Als Teenager absolvierte sie hier einen obligatorischen Workshop zur „spirituellen Erneuerung“. Als studierte Anthropologin und Journalistin kehrt Lucia Rončíková zum Domček Anky Kolesárová zurück, um an einer Pilgerreise teilzunehmen, die unter anderem „Heilung von Unreinheit“ verspricht. Eine Reportage über eine Schnittstelle von spiritueller Sehnsucht und politischer Agenda.
Ein Kulturhaus. Rote Teppiche, schwere Luft, Rüschenstoffe decken die ursprüngliche Innenausstattung des Raumes ab. Das schwache Licht von Kerzen und blinkenden Lichterketten pulsiert im Schatten eines Kreuzes, das in der Mitte des Raumes steht, und auch im Bild eines Mädchens mit Lilien im Haar. Akustische Musik, gedämpfte Gespräche, höfliches Lachen, künstliche Blumen und auch frische. Der Raum ist voller Christ*innen im Alter von 25 bis 40 Jahren: Singles, fast niemand in einer Beziehung, mehr Frauen als Männer. Ein paar Ordensschwestern, einige wenige Priester. Ich stelle meinen Rucksack in die Ecke, ziehe meine Schuhe aus und gehe zum Anmeldestand des „Pilgerprogramms der Reife“, organisiert vom Pastoralzentrum, dem Domček Anka Kolesárová (Anka-Kolesárová-Haus) in Vysoká nad Uhom. Ich lasse mir Zeit. Ich aktiviere wieder die Körpersprache, die ich in meiner Jugend bei ähnlichen christlichen Veranstaltungen gelernt habe. Mit meinen Bewegungen kommen Erinnerungen an vor elf Jahren zurück, als ich hier als Gymnasiastin die obligatorische „geistliche Erneuerung“ absolviert habe. Heute bin ich wie auch die anderen Teilnehmer freiwillig hier.Eine Freiwillige auf einem Sitzsack gibt mir mein Namensschild, darauf steht auch die Nummer der Gruppe, zu der ich während der kommenden drei Tage gehören und in der ich meine Eindrücke von den Vorträgen und Workshops mit den anderen austauschen werde. Dann schaue ich gleich am Merchandise Stand mit Artikeln zu Anka Kolesárová vorbei – dem Mädchen dessen Porträt auf dem Podium zu sehen war. Anstecker, Kerzen, Armbänder, T-Shirts. Der Kult um Anka ist eine tragende Säule dieses Jugendzentrums: Sie war Teenagerin, als sie 1944 hier von einem Rotarmisten erschossen wurde, nachdem sie sich im Keller eines Hauses, in dem sich Dorfbewohner vor den russischen „Befreiern“ versteckten, geweigert hatte, mit ihm Sex zu haben. 2018 wurde sie seliggesprochen (eine Vorstufe zur Heiligsprechung) und vom Vatikan als eine der „Märtyrerinnen der Reinheit“ eingestuft, wie auch Karolina Kózka, Maria Gorretti und Antonia Mesina. Sie alle waren christliche Frauen, die sich gegen Sexualstraftäter wehrten und dafür erstochen, gefoltert oder erschossen wurden. Würden wir uns der Analyse der feministischen Anthropologin Rita Segato anschließen, sprächen wir über diese Frauen und Jugendlichen als Opfer geschlechtsspezifischer politischer und kriegsbedingter Gewalt, bei der der weibliche Körper als Teil des eroberten Territoriums behandelt wird. Doch die Kirche und die christlichen Bewegungen bezeichnen sie nicht als solche.
Sowohl die säkulare Öffentlichkeit als auch kritischere Strömungen der katholischen Kirche stellen Interpretationen in Frage, die Anka Kolesárovás Tod als „Wahl des Todes statt der Sünde“ darstellen. Diese Worte stehen so noch auf Ankas Grabstein. Die Kritik ergibt sich aus dem Paradox, dass Anka zwar als Schutzpatronin der Opfer sexuellen Missbrauchs bezeichnet wird, ihre Botschaft hier im Zentrum jedoch über das Prisma des moralischen Imperativs körperlicher und innerer „Reinheit“ – insbesondere weiblicher Reinheit – vermittelt wird. Der verstorbene Bischof von Košice, Alojz Tkáč, der 2002 den Seligsprechungsprozess in Auftrag gab, äußerte sogar die Überzeugung, dass „sie das Glück hatte, zu kämpfen und zu sterben (...). Heutzutage (...) verlieren Mädchen ihre Reinheit sehr leichtfertig, während Anna Kolesárová ihr Leben für die Reinheit zu opfern wusste.“
Ich befinde mich nur wenige Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt und denke an all die Frauen und Mädchen, die sich trotz Widerstand weder gegen Vergewaltigung noch gegen den Tod wehren können. Ich erinnere mich auch an den Vorschlag der tschechischen Pro-Life-Initiative Hnutí pro život (Bewegung für das Leben), ukrainischen Frauen anstelle von Notfallverhütungsmitteln zum Selbstschutz laute Tröten und Tränengasspray zu schicken.
Spiritueller Merch als Hüter der Reinheit
Auf den silbernen „Anka-Ring“ gibt es mit ISIC-Ausweis einen Studentenrabatt. Die mit Herzen aus folkloristischer Spitze dekorierten Schachteln werden außerhalb der Reichweite der Verkaufstheke aufbewahrt und mit Hilfe einer ehrenamtlichen Helferin kann man sie anprobieren, vergleichen und einen Kauf erwägen.Den Unterschied zwischen Modeschmuck und „spirituellem Schmuck“ (wie der Ring auf der Website des Zentrums genannt wird) verstehe ich, als sich am Ende der Messe vier Mädchen vorn vor hundert Pilger*innen versammeln. Der Priester segnet ihre Ringe, und sie verpflichten sich zu „reinen Beziehungen“, zu einem den Sakramenten treuen Leben und zum täglichen Beten von drei Ave Marias. (Letzteres erklärt das synchrone Klingeln der Wecker auf den Smartphones, die Unterbrechung von Gesprächen und die anschließenden stillen Lippenbewegungen.) Auf der Webseite heißt es auch, der Ring sei für diejenigen gedacht, die ein „moralisch reines Leben“ führen möchten, und daher sei es nicht empfehlenswert, ihn als Geschenk zu kaufen. Die Teilnehmerinnen betonen, dass man (die Frau) die Entscheidung darüber nicht unter Druck treffen sollte.
Anprobe des silbernen „Anka-Rings“ | Foto: © Lucia Rončíková
Wie ein Verlobungsring ist dieser materielle Ausdruck des Beziehungsstatus ausschließlich für Frauen gedacht. Die Webseite empfiehlt Männern, eine Frau zu finden, die einen solchen Ring besitzt, und sich an ihrem Ring zu erfreuen. (Heute können auch Männer einen Anhänger mit ähnlicher Bedeutung und ähnlichen Verpflichtungen kaufen.)
Der Ring geht zugleich über eine individuelle Entscheidung hinaus, nach christlicher Lehre zu leben, und ist ein starkes Gemeinschaftselement im Domček: „Seit ich beschlossen habe, einen Ring zu tragen, habe ich mir angewöhnt, auf die Hände oder Hälse anderer zu schauen, um zu sehen, ob sie einen haben. Wir beten auch während der Ave Marias füreinander. Wir bilden eine Gemeinschaft, selbst wenn wir einander nicht kennen“, fügt Sára hinzu.
Haus, liebes Haus, wie weit reicht dein Dach?
Die Verpflichtungen und Versprechen von Ankas Ring beziehen sich auch auf die Werte, die im Mittelpunkt der pastoralen Tätigkeit des Hauses stehen: Das Formen junger Menschen durch Mentoring und spirituelle Begleitung mit Schwerpunkt auf der christlichen Beziehungs- und Sexualerziehung. Seit Anka Kolesárovás Seligsprechung wurde das Haus zu einem spirituellen Komplex ausgebaut und um eine neue Infrastruktur erweitert, die auch aus einer Haushaltsreserve des Ministerpräsidenten in Höhe von 80.822 Euro finanziert wurde. Neben einem kleineren Gemeindezentrum und einem Haus zur Unterbringung von Pilger*innen entsteht derzeit ein neues Jugendzentrum mit Platz für 240 Gläubige. Viele junge Menschen legen im Domček das sogenannte Reinheitsgelübde ab und verpflichten sich, bis zur Ehe sexuell enthaltsam zu leben. Für diejenigen, die dieses Ideal in der Vergangenheit nicht erfüllt haben, bietet das Haus spirituelle Begleitung im Prozess der sogenannten „Heilung von Unreinheit“ an. Das Angebot an spiritueller Begleitung wurde seit meinem letzten Besuch erweitert und umfasst nun auch Veranstaltungen für Familien, Verlobte, Eheleute und für die breitere katholische Gemeinde.„Viele Menschen haben im Domček ihre Berufung gefunden. Manche haben sich hier kennengelernt und geheiratet, andere sind einem Orden beigetreten oder wurden Priester. Und manche haben festgestellt, dass keiner der beiden Wege das Richtige für sie ist. Ich weiß zum Beispiel, dass es für mich nicht das Priestertum sein wird, eine Ehe schließe ich auch nicht ganz aus. Doch selbst, wenn ich Single bleiben würde, könnte ich damit leben. Für mich ist Sexualität so etwas wie kreative Energie – man kann sie auch anders als körperlich ausleben. Durch Dienst, Freiwilligenarbeit, Schreiben, durch alles, was Sinn macht. Vielleicht versteht jemand das nicht, doch für mich macht es Sinn, Werte für andere zu schaffen. Ein schönes Leben zu führen, ohne andere auszunutzen, ohne unbedingt Beziehungen zu suchen. Einfach nützlich zu sein und zu helfen, wo ich kann“, stellt der 35-jährige Róbert aus seiner Sicht das Domček vor. Nach seinem Hochschulabschluss verbrachte er ein Jahr als Freiwilliger hier und ist während des Pilgerprogramms nun der Animator meiner Gruppe. Er selbst kam eigentlich gar nicht aus religiösen Gründen ins Domček. „Das erste Mal bin wegen einem Mädchen hierhergekommen, das ich an der Hochschule kennengelernt hatte. Ich habe in den sozialen Medien gesehen, dass sie zu Veranstaltungen hierherkam. Damals war ich nicht besonders religiös, eher ein von zu Hause traditionell geprägter Mensch. Gott war für mich wie ein Polizist, aber das Mädchen hat mich damals motiviert und ich habe auch nach einer Gemeinschaft gesucht. Sie hat mich also hierhergebracht, ohne dass sie es wusste. Anfangs bin ich nur wegen ihr in die Kirche, zu Pilgeraktionen und zum Beten gegangen, um sie kennenzulernen. Aber nach und nach bin ich auch wegen Gott hierhergekommen.“
Neben der praktischen Arbeit im Bereich der Jugendbildung hat dieser Ort auch ein politisches Profil. 2018 unterstützte der Rektor des Domček Pavol Hudák öffentlich den Gesetzentwurf zur Verschärfung des Schwangerschaftsabbruchs, der vom Vorsitzenden der rechtsextremen Volkspartei Unsere Slowakei (Ľudová strana Naše Slovensko), Marian Kotleba, vorgeschlagen worden war. Die Teilnehmer*innen treten regelmäßig beim Nationalen Marsch für das Leben (Národný pochod za život) auf, der von der Initiative Forum des Lebens (Fórum života) organisiert wird. Diese Pro-Life-Plattform ist bekannt für das Durchsetzen der Anti-Gender-Agenda im politischen, pädagogischen und sozialen Bereich und koordiniert kulturell-ethische Kampagnen, die sich für die Einschränkung des Zugangs zu Schwangerschaftsabbrüchen, die Einschränkung der Rechte homosexueller Paare oder für das Verbot von Sexualerziehung an Schulen einsetzen. In diesen Diskursen wird der Rektor des Domček oft als Experte für Jugendarbeit bezeichnet. 2018 erhielt das Domček vom Forum des Lebens (Fórum života) in Kooperation mit der Politikerin Anna Záborská den Anton-Neuwirth-Preis für die „Erziehung junger Menschen zu Respekt vor dem Leben und zu reinen Beziehungen nach dem Vorbild Anka Kolesárovás“.
Obligatorische Fahrt mit unerwünschtem Sex Talk
„Du warst also nur zu dieser obligatorischen Schulfahrt hier, ja?“, fragt mich einer der Freiwilligen nach meiner Erfahrung mit dem Domček, während ich verlegen nach meiner Gruppe suche. „Ja, ich war hier vom Gymnasium aus zur spirituellen Erneuerung“, antworte ich und meine damit den spirituell-formativen Workshop, der noch immer zum Lehrplan des katholischen Gymnasiums in Prešov gehört, das ich besucht habe.Genau bei dieser Aktion hatte ich damals meinen ersten „Sex Talk“. Er fand hinter der Beichtstuhltür mit einem Priester statt, der meinen Perlenohrring berührte und mir sagte, wenn mir jemand „meine Perle stiehlt“, wäre ich nicht „rein“. Eine ähnliche Erfahrung schilderten sechs Schülerinnen und Studentinnen, deren Aussagen ich mir anhörte und aufzeichnete, bevor ich die Anmeldegebühr für dieses Pilgerprogramm bezahlte. Als sechzehnjährige Gymnasiastinnen nahmen wir an Gruppenvorträgen und Einzelinterviews teil, in denen wir erfuhren, dass wir als Frauen innerlich schön sein müssen, damit ein Mann „nicht von uns lassen kann“ und damit wir lernen zu lieben und die Gesellschaft besser zu machen. Aus den öffentlich zugänglichen Vorträgen erinnere ich mich an Aussagen wie „das Brot, das jeden Tag gebrochen wird“ und „eine Frau ist eine Küche für Babys“.
Laura, zwei Jahre älter, die nach dieser Erfahrung formlos die Kirche verließ, hatte sich auf Anraten dieses Priesters von ihrem ersten Freund getrennt. „Damals hatte ich noch nichts mit meinem Freund gehabt, daher war ich in den Augen des Priesters noch ‚rein‘. Aber die Küsse und Berührungen waren bereits unrein, woraufhin er sagte, ich hätte eine einmalige Gelegenheit, mit meinem Freund Schluss zu machen und mein Leben Gott zu widmen – denn wenn es so weiterginge und wir miteinander schliefen, würde ich meinen Wert verlieren. Nach meiner Rückkehr trennte ich mich wirklich von meinem Freund. Ich fühlte mich schrecklich. Hätte er nicht dafür gekämpft, mit mir zusammenzubleiben, wären wir heute wohl nicht verheiratet“, schildert sie ihre persönliche Erfahrung.
Lauras Klassenkameradin Ema, die heute eine dreijährige Tochter hat, fügt hinzu: „Ich erinnere mich noch, wie sie uns sagten, wir seien leere Gefäße und die Männer wollten uns nur füllen – oder so ähnlich. Der Pfarrer sprach darüber, wie wir bis zur Ehe rein bleiben und unseren Körper nicht einfach so anbieten sollten. Dass wir Frauen naiv seien und leicht glauben würden, was Männer sagen. Allmählich waren alle, die aus der Beichte kamen, den Tränen nahe und ekelten sich vor sich selbst. Sie beschuldigten sich selbst, sündig und schwach zu sein, weil sie bereits mit jemandem zusammen waren. Ich hatte damals einen Freund und wusste, dass ich vor einem Fremden nicht über mein Privatleben sprechen wollte. Ich erinnere mich noch, wie Laura danach am ganzen Leib zitterte. Jetzt, da ich Mutter bin, ist es für mich unvorstellbar, meine Tochter mit einem Fremden in einen Raum einzusperren und ihr zu sagen, dass sie ihm alles über ihr Privatleben anvertrauen muss.“
Magda, die ihre Erziehung als „traditionell“ beschreibt, war schockiert von der Aussage, dass „jeder Mann eine Jungfrau will und dass er sie dann jeden Tag will“. Der Priester riet ihr, nicht mit ihrem Freund allein zu sein und schon gar nicht nach Einbruch der Dunkelheit. Es interessierte ihn, „wo und wie“ ihr Freund sie berührte. „Es war furchtbar unangenehm, ich schämte mich, aber ich hatte das Gefühl, ich müsse antworten, weil er der Priester war“, fügt sie hinzu.
Meine eigene Erfahrung war schon fast in den Hintergrund gerückt, als mir das Domček und seine vielfältigen Bedeutungen angesichts des Aufstiegs der europäischen rechten und klerikal-faschistischen Welle wieder in den Sinn kamen. Denn diese verbreitet sich weniger durch ausgeklügelte politische Strategien als vielmehr durch moralische Werte (oder moralische Panik, die vor allem weibliche, queere und nicht-weiße Körper angreift), selektive Geschichtsinterpretationen und die Neuerfindung ihrer Helden und Heldinnen. Wie resonieren die Figur Anka Kolesárovás, die Subjektivierung des Reinheitsparadigmas oder das Formen junger Menschen mit dieser Dynamik?
Meine Rückkehr zum Domček ist daher mit beiden Ebenen verbunden: mit den persönlichen Erfahrungen ehemaliger Gymnasiastinnen und heutiger Teilnehmer*innen, aber auch mit politischer Dringlichkeit. Trotz der entwaffnenden Atmosphäre der Akzeptanz, die das Zusammensein in den Gruppen und Abende mit akustischer Musik bei Kerzenschein in mir hervorrufen, bleiben mir die Aussagen meiner Respondentinnen und die politischen Aspekte im Hintergrund dieses Projektes präsent. Ich nehme sie fast körperlich wahr: als verdunstende Scham in meinem Gang, in höflichen Gesten, bei gesenktem Kopf und unsicherem Lächeln, als Mechanismen, die an solchen Orten wieder in den Körper drängen. Es ist schwer, sie loszuwerden.
Marsch für das Leben, Pilgern zu Anka
Während ich gut gelaunt mit einer Gruppe den Gemeinschaftsraum betrete, blockieren in Prag, wo ich derzeit lebe, Hunderte von Aktivistinnen und Aktivisten die höchst aufgebauschte Veranstaltung der europäischen Anti-Gender-Bewegung – den Marsch für das Leben (Pochod za život). Vor über zehn Jahren nahm ich im Rahmen einer organisierten Tour religiöser Einwohner*innen von Prešover an einem ähnlichen Marsch in Bratislava teil, der von der slowakischen Vertretung der Bewegung Marsch für das Leben organisiert wurde. (Ich erinnere mich an die Enttäuschung meiner Lehrerin, als sie die Fahnen der Kotleba-Partei bei den Teilnehmenden sah.) Vor drei Jahren blockierte ich denselben Marsch in Prag mit meinem eigenen Körper. (Und mit einem widersprüchlichen Gefühl wich ich den Blicken von Kindern aus, die auf den Schultern ihrer Eltern aufblasbare Embryonen zerknüllten, ohne dies zu verstehen.) Die meisten Domček-Leute, die mir hier auf der Matte Platz machen und damit die geschlechtergerechte Sitzordnung verletzen, könnte man heute als Sympathisanten der Anti-Gender-Ideologie bezeichnen. Ich würde ihnen mit ziemlicher Sicherheit beim Marsch begegnen.Beim Schreiben über das Domček könnte ich die Strategie der Reporterinnen der tschechischen Zeitung Alarm aufgreifen. Deren Journalistinnen haben ähnliche Workshops infiltriert und eine Reihe von Berichten unter dem Titel Mezi bohem a ultrapravicí (Zwischen Gott und den Ultrarechten) verfasst, in denen sie die politisch-demagogischen beziehungsweise lobbyistischen Strategien der Anti-Gender-Bewegungen, maskiert durch eine auf Bürgerinnenrechte und Hilfe fokussierte Sprache, analysieren. Gleichzeitig ließe sich das Domček in einen breiteren Kontext der Analyse der Anti-Gender-Bewegung in der Slowakei einordnen, wie es die Politologin Jana Vargovčíková andeutet, indem sie auf die gezielte Anstiftung zu politisierter moralischer Panik durch Kulturkriege aufmerksam macht.
Ich schließe mich jedoch der Soziologin und Ethnografin Eva Svatoňová an, die betont, dass die in diesen Netzwerken aktiven Menschen nicht vereinfacht als „ungebildete Herde“ betrachtet werden können deren Stimmen zum Nutzen ideologischer Parolen vernachlässigbar sind. Statt zu moralisieren oder zu spotten, muss man nicht nur untersuchen, was an diesen Orten gesagt wird, sondern auch, warum die Menschen überhaupt darauf hören oder, im Fall der zitierten ehemaligen Gymnasiastinnen, warum sie sich entscheiden, diese Orte zu verlassen. Svatoňovás Forschung nähert sich diesen Aspekten aus der Perspektive des tschechischen Kontextes (Tschechien galt lange Zeit als das atheistischste Land Europas). Sie spricht hauptsächlich über Senior*innen, die das Gefühl haben, „die heutige Welt nicht zu verstehen“, und die deshalb zur Zielgruppe genderfeindlicher Rhetorik werden. In der katholischen Ostslowakei allerdings erscheinen das Projekt Domček und Ankas Reinheitsgebot nicht nur als Teil einer ideologischen und politischen Agenda, in der direkte Beteiligung als Mittel zur Verbreitung von Demagogie dient, sondern auch als Element eines alternativen Lifestyles junger Menschen.
Ein säkularer Zwilling
„Wenn ich nicht ins Kloster gegangen wäre, würde ich gern so sein wie du! Mit dem Rucksack um die Welt reisen“, die zwanzigjährige Petra nimmt meine Schulter und umarmt mich herzlich, als wir nach dem letzten Vortrag zum Gemeinschaftshaus gehen. Sie ist Anwärterin eines Nonnenklosters: langer Rock, Turnschuhe, zwei eng geflochtene Zöpfe, ein verschmitztes Funkeln in den Augen. „Wenn ich nicht ich wäre, wäre ich wie du!“, antworte ich, angesteckt durch ihr Lachen. Ein verschwörerisches Lächeln verbindet uns, abseits der Gruppe, nach dem Zapfenstreich vor dem Schlafsaal stehend. In den kommenden Tagen werde ich ihr etwas mehr von meinem „Rausschmiss aus Nonnenklöstern“ als Teenager auf der Suche nach „etwas mehr“ erzählen – „etwas mehr“ – so haben wir gemeinsam den Status der Entscheidung für eine spirituelle Berufung definiert. Wir sprechen auch über die Enttäuschung, die daraus für mich resultierte, das Gefühl von Frieden und Heimat, das sie in ihrer Entscheidung verankerte, und über meine acht Jahre des Nomadenlebens nach meiner Enttäuschung, die meine Suche dann politisierten. Ich teile ihr auch mein journalistisches Anliegen mit, auf das wir nach der Pilgerfahrt noch zweimal in Online-Meetings zurückkommen. „Du bist mein säkularer Zwilling“, ordnet sie mich gleich zu Beginn ein. Ihre Unmittelbarkeit, die Neugier und ihr Humor heben sie aus der Dynamik ehrfürchtigen Lächelns und gekünstelter Haltung hervor, von denen sonst die Interaktionen der Pilgerleute hier geprägt sind.Die meisten meiner jetzigen Freund*innen – viele von ihnen haben mir Nachrichten von der Blockade des Marschs fürs Leben geschickt – sind in Großstädten, Punkclubs oder Sportteams aufgewachsen. Auf dem Land in der Ostslowakei aufzuwachsen, bietet den meisten jungen Menschen jedoch ein viel engeres Spektrum an Sozialisierung, das sich – auf Kosten der Komplexität – auf Kneipe oder Kirche beschränken kann. (Abhängen an Bushaltestellen, auf Bänken vor dem Gemeindeamt, von zu Hause verschwinden, Weihnachtsliedersingen, Chor, Fußball in der Kirchengemeinde).
Auch Petra weist auf diesen Zwiespalt hin: „Ich kam auf Einladung eines Pfarrers aus meiner Gemeinde ins Domček, weil ich in meiner Gemeinde meist die Einzige der jüngeren Generation war. Es war toll, dass ich im Domček Gleichaltrige mit den gleichen Wertevorstellungen treffen konnte. (…) Ich sehnte mich danach, anders zu leben, als ich sah, wie es meinen Freunden in Australien ging. Partys, Alkohol und so weiter. Ich sagte mir immer wieder, dass ich mehr vom Leben will, weißt du? Das Domček ist für mich sehr wertvoll, weil ich mit den Freunden, die ich hier traf, viel reden, tiefgründiger werden konnte und wir uns gegenseitig Mut machen konnten. Das war wahrscheinlich das Erste, was mich ansprach – ich wusste immer, dass ich, wenn ich hierherkam, wirklich inspiriert werden, neue Leute kennenlernen und echte Beziehungen aufbauen würde.“
Petras Lebensstil ist im Vergleich zu den meisten Teilnehmerinnen radikal: Armut trotz Arbeit, Trennung von ihrer Familie und die Vision lebenslanger Enthaltsamkeit. Auch deshalb interessiert mich Ankas Ring, für den sie sich entschieden hat.
„Als ich jünger war und über meine spirituelle Berufung nachdachte, sah ich Keuschheit als eine kostbare Perle, die ich für meinen Bräutigam – sei es mein Mann oder der Herr Jesus – aufbewahrt habe. Diese Perle bedeutete vor allem körperliche Reinheit, die ich als Geschenk verstand. Niemand drängte mich zu irgendetwas – es war kein Gebot, dass ich bis zur Hochzeit oder für den Rest meines Lebens rein bleiben musste. Ich hatte vielmehr das Gefühl, dass es an mir lag, was ich mit diesem Geschenk machen würde. Und ich hatte nicht nur Dates mit gläubigen Jungs. Deshalb glaube ich, dass Anka mir viel gegeben und mir geholfen hat, diese Perle in meinen Händen zu behalten.“ Während des Gesprächs macht sie eine Geste gefalteter Hände in Form einer sich öffnenden Muschel, die sie mehrmals an ihre Brust legt. „Und dann beschloss ich, die Perle dem Herrn Jesus zu schenken. Für mich ist ‚rein‘ also nicht nur eine körperliche Sache, dass ich aus Liebe zu Gott auf das Körperliche verzichte, sondern es ist für mich ein Zeichen meiner Treue zu Gott.“ Lächeln. Pause. Lachen.
Die Metapher der Perle, die für Petra und für mich aus derselben Quelle kam, berührt mich. Es verblüfft mich, wie sie zwischen uns auseinanderfällt und somit unser Eigenes und zugleich etwas Fremdes wird. Julia Kristevas Abjektion? Das, was man ausschließt, um seine Identität zu bewahren? Dieses abstoßende und zugleich faszinierende mentale Artefakt hat eine seltsame Allianz zwischen uns geschaffen. Ihre Voraussetzung ist die Unvereinbarkeit. Wir wünschen einander alles Gute. Und auf Wiedersehen. Und bis zum nächsten Mal.
Das letzte transzendente Zeichen, dass ich nach zahlreichen Aufenthalten in slowakischen Frauenklöstern als Teenager endgültig einem Orden beitreten würde, blieb aus. Es kam jedoch der Moment, als ich mich von der institutionellen Religion verabschiedete: Die Nonnen der Marienschwestern in Drienovec erzählten mir, Christus sei ihnen nachts erschienen und lässt mir ausrichten, ich würde nie glücklich werden, wenn ich nicht bei ihnen bliebe. Daraufhin haben sie mich als Minderjährige ohne die Zustimmung meiner Eltern ins Ausland eingeladen. Dieser Orden, der noch immer unter dem Schirm der slowakischen katholischen Kirche agiert und für Fälle und Verdächtigungen von Manipulation, körperlicher Gewalt und sogar Entführungen bekannt ist, lenkte meine Suche nach Wundern dann woandershin.
Weißt du, was du mit dem Leben anfangen sollst?
Am Ausgabefenster fürs Frühstück treffe ich Richard. Das letzte Mal habe ich ihn vor zehn Jahren in einem Kloster bei einer der Meditationsexerzitien gesehen. Ich kenne ihn auch nur vom Sehen. Wir umarmen uns herzlich. Einige Jahre Arbeit in Deutschland, Montage, Wohnheime, Pendeln zwischen Ländern. „Ich war dort so einsam. Und dann hat mir jemand vom Domček erzählt, also bin ich hierhergekommen.“ In Kurzversion erzähle ich ihm von meinem geografischen und ideologischen Nomadentum, das ich seit unserem letzten Treffen gelebt habe, worauf er ermutigend und mitfühlend antwortet: „Wenn du nicht weißt, was du mit deinem Leben anfangen sollst, dann komm zum Domček.“
Die Aufrichtigkeit der Suche, die Ehrfurcht vor dem Finden und die Sorgfalt bei der Aufrechterhaltung von Beziehungen spiegeln Eigenschaften wider, die die entfremdeten Risse des Alltags menschlicher machen.
Der letzte Tag des Pilgerprogramms. Tag der Göttlichen Barmherzigkeit. Im Kirchenkalender ist dies ein Feiertag, an dem selbst dem „Unwürdigsten“, der beichtet und zur Eucharistie tritt, alle Sünden vergeben werden und sich der Himmel öffnet. Als der Priester uns während des Morgenprogramms daran erinnert, stupst mich einer aus meiner Gruppe mit dem Ellenbogen an. Er zieht bedeutungsvoll die Augenbrauen hoch und grinst, um anzudeuten, dass es mich betrifft. Doch sowohl Róbert als auch Petra merken es und machen mir Mut, mich nicht unter Druck gesetzt zu fühlen und entsprechend meinen eigenen Gefühlen zu handeln. Der Herr ist ja geduldig und liebt mich auch so.
* Wir haben die Namen aller Befragten geändert, da diese anonym bleiben wollten.
Dieser Artikel erschien zuerst im slowakischen Magazin Kapitál, einer unserer Medienpartner für PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES
Juni 2025