Orgasmus & Sozialismus  Warum sich Frauen während des Sozialismus nicht für Feminismus interessierten

Die Soziologin Kateřina Lišková
Die Soziologin Kateřina Lišková Foto: © privat

Die Soziologin Kateřina Lišková erforscht unter anderem Pornografie und Geschlechterunterschiede während des Kommunismus. Sie hat das Vorwort der tschechischen Ausgabe zum Buch mit dem provokativen Titel „Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben“ von Kristen R. Ghodsee geschrieben. Warum interessierte sich das sozialistische Regime für den weiblichen Orgasmus? Und warum hat Feminismus in Tschechien so einen schlechten Ruf?

Beim Übersetzen des Buchs von Kristen Ghodsee hat mich verblüfft, dass tschechische Sexualforscher in den 50er Jahren den Orgasmus von Frauen untersucht haben. Wie kam es dazu, dass sie sich genau in diesem Moment für das Erleben von Sex interessierten?

Wir stellen uns heutzutage vor, dass die Fünfzigerjahre eine Zeit des Terrors und der Dunkelheit waren. Das waren sie auch, aber von diesem Grauen waren nur bestimmte Segmente der Bevölkerung betroffen. Für dich als Frau zum Beispiel konnte sich die Lage etwas verbessern, weil zu dieser Zeit das Familienrecht grundlegend reformiert wurde. Das eine Regimesache, denn eine ähnliche Entwicklung fand in praktisch allen kommunistisch regierten Ländern statt. Bis dahin hatten Frauen weniger Rechte als Männer – zum Beispiel nicht automatisch ein Anrecht auf ihre Kinder oder auf Besitz.

Ghodsee schreibt auch, dass verheiratete westdeutsche Frauen bis zum Jahr 1977 von ihrem Ehemann eine Erlaubnis brauchten, um arbeiten zu dürfen. Auch die Publizistin und Schriftstellerin Alena Wagnerová beschreibt ihr Erstaunen über diese Verhältnisse in einem Interview…

Ja, für Emigrantinnen wie zum Beispiel Alena Wagnerová oder auch Gerlinde Šmausová war das bestimmt ein ziemlicher Schock. In der Tschechoslowakei konnten Frauen selbstständig als Publizistinnen, Pädagoginnen oder Wissenschaftlerinnen arbeiten, aber nach der Ankunft in Westdeutschland, damals dem Land der Freiheit, benötigten sie zur Ausübung ihres Berufes oder zur Eröffnung eines Bankkontos auf einmal die Zustimmung ihres Ehemannes. Dieses Verhältnis der Abhängigkeit der Frau vom Mann war im sogenannten Ostblock eben bereits um das Jahr 1950 abgeschafft worden. Das war natürlich nur einer der Gründe, warum sich Sexualforscher in den 40er Jahren mit dem sexuellen Erleben der Frauen befassten.
 
Ein weiterer Grund war die Tatsache, dass die Ärzte damals noch nicht wussten, inwieweit der weibliche Orgasmus mit der Empfängnis zusammenhing. Frauen, die Probleme hatten, schwanger zu werden, fuhren damals nach Františkový Lázně (Franzensbad) um sich zu kurieren. Bei etwa zehn Prozent von ihnen stellten die Ärzte keine körperlichen Ursachen für ihre Unfruchtbarkeit fest, aber viele von ihnen klagten über Eheprobleme. Die Gynäkologen interpretierten das im Großen und Ganzen korrekt als sexuelle Probleme und forderten die Wissenschaftler des Prager Instituts für Sexualforschung auf, eine Untersuchung durchzuführen.
 
Die Ergebnisse wurden im Jahr 1952 veröffentlicht und umfassten nicht nur die Frauen aus dem Heilbad, sondern auch eine Kontrollgruppe von Frauen, die bereits schwanger geworden waren und entsprechende Sprechstunden besuchten. Mit allen wurden Gespräche über verschiedene Themen inklusive der Familiengeschichte geführt. Und man gelangte zu der Erkenntnis, dass Frauen, die nicht schwanger werden konnten, ein schlechteres Verhältnis zu ihrem Mann hatten, sich weniger geliebt fühlten, seltener Orgasmen erlebten und weniger Spaß am Sex hatten. Daraus zogen die Wissenschaftler den Schluss, dass es für die Schwangerschaft einer Frau eine liebevolle Ehe brauchte. Was eigentlich ein sozialistischer Gedanke war, oder besser ein Ideal: Ein sozialistisches Regime sollte außer für Gleichheit auch dafür sorgen, dass junge Menschen sich aus Liebe für die Ehe entschieden, und nicht wegen Drucks seitens der Familie oder aus Besitzgründen, denn Besitz würde im neuen Regime schließlich kein „Thema“ mehr sein.

Kann es nicht auch daran gelegen haben, dass die Tschechoslowakei als Ganzes kein Agrarstaat war?

Ja. Deshalb glaube ich, dass der Regimewechsel im Bereich der Arbeit keinen so großen gesellschaftlichen „Sprung“ zur Folge hatte – der kam erst auf der Ebene des Gesetzes, weil Frauen auf einmal ihre Rechte in Anspruch nehmen konnten, was die nächste Generation schon als Selbstverständlichkeit hinnahm. Übrigens habe ich auch Scheidungsunterlagen aus der Zeit des vergangenen Regimes untersucht und es war interessant zu sehen, welche Gründe für die Scheidung angegeben und vom Gericht anerkannt wurden. Auf Grundlage der Änderung des Familiengesetzes aus dem Jahr 1950 konnte ein solcher Grund nämlich „eine tiefe und dauerhafte Unstimmigkeit“ zwischen den Ehepartnern sein. Aber was versteht man unter Unstimmigkeit? Die Interpretation dieser Begründung änderte sich allmählich und in den Achtzigerjahren beschwerten sich die Frauen schon relativ häufig über eine Unstimmigkeit beim Sex.

Kristen Ghodsee erwähnt auch, wie die Leiterin eines akademischen Verlags in Deutschland zu ihr sagte: „Gott sei Dank gibt es die ostdeutschen Frauen“, denn die waren an Kindergarten und Krippe gewöhnt und forderten sie auch im Westen ein. Glaubst du, dass die veränderte Rechtslage und die Möglichkeit – wenn auch später eher die Verpflichtung – zu arbeiten einer der Gründe gewesen sein könnten, warum es bei uns keine zweite Welle des Feminismus gab?

Ich denke, dass die feministische Bewegung bei uns aus mehreren Gründen ausgeblieben ist – zum Beispiel auch deswegen, weil es im damaligen Regime überhaupt keine Bewegungen geben durfte. Eine Reihe von Dingen, für die die zweite Welle des Feminismus kämpfte, hatten die tschechoslowakischen Frauen eigentlich „bekommen“, ob von oben durch die Politik oder dank des Beitrags der Experten. Das führte natürlich dazu, dass wir es nicht gewohnt sind, um unsere Rechte zu kämpfen – und zwar nicht nur um die Frauenrechte, sondern ganz allgemein. Auf der anderen Seite hat sich die Gesellschaft daran gewöhnt, dass bestimmte Dinge – zum Beispiel das bereits erwähnte Familienrecht – ein Fakt sind, etwas Natürliches, Gewöhnliches, das man sich nicht nehmen lassen will, das unantastbar ist.

Kristen R. Ghodsee: Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben - Und andere Argumente für ökonomische Unabhängigkeit © Suhrkamp Verlag AG

Wie sah es eigentlich mit der Verhütung aus?

Die klassische Pille gab es erst in den Sechzigerjahren, aber sie war nicht überall erhältlich und auch nicht ganz unproblematisch. Deswegen wollten die Ärzte sie nicht den jungen Frauen verschreiben, sondern lieber den verheirateten, und bei dieser Praxis blieb es bis in die Neunzigerjahre hinein. Von den modernen Verhütungsmethoden wurde am häufigsten die Spirale verwendet; versagte diese, dann hatte eine Frau automatisch Anspruch auf einen Eingriff aus gesundheitlichen Gründen und musste nicht vor eine Kommission.

Wir haben über Gleichberechtigung und die Einstellung zu Arbeit und Bildung gesprochen. Kannst du mir dann erklären, warum auf keinem der Fotos der Zentralkomitees eine Frau zu sehen ist?

Also im Parlament saßen 30 Prozent Frauen, nur besaß das Parlament keine wirkliche Macht. Sicher, wir können darüber diskutieren, warum es da, wo die Macht sitzt, keine Frauen gibt und da, wo es viele Frauen gibt, die Macht fehlt. Es ist offensichtlich nicht so, dass die Gesellschaft sofort soweit wäre, dass auch Frauen einen Teil der Macht bekommen. Gesetzesänderungen wie zum Beispiel die des Familienrechts aus dem Jahr 1950 haben aber das reale, alltägliche Leben verändert, den Frauenanteil auf dem Arbeitsmarkt und im Bereich der Bildung. Schauen wir uns mein Lieblingsbeispiel Ungarn an, wo der Anteil der Studentinnen der technischen Hochschulen mehr als vierzig Prozent betrug. Ich sage nicht, dass die Situation ideal war, und ich sage nicht, dass das die politische Ebene betraf, aber etwas hat sich dramatisch verändert, und das auf eine Weise, die mit den westeuropäischen Ländern nicht vergleichbar ist.

Kam es während der Normalisierung zu irgendeiner Veränderung der familiären Verhältnisse, des Familienrechts und der Eingriffe des Staates?

Die Tschechoslowakei ist in dieser Hinsicht eigentlich ein Unikat, denn die Normalisierung brachte was die Geschlechterrollen betrifft eine Rückkehr in die Vergangenheit mit sich. Das kann man natürlich mit der Erstarrung der Verhältnisse nach dem Prager Frühling erklären, aber mir scheint, dass sich diese Veränderung schon vorher anbahnte und die Normalisierung nur alles „einfror“. Schon seit den Sechzigerjahren transformierten sich die Expertendiskurse allmählich auf eine Art, die später während der Normalisierung ein traditionelles hierarchisches Gender-Regime rechtfertigte.
 
Es veränderte sich vor allem die Sicht auf die Betreuung kleiner Kinder. Während sich in den Fünfzigerjahren die Kollektivbetreuung durchsetzte, so meinten die Entwicklungspsychologen spätestens im Jahr 1963, dass die institutionelle Betreuung nicht ausreicht und zu einer emotionalen Deprivation der Kinder führt. Diese hätte ihrer Meinung nach unabsehbare Auswirkungen. Dabei wurde nicht über den fehlenden Einfluss beider Elternteile diskutiert, sondern über die Abwesenheit der biologischen Mutter. Aber die Fachleute zogen ihre Schlussfolgerungen aus der Untersuchung der Entwicklung von Kindern, die in Anstalten aufwuchsen, in Kinderheimen und den sogenannten Wochenkrippen, was nur eine kleine Anzahl betraf. In der Gesellschaft entstand aber der Eindruck, dass alle Kinder von dieser Deprivation betroffen seien. Diesen verstärkte dann im Jahr 1963 noch der fast als Horror zu bezeichnende Film Děti bez lásky (Kinder ohne Liebe), an dem der Kinderpsychologe Zdeněk Matějček mitarbeitete. Und dann war da noch ein weiterer Faktor: Zur gleichen Zeit klagten die Frauen in den demografischen Umfragen, dass sie sich überlastet fühlten.

Dass sie eigentlich zwei Jobs hatten?

Genau: Viele von ihnen gestanden sogar, dass sie höchstens ein Kind bekommen wollten. Aus der Sicht des Staates war das auch problematisch, und deshalb wurde die Kritik am Einzelkindwunsch und dem „Egoismus“ der Frauen lauter. Mitte der 60er Jahre richtete dann Ota Šik, Ökonom und Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, eine Parteikommission für wirtschaftliche Reformen ein. In Zusammenarbeit mit Demografen begann man hier, die finanzielle Unterstützung von Familien auszuwerten. Die bestand damals in Gestalt von Steuererleichterungen; die Steuerlast sank je höher die Zahl der Kinder war, wovon paradoxerweise die Familien profitierten, die ein höheres Einkommen hatten. Deshalb begann man über das Leistungssystem, die Verlängerung der Elternzeit und des Wohngelds nachzudenken, denn im Jahr 1963 führten zum Beispiel nur 11 Prozent der Paare einen selbstständigen Haushalt. Aber dann kam die Normalisierung und einige dieser Reformen wurden erst später umgesetzt. Deshalb verbinden wir sie mit Husák.

Also deshalb der Begriff „Husáks Kinder“…

Ja, dabei waren diese familienfreundlichen Änderungen im Grunde die einzigen Reformbemühungen der Sechzigerjahre, die realisiert wurden – vielleicht mit Ausnahme der Föderalisierung des Staates. Eine ähnliche Entwicklung lief auch in anderen Ländern des Ostblocks ab, aber ich vermute, dass in der Tschechoslowakei schon ein anderes Klima herrschte, in dem Fachleute aus dem Bereich der Entwicklungspsychologie die Rolle der Mutter als Fürsorgerin in schon fast extremer Weise betonten. Dabei wuchs paradoxerweise die Anzahl der arbeitenden Frauen und der Kindergartenplätze.

Dieses Argument der unersetzbaren Rolle der Mutter, die so lange wie möglich zuhause bleiben soll, hört man aber bis heute, vor allem aus konservativen Kreisen. Wann wurde eigentlich die Elternzeit für Mütter in Tschechien verlängert, sie ist ja wahrscheinlich eine der längsten in ganz Europa?

Das erste Mal wurde sie noch vor dem Einfall der Armeen des Warschauer Paktes verlängert und danach noch ein paar Mal, wobei ein Teil der mütterlichen Elternzeit ursprünglich ein frei wählbarer unbezahlter Urlaub war, der allmählich zum bezahlten wurde. Die Motivation mehrere Kinder zu bekommen wuchs durch die Möglichkeit, einen Teil der Raten für einen Ehekredit nach der Geburt des zweiten Kindes von der Steuer abzusetzen.

Zum Schluss noch mal etwas ganz anderes: du trittst mit Lucie Jarkovská als Duo Docentky (Dozentinnen-Duo) auf. Wie kam es eigentlich dazu und warum?

Ganz am Anfang war das ein spontaner, unvorbereiteter Stand-Up auf einer Konferenz irgendwann im Jahr 2011. Da ist uns eingefallen, dass wir so etwas Ähnliches öfter machen könnten. Lucie ließ diese Idee später bei einer Stand-Up-Version ihrer wissenschaftlichen Arbeit über Sexualpädagogik wieder auferstehen und heute versuchen wir uns beide an dieser „Stand-Upisierung“ wissenschaftlicher Erkenntnisse. Ich glaube nämlich, dass nur sehr wenige Leute außerhalb der akademischen Sphäre wissenschaftliche Texte unseres Fachgebiets lesen. Diese Form des „Auftritts“ könnte für den gewöhnlichen Steuerzahler, der ja eigentlich an der Forschung beteiligt ist, nicht nur zugänglicher, sondern auch unterhaltsamer sein.
 

Kateřina Lišková (*1976) ist am Lehrstuhl für Soziologie und dem Institut für Bevölkerungsstudien der Fakultät der Sozialwissenschaften (FSS) an der Masaryk-Universität in Brno tätig. Nach ihrer Dissertation über Pornografie und feministische Theorien beschäftigte sie sich mit der Geschichte und den Themen der tschechoslowakischen Sexualforschung. An der FSS leitet sie zum Beispiel den frei wählbaren Kurs für Magisterstudiengänge „Sex und Gender im Kommunismus“; im Jahr 2018 veröffentlichte sie in der Cambridge University Press ein Fachbuch zur Gender-Thematik mit dem Titel Sexual liberation, socialist style: Communist Czechoslovakia and the science of desire, 1945–1989. Sie tritt gelegentlich mit der Soziologin Lucie Jarkovská als Stand-Up-Duo Docentky (Dozentinnen-Duo) auf.

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