Postwachstumsökonomie  Diese Unternehmen wollen alles. Außer wachsen

Diese Unternehmen wollen alles. Außer wachsen Illustration: © Doğu Kaya

Ein Bio-Cracker-Hersteller aus Niedersachsen, ein US-amerikanischer Outdoorkonzern und ein schwäbischer Möbelbauer: Sie alle wollen wirtschaften, ohne Schaden anzurichten. Sind sie die Vorboten einer Welt des Postwachstums?

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Dieser Text erschien zuerst auf Perspective Daily – „Für einen Journalismus, der fragt: Wie kann es weitergehen?“

Wir bedanken uns für die Erlaubnis zur Zweitveröffentlichung.

Es ist Ende Oktober 2020. Alexander Wies und Jannis Birth stehen in der Höhle der Löwen und kämpfen um ein Investment. Sie wollen in der Show des Fernsehsenders Vox potenzielle Geldgeber*innen wie Milliardär Carsten Maschmeyer oder CSU-Politikerin und Unternehmerin Dagmar Wöhrl davon überzeugen, 75.000 Euro in ihr Unternehmen zu investieren. Im Gegenzug bieten sie eine Beteiligung von 15 Prozent an ihrem Betrieb an. AHO.BIO produziert dreieckige Cracker aus gekeimtem Urgetreide, verkauft sie in plastikfreien Verpackungen und will das nachhaltigste Start-up Deutschlands werden.

Kann Nachhaltigkeit funktionieren mit einem Investor, der ein Produkt in kürzester Zeit möglichst populär machen und möglichst viel Umsatz und Gewinn erzielen will? In einer Gedankenwelt, in der Wachstum ein Wert an sich ist? Der Einsatz in der Höhle der Löwen endet mit Kritik am Geschmack, Lob für die Idee, aber ohne ein Investment für die Unternehmer aus dem niedersächsischen Bad Münder in der Nähe von Hannover. Heute sind Alexander Wies und Jannis Birth froh darüber, denn sie haben dadurch die volle Kontrolle über ihre Firma behalten.

Ihr Ziel ist es jetzt, einen möglichst gleichbleibenden Umsatz zu erzielen. Sie möchten so etwas wie ein Postwachstumsunternehmen sein, in dem andere Dinge zählen als Größe und Umsatzwachstum.

Wie soll das funktionieren? Können sich Unternehmen von Wachstum unabhängig machen und was bringt es, wenn sie es tun? Die Antworten darauf suche ich in diesem Text.

Verloren und trotzdem gewonnen

Auch wenn die Promis aus der Höhle der Löwen nicht investieren wollten: Die Fernsehsendung hat AHO.BIO nach eigenen Angaben einen so großen Schub gegeben, dass es die 75.000 Euro aus der Show gar nicht mehr brauchte. Aus dem Stand kamen mehrere Zehntausend Bestellungen ihrer Cracker zusammen, die sie als lokales Superfood bewerben. Am Anfang sei es wichtig gewesen, eine bestimmte Größe zu erreichen. „Wenn wir unsere Zutaten kaufen, ist es günstiger, größere Mengen zu kaufen, und beim Versand sinkt auch mit der Menge der Preis“, sagt Geschäftsführer Alexander Wies.

Alexander Wies und Jannis Birth (von links) bei ihrem Auftritt in der achten Staffel der TV-Show „Die Höhle der Löwen“ 2020 Alexander Wies und Jannis Birth (von links) bei ihrem Auftritt in der achten Staffel der TV-Show „Die Höhle der Löwen“ 2020 | Foto: © Vox | Bernd-Michael Maurer Ziel war es, einen Umsatz von 100.000 Euro im Monat zu erreichen und diesen zu halten. Wächst der Umsatz über den gewünschten Betrag, schaltet AHO.BIO weniger Werbung. Alexander Wies und Jannis Birth drosseln also bewusst die Verkaufsmenge. Für viele Unternehmer*innen, die vor allem Umsatz- und Gewinnmaximierung interessiert, ist das Unsinn. Bei einem Investment von einem Geschäftsmann wie Carsten Maschmeyer hätte es sicher hitzige Diskussionen gegeben. Dennoch: Das Unternehmen kann bisher alle Mitarbeiter*innen bezahlen und Geld für Instandhaltung und schlechte Zeiten auf die Seite legen.

Doch es geht um mehr als Geld. Unternehmenssitz ist ein ehemaliger Bauernhof auf dem Land. Die meisten der zwölf Mitarbeitenden wohnen hier auch zusammen, ihre tägliche Arbeitszeit ist auf fünf Stunden begrenzt. „Wir schaffen es seit etwa vier bis fünf Monaten, unser Umsatzziel zu halten, die Mitarbeiterzahl ist stabil. Spannend wird es, herauszufinden, wie das alles langfristig funktioniert“, sagt Alexander Wies. Als natürliche Wachstumsgrenze sieht er die Kapazitäten der aktuellen Produktionshalle. Neben den Crackern verkauft AHO.BIO auch Backmischungen und Porridge aus gekeimtem Korn, das Unternehmen hat so mehr als nur ein Standbein und kann deshalb seine Halle effizienter nutzen, bald sollen auch noch Nahrungsergänzungsmittel dazukommen. AHO wächst also irgendwie schon – aber nicht nach außen.

Ist Unternehmenswachstum Kopfsache?

Das ist eine Beobachtung, die auch der Professor für Betriebswirtschaft an der Hochschule Heilbronn, Daniel Deimling, in seiner Forschungsarbeit gemacht hat. Er promovierte bereits vor einigen Jahren über Unternehmen, die nicht wachsen wollen – und denen es trotzdem gut geht. Wie funktioniert es, erfolgreich zu stagnieren? Laut Deimling hat der Wachstumszwang, den viele Unternehmen spüren, seinen Ursprung im Shareholder-Value-Ansatz.

Zu den Forschungsschwerpunkten von Daniel Deimling gehören unter anderem die kritische Betriebswirtschaftslehre und Postwachstumsunternehmen. Zu den Forschungsschwerpunkten von Daniel Deimling gehören unter anderem die kritische Betriebswirtschaftslehre und Postwachstumsunternehmen. | Foto: © privat Unternehmenswachstum gilt hier als Mittel zur Steigerung des Unternehmenswertes und wird damit als selbstverständliches Ziel hingenommen, auch von Unternehmen, die gar nicht an der Börse gehandelt werden. Gibt es Investoren, wächst der Anspruch, den Wert des Unternehmens zu erhöhen und damit das Geld der Investierenden zu vermehren.

Shareholder-Value

Der Shareholder-Value-Ansatz besagt im Kern, dass unternehmerisches Handeln ausschließlich an den Interessen der Eigenkapitalgeber ausgerichtet werden soll – also den Interessen von Teilhabern. Langfristige Gewinnmaximierung und damit die Steigerung des Unternehmenswertes gelten als oberstes Ziel. Dazu müssen Unternehmen stetig wachsen. In Reinform findet sich der Ansatz in börsennotierten Aktiengesellschaften.


Unternehmer*innen, die nicht den Wert des Unternehmens um jeden Preis endlos steigern wollen, finden laut Deimling oft eigene Strategien, Wachstum zu umgehen. Zusammen mit Co-Autor*innen hat er drei zentrale Faktoren herausgefiltert, die dazu beitragen können, gefühlten Wachstumszwang in Unternehmen zu überwinden.
 
  1. Eine Unique Selling Propositon (USP) – auf Deutsch: ein Alleinstellungsmerkmal schaffen. Das kann eine bestimmte Technologie sein, aber auch Vorstellungen und Bilder, die Kund*innen mit diesem Unternehmen verbinden. Die Geschichte des Unternehmens kann also Teil des Alleinstellungsmerkmals sein. Bei AHO.BIO ist es neben dem Superfood auch die Unternehmenskultur und das Leben drumherum. Die USP ist in der Theorie dazu vorgesehen, ein Unternehmen besonders gut wachsen zu lassen. Laut Deimling lässt sie sich aber auch anders nutzen – als Werkzeug, um keinen äußeren Wachstumszwang zu verspüren. Wer ein starkes Alleinstellungsmerkmal hat, ist weniger austauschbar. Deswegen kann ein anderes Unternehmen den Konkurrenten nicht einfach mit einem billigeren Produkt ausstechen.
  2. Kooperatives Wirtschaften – wer keinen aktiven Wettbewerb gegen andere Unternehmen betreibt, kann gemeinsame Strategien mit anderen Unternehmen im Umfeld entwickeln, zum Beispiel Maschinen teilen oder Einkaufs- und Vermarktungsstrategien miteinander absprechen. Unterschiedliche Unternehmen können so zusammen eine größere Bedeutung gewinnen, ohne dafür selbst wachsen zu müssen. Das macht sie weniger angreifbar für neue Unternehmen, die sie vielleicht mit viel Geld im Rücken verdrängen wollen.
  3. Verzicht auf Fremdkapital – wenn ein Unternehmen keine Kredite zurückzahlen muss, kann es freier über die Unternehmensziele entscheiden. Auch hilft es, wenn ein Unternehmen auf das Kapital von Investor*innen verzichtet. Großunternehmen und Aktiengesellschaften haben es deutlich schwerer, wachstumsneutral zu wirtschaften. Das hängt mit dem schon beschriebenen Konzept des Shareholder-Values zusammen.

Stahlharte Stagnation

45 Mitarbeiter*innen hat die Richard Henkel GmbH aus dem Kochertal bei Schwäbisch Hall. So solle es bei dem Hersteller von Stahlrohrstühlen und -liegen auch bleiben, wachsen wolle das Unternehmen nicht, schreibt Geschäftsführerin Susanne Henkel per E-Mail. „Wir konzentrieren uns stattdessen auf unsere Prozesse, Materialien und Fertigungswege – da liegt enorm viel Verbesserungspotenzial, um zu ‚sparen‘.“ Zusätzlich bietet Henkel Reparaturdienste für die Möbel an, Ersatzteile neuerer Designs passen immer auch für die älteren Modelle.

Die Co-Geschäftsführenden Susanne und Kai Henkel möchten mit ihrem Unternehmen möglichst wenig Ressourcen verbrauchen. Die Co-Geschäftsführenden Susanne und Kai Henkel möchten mit ihrem Unternehmen möglichst wenig Ressourcen verbrauchen. | Foto: © Richard Henkel GmbH Wachstum versteht Susanne Henkel als Wachstum der Qualität des Unternehmens. Es geht ihr um bessere und effizientere Produktionsprozesse und nicht die Größe des Unternehmens und seines monetären Wertes. Das Unternehmen soll „nach innen“ wachsen, also besser werden. Das bedeutet einen geringeren Ressourcenverbrauch, kürzere Transportwege, weil Rohstoffe möglichst aus der Nähe stammen, gute Arbeitsbedingungen. Was das Unternehmen an Rohstoffen und Energie spart, nutzt Henkel aber nicht, um immer mehr zu produzieren und zu verkaufen – es bleibt bei einer Produktionsschicht am Tag und einem ähnlichen Jahresumsatz. So vermeidet Henkel den sogenannten „Rebound-Effekt“, bei dem Effizienzgewinne durch eine höhere Produktion am Ende doch zu mehr Ressourcen- und Energieverbrauch führen.

So wie die Henkel GmbH wirtschafte, bleibe automatisch Geld für Instandhaltung, neue Anschaffungen und schlechte Zeiten übrig, schreibt Susanne Henkel. Eine reine Automatisierung, um bei den Personalkosten sparen zu können, kommt für sie nicht infrage. Stattdessen setzt Henkel auf eine Zusammenarbeit von Roboter und Mensch. Mit Robotern allein könne sie schließlich kein „Schwätzle“ halten. Das Unternehmen pflegt auch Kooperationen mit anderen Firmen, um das Wissen über die effizienteren Produktionsweisen weiterzugeben.

Welche Rolle spielt die Größe?

Die Beispiele von AHO.BIO, Henkel, aber auch anderen Unternehmen zeigen: Vor allem inhaber*innengeführte kleine und mittlere Unternehmen entscheiden sich immer öfter dagegen zu wachsen. Werden die Unternehmen größer, nimmt auch der Einfluss äußerer Faktoren zu: Investor*innen, Verdrängungswettbewerb auf einem umkämpften Markt, geringere Margen, manchmal auch die Austauschbarkeit von Produkten.

Deswegen ist der Fall von Patagonia interessant. Der Hersteller von Outdoorkleidung hatte zuletzt einen Umsatz von fast einer Milliarde US-Dollar. Nach den Angaben des neuen Chefs Ryan Gellert soll Patagonia künftig nicht mehr größer werden. Stattdessen setzt Patagonia auf bessere Qualität, mehr Recyclingmaterial und Reparaturcenter – in denen Jacken und andere Bekleidung für die Kunden wieder fit gemacht werden. Außerdem will das Unternehmen seine Lieferketten unter die Lupe nehmen und die Arbeitsbedingungen überall verbessern.

Der Gedanke: Wer seine Kraft nicht für äußeres Wachstum verbraucht, hat eher Ressourcen frei, um an inneren Prozessen zu feilen. Patagonia steht dabei noch relativ am Anfang und muss den Fuß erst mal auf die Bremse bekommen. Aber: Patagonia besetzt eine selbstgeschaffene Nische als aktivistisches Modeunternehmen, das einen festen Teil seines Umsatzes spendet. Kund*innen kaufen mehr als ein hochpreisiges Kleidungsstück.

Kann es gelingen, dass nicht nur Unternehmen in einer bestimmten Nische wachstumsunabhängig werden, sondern alle?

Unternehmenswachstum versus gesamtwirtschaftliches Wachstum

Mit dieser Frage beschäftigt sich Jakob Hafele. Er ist Geschäftsführer des Zoe-Instituts für zukunftsfähige Ökonomien, ein Thinktank, der sich für nachhaltiges Wirtschaften einsetzt, Unternehmen und Politik berät. Es sei wichtig, sich auf der Unternehmensebene nicht zu sehr am Begriff des Wachstums festzubeißen, sondern nach den zentralen Zielen der Unternehmen zu fragen, sagt er.

Jakob Hafele sucht mit dem Bonner Zoe-Institut nach Wegen in eine nachhaltigere Wirtschaft. Jakob Hafele sucht mit dem Bonner Zoe-Institut nach Wegen in eine nachhaltigere Wirtschaft. | Foto: © Zoe-Institut Bedeutet: Am Ende zählt die Gesamtbilanz. Steigen der Ressourcenverbrauch und der CO2-Ausstoß insgesamt oder sinken diese Zahlen? Ob ein Unternehmen allein größer oder kleiner wird, sagt darüber noch nicht zwingend etwas aus. Wächst ein Unternehmen, das effizient mit Rohstoffen und CO2-Ausstoß umgeht, und schrumpft im Gegenzug eines, das hier schlechter wirtschaftet, ist durchaus etwas gewonnen.

„Ich würde primär darauf gucken, ob Unternehmen bestimmte soziale und ökologische Ziele erreichen können. Dann ist es gut, wenn sie wachsen und so der Anteil an sozial-ökologisch wirtschaftenden Unternehmen vergrößert wird“, sagt Jakob Hafele.

Zugleich kann aber ein schon bestehendes, wachstumsneutrales Unternehmen wie Henkel auch ohne Verdrängung eines Mitbewerbers intern effizienter werden und so CO2-Ausstoß und Ressourcenverbrauch im laufenden Betrieb aktiv verringern. Das gilt auch für Patagonia. Und das kann Auswirkungen auf den gesamtwirtschaftlichen Ressourcenverbrauch und CO2-Ausstoß haben.

Nachhaltiges Wirtschaften muss ein „No-Brainer“ werden – für alle

Für Jakob Hafele ist die zentrale Frage, wie der Staat die Regeln so ändern kann, dass Unternehmen von sich aus soziale und ökologische Ziele verfolgen und diese maximieren, statt den Shareholder-Value über alle anderen Unternehmensziele zu stellen. Dass es also für alle Unternehmen Vorteile bringt, so zu handeln, wie es Henkel oder AHO.BIO bereits aus Überzeugung tun.

Wie kann das gelingen? Zu den politischen Möglichkeiten könnten ganz verschiedene Maßnahmen gehören, zum Beispiel neue Unternehmensformen einzuführen, die weniger Anreize für Wachstum setzen, die Besteuerung von Ressourcenverbrauch oder begrenzte Kontingente für Rohstoffnutzung.

Susanne Henkel hat mit ihrem Familienunternehmen erfolgreich vorgemacht, wie Wachstumsunabhängigkeit konkret funktionieren kann. Alexander Wies und Jannis Birth von AHO.BIO sind auf dem Weg, es ebenfalls zu versuchen. Auch wenn es gesamtwirtschaftlich ein kleiner Tropfen auf einen sich erhitzenden Planeten ist, hoffen alle auf eine Signalwirkung ihrer Ideen.

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