Witwen in Indien  Der Fluch der toten Ehemänner

Lokale NGOs beraten Frauen in Indien, wie sie an Entscheidungsprozessen in den Gemeinden partizipieren können.
Lokale NGOs beraten Frauen in Indien, wie sie an Entscheidungsprozessen in den Gemeinden partizipieren können. Foto: © Boba Markovič Baluchová

Jede dritte Witwe in Indien unternimmt einen Selbstmordversuch. Denn Witwen werden dort häufig aus ihrer Gemeinschaft ausgestoßen. Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ist ihnen nach dem Tod des Ehemanns verboten. Und wenn dann noch Belästigung und Gewalt durch die Familie des Mannes hinzukommen, scheint es genug Gründe zu geben, sein Leben vorzeitig zu beenden. Aber woher kommen dieser Aberglaube und das negative Bild von Frauen, die nach dem Verlust ihres Ehepartners statt Unterstützung nur Entfremdung erfahren? Fünf Frauen aus den indischen Bundesstaaten Telangana und Andhra Pradesh können von Erfahrungen mit dem Tabustatus Witwe berichten – und wie sie begannen, sich dagegen zu wehren.

In vielen Teilen Indiens werden Frauen als Bürgerinnen zweiter Klasse wahrgenommen, als Eigentum der Männer und ihrer Familien. Mädchen haben kaum Chancen auf Bildung und die Entwicklung von Fähigkeiten, die Aussichten auf Unternehmertum, Grundbesitz und finanzielle Unabhängigkeit sind nahezu gleich Null. Aufgrund des Mangels an sauberem Wasser und der schlechten sanitären Bedingungen in einem Land mit mehr als einer Milliarde Einwohner wird die Würde von Mädchen bereits in jungen Jahren häufig mit Füßen getreten, vom Stigma der Menstruation ganz zu schweigen.
 
Die Hälfte der indischen Frauen sind Analphabetinnen, ebenfalls eine Hälfte heiratet bereits weit vor dem 18. Lebensjahr. Ihre Aufgabe ist es, einen Sohn zur Welt zu bringen und sich um den Haushalt zu kümmern. Das heißt, um den Ehemann. Wenn das Familienoberhaupt stirbt, scheint auch das Leben der jungen Witwe vorbei zu sein. Schuld daran sind der anhaltende Aberglaube und die Tatsache, dass Witwen tabu sind, und dies nicht nur in ländlichen Gemeinden. Und das Kastensystem verschlimmert die Situation zusätzlich. Nach dem Verlust ihres Mannes muss eine Frau sich den „Bindi“, den orangefarbenen Punkt über der Nasenwurzel, von ihrer Stirn entfernen, die Blumen aus ihren Haaren nehmen und die traditionellen Armreifen (Bangles) durch das Schlagen gegen eine Wand von ihren Handgelenken entfernen. Ohne diesen Schmuck ist jedoch für jeden sofort offensichtlich, dass sie Witwe ist. Und es kommt zur Ausgrenzung.


Sich mit Blumen, Armreifen und Bindi zu schmücken, ist für viele Inderinnen wichtig. Sich mit Blumen, Armreifen und Bindi zu schmücken, ist für viele Inderinnen wichtig. | Foto: © Boba Markovič Baluchová

Arrangierte Ehen in jungen Jahren

Es ist schwer zu sagen, ob dies aus der hinduistischen Religion kommt, oder ob es sich eher um hartnäckige Traditionen handelt, aber insbesondere in ländlichen Gegenden halten sich noch immer schändlicher Aberglaube und Mythen über Frauen, die ihren Ehemann verloren haben. Wenn man beispielsweise morgens zur Arbeit geht und unterwegs eine Witwe sieht, senkt man den Blick und geht schnell zurück nach Hause, um die Strecke erneut zurückzulegen und so mögliches Unglück zu vermeiden.
 
Die junge Sowjanya aus der Gemeinde Bandoutapuram bekam dieses Gefühl der Ausgrenzung aus der Gemeinschaft am eigenen Leib zu spüren. Sie heiratete mit 13, brachte mit 15 Zwillinge zur Welt und als sie 20 Jahre alt war, hatte sie bereits drei Kinder – alles Töchter. Ein Jahr später wurde sie Witwe. Obwohl sie noch immer jung war, durfte sie keine moderne Kleidung oder Schmuck und Make-Up mehr tragen. Die Familie ihres Mannes nahm ihr das Haus weg, da sie es ja nicht brauche, wenn ihre Töchter heiraten und in andere Häuser ziehen. Sowjanya wollte sich umbringen, brachte es aber nicht über sich, ihre drei Töchter dem Schicksal zu überlassen, da diese als Waisen noch schlimmer dran gewesen wären.
 
Ganz ähnlich klingt die Geschichte von Komala aus Bandoutapuram. Sie heiratete mit 12 Jahren, aber vier Jahre später erkrankte ihr Mann an Tuberkulose und starb. Und obwohl ihre Schwiegereltern an derselben Krankheit starben, beschuldigte die Familie Komala, ihren Mann verzaubert zu haben. Die Schwägerinnen ließen sie fallen, niemand half ihr, im Gegenteil, man wollten ihr auch noch das Haus wegnehmen. Sie verbreiteten in der Gemeinde falsche Gerüchte über sie und jede Rikscha- oder Busfahrt wurde so zum Alptraum, da die Leute von oben auf sie herabsahen.
 
Auch Sandhya aus dem Dorf Panthini hat derartiges erlebt. Sie heiratete sehr jung und nachdem sie ihre Mutter verloren hatte, fand sie Unterstützung durch ihren Ehemann. Er starb jedoch auch und sie sah im Leben keinen Sinn mehr. Aber sie musste für ihre Söhne und ihre Großeltern sorgen. Sie stürzte sich in die Arbeit, weshalb ihr die Menschen um sie herum vorwarfen, dass sie bereits drei Monate nach dem Tod des Ehemannes arbeite und nicht richtig trauere. Als ihr in der Stadt eine Witwenrente bewilligt wurde, tratschte man im Dorf, dass sie dafür Unzucht mit einem Beamten getrieben habe.

Indische Frauen leiden mitunter auch unter dem Mangel an sauberem Wasser und sicheren sanitären Anlagen. Indische Frauen leiden mitunter auch unter dem Mangel an sauberem Wasser und sicheren sanitären Anlagen. | Foto: © Boba Markovič Baluchová

Geschichten mit schlimmem Anfang und Happy End

Ähnliche Lebensgeschichten könnten noch viele erzählt werden. Wichtig sind jedoch die damit verbundenen Fragen: Ist eine verwitwete Frau kein Mensch mehr? Welche Sünde hat sie begangen, dass alle ihr den Rücken zukehren? Warum greift die Familie sie an und verunglimpft sie? Warum soll sie für den Tod ihres Mannes büßen? Warum muss sie ein doppeltes Trauma erleiden – den Verlust ihres Partners und ihrer Menschenwürde? Ohne irgendeine Schuld auf sich geladen zu haben, werden Witwen sozial ausgegrenzt und führen ein hartes Leben. Indira Gandhi, Indiens erste Premierministerin, war jedoch auch 20 Jahre lang Witwe.
 
Glücklicherweise können diese Geschichten schwer geprüfter junger Witwen auch ein gutes Ende nehmen, was man nicht nur bei Sandhya, Komala und Sowjanya, sondern auch Nirmala und Ahalya aus Danthalapally sehen kann. Nach dem Tod ihres Ehemannes im Jahr 2005 verbot die Familie Ahalya, an kulturellen oder religiösen Veranstaltungen teilzunehmen und sie konnte nicht einmal ihren eigenen Bruder bei dessen Hochzeit segnen. Unerträglicher Druck und sexuelle Belästigung direkt in der Familie führten dazu, dass sie versuchte, sich mit Kerosin zu übergießen und anzuzünden.
 
Auf dem Höhepunkt ihres Leidens erfuhr Ahalya, wie auch die anderen bereits erwähnten Frauen, glücklicherweise von den Aktivitäten der örtlichen Nichtregierungsorganisation Bala Vikasa, die sich gerade um Witwen kümmert. Als sie sich einer der Frauengruppen anschließen wollte, die schließlich ihre Rettung war, musste ihre Mutter für sie die Gebühr von fünfzig Rupien zahlen, umgerechnet ein halber Euro. Nicht einmal so viel besaß sie selbst. „Bei den örtlichen Treffen der Witwen geben wir einander Ratschläge, wie man Kinder großzieht und unabhängig wird. Dank des Nähkurses kann ich meinen Lebensunterhalt und auch noch etwas hinzu verdienen.“ Schließlich traute sie sich sogar wieder, die Bangles an den Handgelenken zu tragen, den „Bindi“ auf der auf der Stirn sowie Blumen im Haar.
 
Nirmalas Eltern waren wie viele andere in der Gegend Analphabeten und arm, sodass sie für ihre Tochter die Eheschließung mit einem Verwandten arrangierten, als sie 11 Jahre alt war. Mit 21 hatte sie bereits vier Kinder, die ersten drei waren Mädchen und ihre Schwiegereltern zwangen sie solange zur Schwangerschaft, bis männlicher Nachwuchs geboren wurde. Nachdem Nirmalas Ehemann bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, stellten ihre Verwandten ihr jedoch nur ein Zimmer im Haus zur Verfügung und kümmerten sich nicht weiter um sie. Nur der Schrei eines Kindes verhinderte, dass sie sich selbst verbrannte.

Das Kastensystem verschärft viele Probleme. Das Kastensystem verschärft viele Probleme. | Foto: © Boba Markovič Baluchová

Die Ausgrenzung von Witwen verschlimmert sich durch die Coronakrise

Heute arbeitet Nirmala als Putzkraft in einer Schule und verdient umgerechnet rund 50 Euro im Monat. Sie nimmt immer noch regelmäßig an den Treffen der Selbsthilfegruppe für junge Witwen teil, die von der NGO Bala Vikasa organisiert werden. Dank ihrer Bildungsseminare lernte sie, mit Geld umzugehen und hilft sogar armen Waisenkindern in ihrem Dorf. Letztes Jahr konnte sie es sich leisten, hundert Rupien (etwas mehr als ein Euro) für wohltätige Zwecke zu spenden. „Wenn wir zu Hause nichts zu essen haben, erkläre ich meinen Kindern, dass die Waisen um uns herum noch viel mehr leiden – sie haben nichts und niemanden. Meine Kinder haben wenigstens mich als liebende Mutter. Es macht uns wirklich glücklich, unseren Nächsten etwas geben zu können.“
 
Die Covid-19-Pandemie hat das Leben der Witwen jedoch um einiges schwieriger gemacht. Im Rahmen der Maßnahmen war es notwendig, sich von anderen sozialen Gruppen außerhalb der eigenen Familie zu distanzieren. Das wäre eigentlich kein so großes Problem, wenn diese Frauen nicht sowieso schon so viel Ausgrenzung erfahren würden. Und seit der Schließung staatlicher Schulen haben Kinder verwitweter Mütter auch keinen Zugang zu den Mittagessen mehr, die sie gemäß einer staatlichen Verordnung im Rahmen des Programms Mid-Day-Meal erhalten. Die Hauptmotivation vieler (nicht nur verwaister) Jungen und Mädchen für den Schulbesuch ist weniger der Wissenshunger, als vielmehr die Möglichkeit, mindestens einmal am Tag den tatsächlichen Hunger mit einer warmen Mahlzeit stillen zu können. Für Witwen in ländlichen Gegenden ist es äußerst schwierig, ihre Kinder mit genügend Essen zu versorgen. Und auch hier kommt wieder die Organisation Bala Vikasa ins Spiel, die von Armut betroffene junge Witwen auf dem Land mit Grundnahrungsmitteln versorgt.
 
Die Nichtregierungsorganisation hat ihren Sitz in der Distrikthauptstadt Warangal, 150 Kilometer nordöstlich von Hyderabad. Um lokalen ländlichen Gemeinden bei der Armutsbekämpfung zu helfen, wurde sie vor dreißig Jahren von einem indo-kanadischen Ehepaar gegründet, das dann auf die Witwen aufmerksam wurde. Denn aus einer Umfrage in ihren Werkstätten ging hervor, dass jede dritte Witwe in den Bundesstaaten Telangana und Andhra Pradesh einen Selbstmordversuch unternimmt. Deshalb rief die Organisation ein Programm ins Leben, um Frauen und insbesondere junge Witwen zu stärken.

Die Frauen vor Ort haben verschiedene Möglichkeiten, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Die Frauen vor Ort haben verschiedene Möglichkeiten, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. | Foto: © Boba Markovič Baluchová

Von der lokalen Initiative zur sozialen Revolution

Die Seminare „Young Widow Training“ bieten Frauen psychologische Beratung, sie helfen ihnen, ihr verlorenes Selbstvertrauen wiederzufinden, vermitteln finanzielle Kenntnisse und unternehmerische Fähigkeiten. Bisher konnten 15.000 Frauen in zwei Bundesstaaten des Milliarden-Landes Indien betreut werden. Junge Witwen, die offen für Veränderungen und Bildung sind, beschäftigen sich in Selbsthilfegruppen neben der Entwicklung von Kompetenzen auch mit sozialer Gerechtigkeit, Menschenrechten und der Förderung einer aktiven Beteiligung am gesellschaftlichen Leben. Mit mehr Mut und Zuversicht können sie dann mit möglichen Hindernissen und Verurteilungen umgehen und finden leichter Arbeit.
 
In den letzten zehn Jahren hat Bala Vikasa Tausenden Frauen wie Ahalya oder Nirmala das Leben gerettet und es verändert. Ein Beweis hierfür war auch die jüngste Kampagne zur Feier des Internationalen Witwentags am 23. Juni. Langsam verändert sich auch das Denken und Handeln in einzelnen Dörfern. Die Initiative von Bala Vikasa hat sich zu einer massiven sozialen Revolution entwickelt, die sich für Gleichberechtigung und Stärkung von Witwen einsetzt, mit Tabus bricht, vorherbestimmte Stigmatisierung zurückweist und Diskriminierung bekämpft. Von den 500 Frauen, die derzeit am Programm teilnehmen, haben 30 neu geheiratet, was darauf hindeutet, dass sich die Einstellung in der Gemeinschaft verändert hat.

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