Ist KI ein Werkzeug oder ein eigenständiger Agent?

Der ehemalige Strumpfwarenfabrik Moritz Samuel Esche in Chemnitz © Richard Dunn

Wichtige Entwicklungen von der ersten bis zur vierten industriellen Revolution haben das Fundament für künstliche Intelligenz (KI) gelegt. Aber welchen Einfluss hat die heutige KI auf die Kunst, und was ist heute Kunst, und was ist ein Künstler?

Richard Dunn

Wie vieles hat auch KI eine Reihe von möglichen Anfängen und Entwicklungslinien. Auch könnten sie sich abhängig davon, wer sie nutzt und wer oder was ihrem Einsatz unterworfen wird, in sehr unterschiedliche Richtungen entwickeln. In der einen oder anderen Art begleitet sie uns seit den vierziger Jahren, aber mit 5G treten wir in eine neue Phase ein, in der die KI dank leistungsfähigerer Netze erheblich an Bedeutung gewinnen wird.
 
Beginnen wir mit einem kurzen historischen Rückblick. Die KI und ihre Varianten sind aus der Mechanisierung der Arbeit hervorgegangen. Besonders bedeutsam war die Erfindung des mechanischen Handkulierwirkstuhls im Jahr 1589, dessen spätere Weiterentwicklungen wesentlich zur Ersten und Zweiten Industriellen Revolution  beitrugen. Der Handkulierstuhl ahmte die Bewegungen strickender Hände nach und war die erste Bedrohung für die Heimindustrie und die manuelle Fertigung, weshalb er ein bevorzugtes Ziel der Maschinenstürmer wurde. Man könnte sagen, dass mit dem Handkulierstuhl die Ära der Robotik begann.
 
Installation von historischen Strümpfen und Architektur in den Kunstsammlungen Chemnitz, Deutschland Installation von historischen Strümpfen und Architektur in den Kunstsammlungen Chemnitz, Deutschland | © Richard Dunn

Strümpfe und Computer

Die von Dampfmotoren angetriebenen mechanischen Strickmaschinen des 19. Jahrhunderts wurden von Lochstreifen gesteuert, um komplexe Muster zu erzeugen, und dies waren die Prototypen für den Computer und für Datenspeicherung und Algorithmen zur Steuerung von Geräten. Diese Strickmaschinen waren bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts grundlegend für den Erfolg der Textilmanufakturen im sächsischen Chemnitz. Die Bedeutung maschinengefertigter Strümpfe für die technologische Entwicklung, welche die KI hervorgebracht hat, kann nicht überschätzt werden.
 
Mitte des 20. Jahrhunderts leisteten die Mathematiker Alan Turing, Norbert Wiener, John von Neumann, Oskar Morgenstern unverzichtbare Beiträge zur nächsten Phase der Industriellen Revolution. Turing entwickelte bereits im Jahr 1935 ausgehend von den Technologien der Industriellen Revolution das Konzept für eine abstrakte Rechenmaschine, aber die meisten Entwicklungen in dieser Richtung fanden erst nach dem Zweiten Weltkrieg statt. Im Jahr 1948 schrieb Turing in Intelligent Machinery: „Wir wollen eine Maschine bauen, die aus Erfahrung lernen kann.“ Und er sprach von der Möglichkeit, die Maschine zu befähigen, „ihre Anweisungen selbst zu ändern“.
 
Im selben Jahr begründete Norbert Wiener die Kybernetik, die disziplinenübergreifende Wissenschaft »von Steuerung und Kommunikation bei Tier und Maschine“. Der Begriff der Kybernetik, abgeleitet vom griechischen kybernetes, „Steuermann“, hängt mit dem governor (dem Fliehkraftregler) von James Watts Dampfmaschine zusammen, das heißt mit der Vorstellung eines korrigierenden Feedbacks. Das erklärte Wiener in seinem Buch Mensch und Menschmaschine: Kybernetik und Gesellschaft, in dem er kenntnisreich über Kunst und Künstler schrieb.
 
Wiener sprach sowohl kreativen Künstlern als auch „wissenschaftlichen Künstlern“ intellektuelle Originalität und innere Überzeugung zu und kritisierte die Kommodifizierung der Kunst, die modellfolgende Kunst und das Streben nach höheren Bildungsabschlüssen um des sozialen Prestiges willen. Um das Jahr 1960 hatte die Kybernetik in London zahlreiche Anhänger unter den Künstlern. Beispiele für die Auseinandersetzung mit dem Thema waren Jasia Reichardts Ausstellung Cybernetic Serendipity am Institute of Contemporary Art und der Artikel Behaviourist Art and the Cybernetic Vision des Künstlers Roy Ascott.
 
In der Auseinandersetzung mit der Frage der Originalität und der Rolle von Original und Kopie nahm Wiener Bezug auf Walter Benjamins Artikel Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935), in dem sich Benjamin mit der Aura origineller Kunstwerke befasste und erklärte, diese Aura sei der mechanischen oder technischen Reproduzierbarkeit von Fotografie und Film unterworfen und werde dadurch verringert.
 
Norbert Wiener, US-amerikanischer Mathematiker, sitzend an einem Schreibtisch vor einer Wandtafel Norbert Wiener war Professor für Mathematik am MIT und begründete das Gebiet der Kybernetik | © Science Photo Library / Alamy Stock Photo

Spieltheorie

Erst gegen Ende seines Buches beschrieb Wiener automatische Systeme als Analogie zwischen dem menschlichen Gehirn und elektronischen Systemen: Die Kybernetik wandte das, was wir als „künstliche Intelligenz“ bezeichnen, auf Computertechnologie und lernende Maschinen an. Wiener siedelte die Dichotomie von Mensch und Maschine jedoch in der Sphäre der Sozialphilosophie an, während sein Kollege John von Neumann (der im Manhattan Project gearbeitet hatte) militärische Einsatzmöglichkeiten für die Kybernetik sah.
 
In einer ähnlich flüchtigen Entwicklung schrieb John von Neumann gemeinsam mit Oskar Morgenstern im Jahr 1944 The Theory of Games and Economic Behaviour (deutsch als: Spieltheorie und wirtschaftliches Verhalten, 1961) das spezifisch im Kalten Krieg Anwendung fand, aber auch bedeutsam für die KI-Entwicklung und insbesondere für den Umgang mit stochastischen Ergebnissen war, das heißt für die Fähigkeit, Ungewissheit oder „zufällige Bewegungen“ zu bewältigen, um das Maschinenlernen auf eine höhere Ebene zu heben.
 
Wir finden dieses Erbe in Bots, Gesichtserkennung und Massenüberwachung, Datensammlung, Desinformation und Propaganda mittels automatisierter sozialer Medien. Die KI macht diese Prozesse unsichtbar. Die Spieltheorie hat möglicherweise den größten Einfluss auf die Entwicklungen auf dem Gebiet der KI.
 
Wiener und von Neumann hatten in gewissem Sinn gegensätzliche Vorstellungen von der Anwendbarkeit der KI-Technologie. Wesentlich ist, dass Wiener von einem Übermaß an „Know-how“ (einschließlich der „unglückseligen Entdeckung der Atombombe“) sprach, dem ein Mangel an „Know-what“ – an Verständnis des Zwecks gegenüberstehe – der Mensch werde „die überlegene Gewandtheit der von Maschinen gefällten Entscheidungen anerkennen, ohne die Motive und Prinzipien dahinter genauer zu untersuchen“. Diese Beobachtung hat nach wie vor Gültigkeit.
 
In den vierziger Jahren beschrieben sowohl Von Neumann als auch Wiener die Grenzen der Maschinenintelligenz im Vergleich zum menschlichen Gehirn. Erstens versteht sich das Gehirn selbst nicht ausreichend, um sich zu replizieren. Zweitens war es vor der Einführung des Transistors und des integrierten Schaltkreises nicht möglich, Vakuumröhren als künstliche Neuronen zu nutzen, um ein System von der Größe des menschlichen Gehirns mit seinen rund 100 Milliarden Neuronen zu entwickeln.
 
Turing und anderen schwebte eine intelligente Maschine vor, die sich selbst weiterentwickeln konnte. Zwei zentrale Probleme, die Intelligenz auf menschlichem Niveau und die maschinelle Reproduzierbarkeit, waren wie seinerzeit beim Handkulierstuhl nicht konzeptueller, sondern technologischer Natur. Das sagt bereits viel über die menschliche Intelligenz.

Künstliche Intelligenz und Künstler

Die künstlichen Intelligenz – die Maschinenintelligenz – ist in gewissem Sinn aufgabenbezogen, das heißt auf eine spezifische Funktion zugeschnitten. Abhängig von ihrer Ausgereiftheit oder von dem zur Steuerung eingesetzten Algorithmus kann die KI als Werkzeug betrachtet werden, als ein Hilfsmittel für vom Menschen auszuführende Aufgaben.
 
Auf einer einfacheren Ebene wurde die chemische Fotografie von der digitalen Fotografie ersetzt, was erhebliche Eingriffe in ein „Foto“ ermöglicht hat, bei dem die Vorstellung eines Originalbilds nicht existiert, sondern durch etwas ersetzt wurde, das eine Nachbildung ist. Dasselbe gilt für den Film oder für Aufnahme und Bearbeitung von Musik.
 
Über das Ergebnis entscheidet immer noch der kreative Verstand des Künstlers, Filmemachers, Musikers oder Architekten, nicht die Intelligenz einer Maschine. Mitte des 20. Jahrhunderts gingen die Mathematiker in ihren Überlegungen weiter.
 
Im Unterschied zur ersten Generation von künstlicher Intelligenz betreten wir bei jener KI, welche die Fähigkeiten des menschlichen Gehirns widerspiegelt, das heißt bei der „Generellen Künstlichen Intelligenz“ (GKI) und in der Folge der „Superintelligenz“, die dem menschlichen Gehirn überlegen ist, eine Sphäre, in der Handlungen und Entscheidungen der Maschine übertragen werden. Dies ist der Übergang von der dritten zur vierten Industriellen Revolution. Wie wird sich diese Entwicklung auf die Kunst auswirken?
 
Die Physiker J. Robert Oppenheimer (links) und John Von Neumann (rechts) vor einem Computer in 1952 Die Physiker J. Robert Oppenheimer (links) und John Von Neumann (rechts) vor einem Computer in 1952 | © Science Photo Library / Alamy Stock Photo Die Künstler profitieren von neuen Technologien und machen umfassenden Gebrauch von neuen Geräten und Programmen. Sie zählen zu den Early Adopters. Aber sie arbeiten traditionell allein – sie haben größere Ähnlichkeit mit Strumpfnähern aus dem 16. Jahrhundert als mit Industriearbeitern –, obwohl manche Künstler große, fabrikartige Studios betreiben, in denen Mitarbeiter in spezialisierten Abteilungen arbeiten; Beispiele dafür sind Jeff Koons, Anish Kapoor, Olafur Eliasson und sogar Andy Warhol. Eine Reihe zeitgenössischer Künstler nutzen die neuen Technologien eher wie Designer und Architekten.
 
Viele dieser Künstler wenden in Konzeptentwicklung und Produktion computergestützte Praktiken an. Jeff Koons hat sein Studio verkleinert und im Jahr in 2019 drei Viertel seiner 40 Malassistenten entlassen – dies war eine bereits verkleinerte Belegschaft, der ursprünglich 100 Mitarbeiter angehört hatten –, und seine Abteilung für Skulpturen/3D-Design funktioniert eher wie eine „Denkfabrik“, die ihre Arbeit automatisiert und die Produktion auslagert, wobei sie Robotik und computergesteuerte Fräsmaschinen einsetzt. Koons befürwortet den Einsatz der Technologie, sagt jedoch: „Es geht nicht um die Maschinen, sondern um die Technologie als Werkzeug.“
 
Anish Kapoor betreibt einen Komplex von sieben Studios, in denen er schematische Zeichnungen bereitstellt, die von seinen Assistenten ausgearbeitet werden. Er spricht von zwei Formen als Ausgangspunkt und Ziel, und „der Rest ist der ‚Imagination‘ des Computers überlassen“. Für eine Reihe von Künstlern, die so arbeiten, wäre ihre Tätigkeit ohne KI-Produktion undenkbar. Antony Gormleys Skulptur Quantum Cloud beim The O2 in London wurde unter Einsatz von Computeralgorithmen geschaffen, die für das Studium der Chaostheorie entwickelt worden waren.
 
Eine zentrale Rolle spielen hochentwickelte Computersysteme auch in den Arbeiten Frank Gehrys, der sich vermutlich mehr für den künstlerischen Ausdruck interessiert als jeder andere Architekt des vergangenen halben Jahrhunderts. Er selbst verwendet keinen Computer, aber seit Bilbao stützt er sich in seiner Arbeit auf CATIA, eine von Dassault Systèmes entwickelte Software, die als „soziale Designumgebung“ beschrieben wird, die „auf einer einzigen Quelle der Wahrheit beruht und auf die mittels leistungsfähiger 3D-Dashboards zugegriffen wird“, um ohne Zeichnungen komplexe geschwungene architektonische Formen zu gestalten.
 
Rosemarie Trockel verwendete computergenerierte Verfahren und Strickmaschinen, um mit oft als männlich betrachteten Technologien „gestrickte Bilder“ zu schaffen, ironische Kommentare zu „fragwürdigen Frauenausstellungen“ aus den siebziger Jahren, deren Thema zumeist „Haus und Heim“ waren. Das stellte sie im Jahr 2003 in einer Diskussion mit Isabelle Graw in Artforum klar: „Ich versuchte, die Wolle, die als weibliches Material betrachtet wurde, aus diesem Kontext herauszuholen und in einem neutralen Produktionsprozess umzuarbeiten.” Rosemarie Trockels "Untitled" (2002), Wolle (Patchwork) auf Leinwand, 180 × 400 cm Rosemarie Trockels "Untitled" (2002), Wolle (Patchwork) auf Leinwand, 180 × 400 cm | © Rosemarie Trockel, Mit freundlicher Genehmigung: Sprüth Magers Wie der britische Bildhauer Tony Cragg in einem Artflyer-Interview mit Alexia Antsakli Vardinoyanni erklärt hat: „Man kann die Technologie nicht ignorieren.” Gegen seine Neigung hat er die Computertechnologie mit der menschlichen Hand integriert. „Aber ich will immer noch Dinge machen, zu denen ich eine emotionale Beziehung habe. Der Computer hat keine Psychologie. Er würde etwas schaffen, das keine Bedeutung hätte.“
 
Cragg verzichtet mittlerweile auf das Outsourcing. Und hier stehen wir vor einer Frage, die von größter Bedeutung für die Zukunft der Kunst sein könnte: Wird die Kunst gestützt auf leistungsfähigere KI ähnlich wie Staat und Wirtschaft dazu übergehen, Tätigkeiten auszulagern? Werden sich die Künstler in Informationsmanager verwandeln?
 
Wie und in welchem Umfang die KI in der Kunst zum Einsatz kommt, hängt davon ab, wie die Kunst und der Künstler definiert werden. Nehmen wir an, dass die Kunst interpretativ ist und dass ein Kunstwerk kein Produkt einer zielorientierten „Industrie“ ist, die Gegenstände hervorbringt, sondern das materielle Ergebnis eines Denkprozesses. Nehmen wir an, dass die Kunst ein Eingriff in die Welt ist und dass die Künstler diesen Eingriff vermitteln. Dann ähnelt die Kunst eher der Praxis der Philosophie als jener der Innenraumgestaltung, in der keine Worte, sondern „Objekte“ oder „Situationen“ erzeugt werden.
 
Die Kunst hat eine außergewöhnliche Fähigkeit bewiesen, die Intimität ihrer kunsthandwerklichen Praxis zu bewahren und gleichzeitig die neuen Technologien für sich zu nutzen, und unabhängig davon, ob ein Künstler allein oder in einem kleinen Team arbeitet, kann er sein „lautes Nachdenken“ mit einem Mitarbeiter, einer Leinwand oder einem Computer bewerkstelligen. Bei einem Ding, welches das Ergebnis menschlicher Handlungsmacht ist, ist die Intention der Leitgedanke, was bedeutet, dass Kunst immer in erster Linie konzeptuell ist, ein Produkt des Denkens. Man könnte sagen, dass sie dadurch zu einem guten Kandidaten für den Einsatz von KI wird.

Künstler und Handlungsmacht

Kann die Produktion von Kunstwerken also durch digitale Prozesse unterstützt werden? Selbstverständlich! Ich nutze seit Mitte der achtziger Jahre Computertechnologie und arbeite seit langem mit Photoshop und Final Cut Pro. Der Computer ist unverzichtbar in meiner künstlerischen Praxis. Adobe hat mittlerweile ursprünglich für Gamer entwickelte KI-basierte Werkzeuge für Photoshop angepasst, und seine Sensei-Software nutzt KI und Maschinenlernen für die „mühelose Schöpfung“ in der Videoproduktion. Das Maschinenlernen wirft die Frage nach dem Gleichgewicht in autonomer Urheberschaft und Kontrolle auf.
 
Die digitale Technologie ist ein ebenso gutes Werkzeug wie jedes andere, das einem Künstler zur Verfügung steht, sei es ein Hammer oder ein iPhone. Martin Heidegger verwendet in Sein und Zeit den Begriff des „Zuhandenseins“. Gemeint ist ein Werkzeug, das „zuhanden“ und „vorhanden“ ist, das heißt von direktem Nutzen und der Wahrnehmung zugänglich. Um einen weiteren Begriff Heideggers zu verwenden, kann ein Kunstwerk als „Umzu“ bezeichnet werden; es hat einen Zweck, und die Handlungsmacht des Künstlers verwirklicht diesen Zweck.
 
Im Jahr 1991 schrieb ich in einem Essay über die Kunsterziehung mit dem Titel Education/training in/of/for/by/art, dass die Fertigkeiten von Künstlern „provisorisch, vielfältig und verschiedenen Ergebnissen angemessen“ seien. Ich verwendete die Analogie des „Computernetzes oder -systems, das als Werkzeug eingesetzt wird, um beliebige Informationen oder Dinge zu lagern, zu verschieben, zu manipulieren, zu produzieren usw.”. Heute würde ich hinzufügen, dass digitale Technologie und intelligente Systeme nützliche Hilfsmittel, aber kein geeigneter Ersatz für Denkvorgänge sind.

Ein künstlich intelligentes Kunstwerk?

Gute neuere Beispiele für anhand von KI-Daten erzeugte Kunstwerke sind die neuen Werke der irischen Komponistin Jennifer Walshe. Ihre 2020 uraufgeführte Oper Imagining Ireland: A Dataset, die sie als „radiophonic play“ bezeichnet, ist aus zahlreichen Versionen des „Irischseins“ zusammengesetzt, die in einen Datensatz eingespeist wurden.
 
Das Ergebnis ist ein ironischer Kommentar über die Verschmelzung der nationalen Identität und über die künstliche Intelligenz. Kann eine in sich schlüssige Vorstellung von der nationalen Identität – der Irischseins – verwirklicht werden, indem man Daten aus dem Fundus von Literatur, Film, Fernsehen, Tanz, bildender Kunst und Musik anhäuft und in KI-Systeme einspeist, um einen kohärenten künstlerischen Ausdruck des irischen Volks zu erzeugen? Doch Imagining Ireland: A Dataset ist ebenso ein Kommentar über die künstliche Intelligenz wie über die Konzepte der nationalen Identität.
 
Das Ergebnis ist ein neuartiger zeitgenössischer Ausdruck und eine amüsante Collage, die Aufschluss über die Fehler, die Voreingenommenheit und die Beschränkungen des Maschinenlernens gibt. „Ich versuche zu zeigen“, erklärte Walshe im Gespräch mit dem irischen Journal of Music, „wie lächerlich die Konstruktion jeder Vorstellung davon ist, was die nationale Identität ausmacht … durch all diese Bilder, diese Fetzen von Kunst und Musik und Literatur, dieses sonderbare Gemenge.“ Obwohl wir keine Aufführung dieses Werks sehen können, stellt der untenstehende YouTube-Link die ähnlich komplexe Sinfonie The Site of Investigation von 2019 vor. Hier konfrontiert uns Walshe mit allgemeinen zeitgenössischen Herausforderungen: Mikroplastik, Facebook-Likes, Trauer und Verlust, Prekarität, interplanetarische Kolonisierung und künstliche Intelligenz.
 

 
Der Künstler Mark Titmarsh drückt es in seinem Buch Expanded Painting: Ontological Aesthetics and the Essence of Colour in der Auseinandersetzung mit Heideggers Die Frage nach der Technik sehr deutlich aus: Kunst zu „machen“ ist “keine Art von Handwerk, sondern eine Feinabstimmung zwischen menschlichen und nicht menschlichen Kräften, zwischen Materie und Wille“, und das, was „aus dem Akt des Machens hervorgeht, ist nicht einfach ein Objekt, sondern eine Darstellung, eine Enthüllung der besonderen Beziehung zwischen den Ursachen“. Diese Art von Produktion ist an einem Ende des Spektrums angesiedelt, in dem die industriellen Prozesse unter Einsatz von GKI das andere Extrem darstellen.
 
Man könnte sagen, dass die Kunst durch eine funktionale Nutzlosigkeit gekennzeichnet ist, die sich von jener unterscheidet, die aus industriellen kommerziellen Prozessen hervorgeht, in denen die Funktion auf die Ökonomik des Besitzes oder der Ablenkung reduziert sein kann oder ohne unser Wissen ausgeübt wird. Die komplexe Präsenz eines Kunstwerks im „Dialog“ mit einem Betrachter ist zweckorientiert, geistig anregend und aufschlussreich. In der Kunst finden wir auf beiden Seiten der Erfahrung, sowohl beim Künstler als auch beim Betrachter, menschliche Handlungsmacht. Das bedingt eine innige Vertrautheit.
 
Genau hier stellt sich die Frage nach der Rolle der KI in der Kunst, nach der autonomen Handlungsmacht der Maschinenintelligenz und danach, wie die Künstler mit der Vierten Industriellen Revolution der GKI in einer Welt umgehen sollen, in der die Kommunikation zwischen Maschinen, die Automatisierung und das Internet der Dinge ohne die Notwendigkeit menschlicher Eingriffe an Bedeutung gewinnen. Heidegger erklärt, entscheidend sei nicht das Machen, sondern das „Entbergen“, und zwar nicht als Herstellung, sondern als „Hervorbringen“. Das ist die Aufgabe des Künstlers.

Weitere Stichworte von Richard Dunn über die Zukunft kreativer KI gibt es hier.

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