, mich an sie erinnern, Spaß haben. Das war der erste Grund, warum ich mich bereit erklärt habe, den Fahrer zu machen, weil ich das Konzert sehen wollte. Das wurde dann zum Anfang meiner Abstinenz. Mir wurde bewusst, dass mir Punk-Konzerte wesentlich mehr Energie geben, wenn ich nüchtern bin, als wenn ich meinen Suff irgendwo im Straßengraben ausschlafe.

Und das Rauchen? Das gehört ja oft zur Kneipe dazu. Hast du damit zusammen mit dem Bier Schluss gemacht?

Mit den Zigaretten habe ich aufgehört, als ich aufgehört habe zu trinken. Von einem Tag auf den anderen. Gekifft habe ich weiter. Ich hatte dafür eine ideologische Begründung, denn ich hatte die Vorstellung, dass ich keine Industrie unterstützen wollte, die Betäubungsmittel irgendeiner Art herstellt. Alkohol und andere Drogen verursachen soziale Situationen, die manch einen benachteiligen, quälen… Alkohol war für mich das Übel. Deshalb habe ich nicht mal alkoholfreies Bier getrunken, weil es von Bierbrauereien hergestellt wurde. Ich habe mir gesagt, dass ich das Gras ja selbst anbaue, das war etwas Natürliches und ich sah nichts Falsches daran. Mit Beginn meines ersten Jobs habe ich aber damit aufgehört. Außerdem hatte mir jemand ein paar Monate vorher die Ernte für das nächste Jahr vom Feld geklaut.

Jan Stromšík aka Blum 2019 mit der Band Gattaca in Slovenská Ľupča. Jan Stromšík aka Blum 2019 mit der Band Gattaca in Slovenská Ľupča. | Foto: © Daniel Goliaš

Wie siehst du alkoholfreies Bier heute?

Es ist nicht meine „guilty pleasure“. Es ist eher ein Getränk, das zu manchen gesellschaftlichen Situationen passt, wenn man zum Beispiel in der Kneipe sitzt. Ich schütte mich damit nicht zu. Wenn ich den Kopf voll habe und runterkommen muss, gehe ich in den Proberaum und spiele Schlagzeug. Vor einem Jahr haben wir außerdem eine Tochter bekommen, also bin ich bei ihr und für anderes ist da nicht viel Platz. Ich kann mir nicht vorstellen, freitags zu Hause zu sagen: „Ich geh in die Kneipe auf ein Bier, rechnet nicht vor Samstagnachmittag mit mir.“

Straight Edge zu sein erfordert viel Selbstkontrolle, vor allem am Anfang. Radikalisiert einen das?

Das kann man wahrscheinlich so sagen. Zu Straight Edge gehören zum Beispiel der Veganismus und die Tierrechtsbewegung. Aber auch da habe ich viele Abstinenzler kennengelernt, die sich nie als Straight Edge bezeichnet haben. Sie waren einfach in irgendeiner Bewegung aktiv, die eine strikte Haltung und totale Nüchternheit erfordert. Bei Demonstrationen und anderen Aktionen, wo Anhänger zu Massenbetrieben gehen und Videos davon machen, was dort vor sich geht, wäre Alkohol eher fehl am Platz. Meistens wurde in der Aktivisten-Szene nicht getrunken. Für mich war es dann interessanter meine Haltung nicht vor mir herzutragen, sondern einfach in einer Gruppe von Aktivisten mit dabei zu sein.

Du trinkst Kaffee, und verkaufst ihn sogar zusammen mit dem Kollektiv Black Seeds. Wo steht für dich der Kaffee als Droge?

Jeder Mensch, der sich von dem Gedanken des Straight Edge angesprochen fühlt, sucht sich seinen Genuss anderswo. Ich habe zum Beispiel Leute getroffen, die an hochwertigem Tee ihre Freude haben. In der Stadt Most gab es für relativ kurze Zeit den Club Za Vraty, wo es eine Teestube gab. Ich habe auch selbst mal in einer gearbeitet. Die Grenzen der Ablehnung von Drogen im Straight Edge verlaufen unterschiedlich. Für mich waren Drogen immer Stoffe, die irgendwie meinen Geist verändern. Natürlich macht mir der Kaffee nach fünfzehn Jahren Konsum den Tag angenehmer und beeinflusst mich. Das mag vielleicht eine Abhängigkeit sein, aber das ist für mich nicht mehr wichtig genug, um mir darüber Gedanken zu machen.
 

Es ist mir nicht wichtig auf den ersten Blick erkennen zu können, ob jemand Straight Edge ist.“

Gibt es einen Unterschied zwischen Straight Edge hier in Tschechien und im Ausland?

Keinen großen. Vielleicht ist die Auffassung in Russland mehr mit Stolz verbunden, gleichzeitig ist dort aber eine sehr starke nationalsozialistische und bewaffnete Szene entstanden. Irgendwann sah es so aus, als würde das eher zu einer Neonazi-Bewegung als zu einer linksgerichteten. Zum Glück ist das nicht passiert, Straight Edge war schon immer mit dem Antifaschismus verbunden. In Deutschland war Straight Edge immer ziemlich „clean“. Ich mag aber diejenigen Anhänger des Straight Edge am liebsten, denen man es nicht direkt ansieht. So verhalte ich mich auch. Für mich ist Straight Edge nichts, was man auf den ersten Blick sehen muss. Ein „X“ würde ich eher nur aus Nostalgie auf der Hand tragen. Mit zwanzig war mir das wichtig, es hat mir aus meiner Abhängigkeit von Marihuana geholfen. Ich wollte mir selbst bewusst machen, dass ich zu einer Bewegung gehöre, die das ablehnt und sich stolz dazu bekennt. Es machte mich irgendwie glücklich, an Orten zu sein, auf Konzerten, wo das „X“ auf meiner Hand eines von vielen ist, und ich nicht alleine bin. Das hat mir dabei wirklich geholfen abstinent zu werden. Ich bin immer noch stolz darauf, dass ich nicht schwach geworden bin, aber eher innerlich.

Ich finde, du bist sogar für eine strikte Subkultur, wie sie Straight Edge zweifellos ist, sehr streng…

Wenn ich zum Beispiel über vegane Produkte spreche, weise ich darauf hin, dass sie heute vor allem von internationalen Konzernen hergestellt werden, die auf die Tierindustrie ausgerichtet sind. Die kaufen vegane Firmen auf – zum Beispiel wurde die niederländische Gesellschaft Alpro von Danone, einer der größten Molkereien, übernommen. Und auch die Firma Olma aus Olomouc hat jetzt Joghurts und Drinks aus Hafermilch im Angebot. Veganismus ist jetzt im Trend und die Veganer, die früher vor den Schlachthöfen und an den Grenzen die Tiertransporte blockiert haben, kämpfen jetzt auf einmal für einen ethischen Konsum. Der war schon immer wichtig, aber der aktivistische Aspekt ist verschwunden.
 
Die Verkauf ist enorm lukrativ und es gibt Veganer, denen das nichts ausmacht. Die meisten Veganer gründen ihren Aktivismus auf der Tatsache, dass der Wandel umso wahrscheinlicher ist, je mehr Menschen vegane Produkte konsumieren – egal von welchen Herstellern. Aber wenn wir uns den Konsum tierischer Produkte anschauen, dann war der Verbrauch von Fleisch im letzten Jahr der größte in der Geschichte der Tschechischen Republik. Manche sehen kein Problem darin, zu McDonald’s zu gehen und einen veganen Burger zu essen, und manche finde das aus verschiedenen Gründen problematisch – so wie ich.
 

Kannst du uns vermitteln, wie du Live-Auftritte erlebst? Musikalisch ist machst du einen enormen Druck, und nicht jeder schafft es, auf der Bühne so aus sich herauszugehen.

Das ist wie wenn ein Schauspieler auf die Bühne geht. Es ist eine Show, die nach außen hin wirkt, dir aber auch viel gibt. Du sendest diese Energie von der Bühne aus und sie kommt extrem verstärkt zurück. Dieses regelmäßige Aufladen mit Energie bei den Konzerten fehlt mir während der Covid-Pandemie am meisten. Man könnte sagen es ist ein Weg seine Wut rauszulassen. Wenn der Schweiß fließt und die Band alles aus sich rausholt, ich von der Explosion des Applauses eine Gänsehaut bekomme, dann ist das eine so starke Ladung positiver Energie, dass du schon allein deswegen Konzerte spielen willst. Diese Euphorie ist eine starke Droge. Vor dem Auftritt ist da die Nervosität, ohne die ist es auch nicht das Wahre. Man kann sie aber auch ohne Alkohol überwinden. Ich habe Konzerte von Bands gesehen, bei denen ich dachte, dass die irgendwas genommen haben. Und dann habe ich erfahren, dass sie komplett nüchtern waren.
 

Jan Stromšík (38), in der Punk-Szene unter dem Pseudonym Blum bekannt, spielte in Bands wie XnidalX, Abstinentia, Gattaca. Zurzeit spielt er in der Band Aralkum. Er ist Teil eines Kollektivs, das in Olomouc das unabhängige Zentrum SF Mini (Ort für Konzerte, Skateboarding und Proberäume) betreibt. Er half bei der Organisation von über 350 Konzerten von Bands aus aller Welt vor allem in Mähren. Er richtet ein Aufnahmestudio ein und ist Teil der Genossenschaft Black Seeds, die von mexikanischen Zapatisten angebauten Kaffee importiert, röstet und verkauft. Er ist Unternehmer im Bereich der Klimatisierung von Häusern.

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