Raymond Poulidor und die Tour de France  Wie kein Zweiter

Raymond Poulidor während der Tour de France 1976
Raymond Poulidor während der Tour de France 1976 Foto: René Milanese, CC BY-SA 3.0

Er schrieb Radsport-Geschichte als der Mann, der nie die Tour gewann: Raymond Poulidor war einer der Ersten, der medial als „ewiger Zweiter“ abgestempelt wurde. Seiner Beliebtheit hat das nie geschadet. Im Gegenteil. Eine sportphilosophische und -psychologische Annäherung an das Phänomen, als Athlet oftmals sehr knapp gescheitert zu sein, in der Gunst des Publikums dennoch ganz oben zu stehen.

Tour de France 1964, die entscheidende Phase der 20. Etappe. Alle Kameras und Blicke sind jetzt auf die zwei Franzosen gerichtet, die in diesem Moment Meter für Meter den Puy de Dôme erklimmen. Ein Vulkan im Zentralmassiv, erst ein gutes Jahrzehnt zuvor ins Programm aufgenommen. Ein neuer Schauplatz der Qual im Sattel. 1000 Meter Höhenunterschied auf vier Kilometern, die perfekte Basis also für sportliche Dramatik, für einen Showdown in der Auvergne.
 
Was folgt, ist tatsächlich ein Spektakel. Ein sagenhafter Moment, der fortan das Symbolbild eines epischen Duells sein wird. Seite an Seite, Lenker an Lenker, Schulter an Schulter treten die beiden Fahrer mit schwerem Tritt und der Erschöpfung nahe in die Pedale. Kurz sieht es so aus, als würden beide in den nächsten Sekunden umkippen, mit ihren Stahlrädern zusammenprallen und auf dem erhitzten Boden landen. Beide sind zwar mental im Tunnel, gleichzeitig jedoch inmitten von Zuschauermassen, ihren frenetischen Landsleuten, die den steilen Weg nach oben säumen und die Fahrer anfeuern.
 
Die beiden Protagonisten heißen Jacques Anquetil und Raymond Poulidor. Der Eine: der wohl beste Fahrer seiner Zeit. Er hat das wichtigste Etappenrennen der Welt bereits vier Mal als Sieger beendet – und nur zwei Tage später wird er einen fünften Toursieg folgen lassen. Der Andere: über Jahre hinweg Anquetils größter Herausforderer und Widersacher. Er hat die berühmte Grande Boucle aber weder gewonnen noch wird ihm das in den Folgejahren gelingen.
 
Zwar kann er sich an diesem Juli-Tag des Jahres 1964 etwas absetzen und 14 Sekunden auf seinen favorisierten Rivalen herausfahren. Doch dieser Angriff kommt zu spät, um seinen Rückstand im Gesamtklassement noch aufzuholen. Am Ende heißt es somit erneut: Zweiter, Raymond Poulidor.

Verwechslung von Leistung und Erfolg

„Manchmal frage ich mich: Säße ich jetzt hier zum Interview vor dem Mikrofon, wenn ich die Tour de France gewonnen hätte?“ So hat es Poulidor persönlich bei einem seiner zahlreichen Fernsehauftritte einmal formuliert. Im November 2019 ist er verstorben. Doch sein Beiname überlebte ihn. In zahlreichen Nachrufen tauchte sie wieder auf. Diese eine Formulierung, die seit den 1960er Jahren an ihm haftet wie damals die Startnummern auf seinem Mercier-BP-Trikot: L'éternel second, der ewige Zweite.
 
Was ist anzufangen mit dieser viel zitierten Bezeichnung für den vermeintlich ersten Verlierer, die nicht allein Poulidor auferlegt bekam?
 
Laut Prof. Dr. Arno Müller von der Universität Erfurt hat das Stigma des „ewigen Zweiten“ zwei Ursachen: Einerseits sei das ein mediales Produkt, weil der Fokus in der Berichterstattung immer auf dem Ersten liege. „Anderseits ist es so, dass das Publikum oder die Öffentlichkeit Leistung und Erfolg oft verwechselt. Wenn man überlegt: Ein zweiter Platz bei der Tour de France, das ist doch eine Wahnsinnsleistung!“ Müller plädiert daher dafür, sich noch stärker ins Bewusstsein zu rufen, was eine sportliche Leistung sei und diese entsprechend zu würdigen. „Das haben wir so ein bisschen verlernt, da sollte man gegensteuern“, so der Sportphilosoph.
 
Die radsportbegeisterten Franzosen wussten und wissen die Leistungen des einfachen Bauernsohns Poulidors sehr wohl zu schätzen. Damals wie heute. Er war beliebt, beliebter als Kontrahent Anquetil, beliebter als fast alle französische Rad-Granden der nachfolgenden Generationen. Davon zeugt auch der liebevolle Spitzname – „Poupou“: „Anquetil galt wegen des kühlen Rationalismus, der ihm zugeschrieben wurde, als die Verkörperung des modernen Frankreich; Poulidor repräsentierte den warmen Traditionalismus von la France profonde.“ Mit diesen Worten beschreibt Benjo Maso diese Konstellation der Gegensätze. Der Soziologe hat in seinem eindrucksvollen Buch Der Schweiß der Götter die Geschichte des Radsports niedergeschrieben.
 
Diese Polarisierung mag im Falle des Duells Poulidor vs. Anquetil eine nicht unwichtige Rolle gespielt haben. Dennoch ist es keine Seltenheit, sondern ein wiederkehrendes Phänomen, dass der geschlagene Zweitplatzierte in der Gunst des Publikums ganz oben steht: „Das vermeintliche Scheitern bringt eine sehr menschliche, verletzliche Seite der Helden ins Spiel“, erklärt Müller. „Die Projektionsfläche, also die Identifikationsmöglichkeiten, die Sportler ohnehin immer bieten, werden mit diesem scheinbaren Scheitern noch stärker.“
 

Erlaubnis für Alibis

Poulidor fand schnell Gefallen an seiner Rolle des geliebten Gescheiterten. In Gesprächen über seine sportliche Laufbahn mit Journalisten und Weggefährten wirkte er nie so, als würde es ihn schmerzen, als würde er noch immer damit zu kämpfen haben, bei der Großen Schleife durch Frankreich nie den ganz großen Wurf geschafft zu haben. Nice guys finish last, hieße es wohl jenseits des Ärmelkanals.
 
Was sicher half: Finanziell erging es ihm nicht schlechter als Dauersieger Anquetil. Die enorme Beliebtheit zahlte sich im wahrsten Sinne aus, was seinen Rivalen naturgemäß störte. Anquetil fühlt sich und seine Erfolge nicht genügend wertgeschätzt, was auch das Verhältnis der beiden schwer belastete. Erst nach ihrem Karriereende sollte sich doch noch eine innige Freundschaft entwickeln.
 
Bis ins hohe Alter und aus nächster Nähe an der Strecke verfolgte Poulidor das so prestigeträchtige Radrennen durch Frankreich. Er genoss dabei, dass ihm die Herzen noch immer zuflogen, wo auch immer das Peloton gerade Halt machte. 2019, nur wenige Monate vor seinem Tod, gestand der 83-Jährige: „Das soll nicht überheblich klingen, aber an dem Tag, an dem man mich auf der Straße nicht mehr erkennt, werde ich sehr traurig sein.“ Einen Moment, den er wohl nicht erlebt hätte, selbst wenn er 100 Jahre alt geworden wäre.
 
Zudem dürfte es Poulidor im Laufe der Jahre auch gelungen sein, was Müller Sportlern im Umgang mit ihrer Rolle als „erster Verlierer“ mit auf den Weg gibt: „Das vermeintliche Versagen zu externalisieren“. Leicht verkürzt gibt einem dieses sportpsychologische Prinzip eine Erlaubnis für Alibis – etwa schlechtes Wetter, schlechtes Material und sonstige äußerliche Faktoren, die einem den entscheidenden Strich durch die Erfolgsrechnung gemacht haben. „Das Positive verstärken, das Negative an sich abprallen lassen. Dann kann es gelingen, dass man an solchen Situationen nicht zerbricht“, so der Ratschlag des Wissenschaftlers.
 
Von Poulidor selbst sind solche vermeintlichen Ausreden nicht überliefert. Dafür sprang ihm die französische Presse oftmals zur Seite und schob seine Niederlagen auf Defekte und Stürze: „Es ist ein bekanntes Phänomen, dass ein Fahrer der gut fährt, selten Pannen hat“, schreibt Maso in seiner Geschichte des Radsports. „Wenn Anquetil tatsächlich seltener Pannen hatte als sein Rivale, dann ist dies sein eigener Verdienst. Trotzdem waren die Journalisten selten geneigt, dies in ihrer Betrachtung des Phänomens Poulidor mit aufzunehmen.“ Wohingegen der Betroffene selbst zu verstehen und zu akzeptieren schien, dass da ein anderer einfach noch einen Hauch besser ist.
Sportphilosoph Prof. Dr. Arno Müller von der Universität Erfurt Sportphilosoph Prof. Dr. Arno Müller von der Universität Erfurt | Foto: © Universität Erfurt

Lieber Dritter als Zweiter?

Diese Akzeptanz fällt sicher nicht leicht. Weder Poulidor noch anderen Sportlern in einer solchen Situation. Vor allem dann, wenn man wirklich ganz knapp an einem Titel oder einer Goldmedaille vorbeischrammt. Es gibt sogar wissenschaftliche Studien, wonach Drittplatzierte bei Olympischen Spielen zufriedener sind als Zweitplatzierte. Dies ist auf sogenanntes kontrafaktisches Denken der Athleten zurückzuführen: Der Dritte jubelt darüber, es überhaupt aufs Podium geschafft zu haben. Auf Rang zwei dagegen ist die Freude mitunter getrübt, weil der vergebenen Chance auf den ganz großen Triumph nachgetrauert wird. Zu diesem Ergebnis kommt eine Untersuchung von Psychologen der Northwestern University’s School of Management in Illinois / USA.
 
Kampfgeist auf dem Rad, feiner Humor, keine Spur von Verbitterung – reicht das schon als Begründung für den Legendenstatus Poulidors? „Moralische Siege machen immer mehr Eindruck als wirkliche Siege“, schreibt Maso in seinem Standardwerk über die Historie des Straßenradsports in Bezug auf die „Poupoularité“ des dreimaligen Tour-Zweiten. „Dadurch, dass Sportler oder Mannschaften in den Medien zu ‚ewigen Zweiten‘ gemacht werden, halten sie sich natürlich stabiler im kollektiven Gedächtnis“, ergänzt Müller.

Nur die halbe Wahrheit

Poulidor der Verlierertyp, der es immer wieder versucht, aber nie an die Spitze geschafft hat: Man mag sich vielleicht schon denken, dass das nur der halben Wahrheit entspricht. Bei der Etablierung seines Beinamens wurde nichts hinzugedichtet, sondern einfach einige Fakten sehr bewusst unerwähnt gelassen.
 
Ja, er vermochte nie bei der Tour de France zu triumphieren oder das bedeutsame Gelbe Trikot zu tragen. Und ja, es stand in den Ergebnislisten oft eine Zwei vor seinem Namen. Bittererweise auch dann noch, als Anquetil längst abgetreten war. 1974 musste Poulidor bei der Tour einem gewissen Eddy Merckx die Vorfahrt lassen.
 
Und dennoch: Nach seiner langen Laufbahn auf Europas Straßen und Pässen stehen für Poulidor insgesamt beeindruckende 195 Siege zu Buche. So wurde er unter anderem 1961 französischer Meister. Drei Jahre später, nur wenige Wochen vor dem epischen Ellbogenduell mit Jacques Anquetil am Puy de Dôme, landete er bei der Spanien-Rundfahrt, einer der drei Grand Tours, ganz vorn.
 
Kein Wunder also, dass „Poupou“ zufrieden von uns ging, mit sich und seinem Sportlerleben völlig im Reinen: „Oft ist die Rede von Poulidor, dem Pechvogel. Nein. Ich hatte enorm viel Glück“, sagte er in einem seiner letzten Interviews. So spricht kein ewiger Zweiter, sondern ein echter Gewinner.

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