Indiens Zeitgefühl
Drei Bidis

Inder*innen haben ein schräges Zeitgefühl. Sie sind ständig zu spät, selbst zu ihren eigenen Partys. Foto (Detail): Icons8 Team © Unsplash

Wie wir mit Zeit umgehen, legt fest, wer wir als Gesellschaft sind. Aber vielleicht ist es eine Illusion, eine westliche Einbildung, dass Zeit kontrolliert werden kann und sollte.

Saskya Jain

Kurz nach acht an einem kühlen Freitagabend in Delhi. Der Verkehr war harmlos heute und die Fahrt kürzer als erwartet. Mein Mann – ebenfalls Schriftsteller, aber aus Deutschland, also mit einer genetischen Veranlagung für Pünktlichkeit – schlägt vor, dass wir aus unserem eiskalten Auto steigen, um zu klingeln. Wir sind zu einer Dinnerparty eingeladen. Ich lehne ab und weise darauf hin, dass es kurz nach acht ist. „Genau“, erwidert er, „also sind wir schon zu spät.“ Die Einladung war für acht Uhr. „Nein, wir sind früh dran“, insistiere ich. „Eine Stunde zu früh. Mindestens.“

Brauner Zeiger, weißer Zeiger

Wir haben dieses Gespräch schon oft geführt. Alle indo-europäischen Paare in Delhi haben dieses Gespräch schon oft geführt. Es sollte ein Emoticon dafür geben: ein brauner Zeiger und ein weißer Zeiger auf einem Zifferblatt-Gesicht, das mit den Augen rollt.
 

Ein paar Jahre später verblüfft es meinen Mann nicht mehr, wenn der Gastgeber einer Dinnerparty die Tür nur mit einem Handtuch bekleidet öffnet, sobald wir um Punkt acht Uhr auftauchen (ja, wir sind noch immer eines jener Paare). Mein Mann geht nicht mehr davon aus, dass wir uns im Datum geirrt haben oder dass ihm die SMS entgangen ist, in der jener Abend als Toga-Party angekündigt wurde. Inzwischen umarmt mein Mann unseren Gastgeber, der nicht mehr überrascht oder beleidigt ist, uns zu dieser gottlosen Stunde anzutreffen, und wir genehmigen uns einen Drink, bis andere Gäste hinzustoßen. Zu dem Zeitpunkt taucht auch unser Gastgeber wieder auf. Um halb zehn ist der Raum erfüllt von Gesprächen, Gelächter und gelegentlich hitzigen Debatten, das Abendessen wird kurz vor Mitternacht aufgetischt und nach dem Essen gehen alle.

Inder*innen haben ein schräges Zeitgefühl. Sie sind ständig zu spät, selbst zu ihren eigenen Partys.

Wenn dein Zeiger auf dem oben erwähnten Emoticon nicht der braune ist, denkst du: Inder*innen haben ein schräges Zeitgefühl. Sie sind ständig zu spät, selbst zu ihren eigenen Partys, und tragen einen Mangel an Respekt für ihre Mitbürger*innen zur Schau. Sie sind unzuverlässig, was Termine betrifft, egal ob diese professionell, romantisch oder in der Tat existenziell sind (ich bin zwei Wochen nach meinem errechneten Geburtstermin auf die Welt gekommen).
 
Wenn dein Zeiger der braune ist, schüttelst du den Kopf und versuchst, deine Gedanken in ähnlich ordentliche Päckchen zu schnüren. Du kommst auf Folgendes: Was die Goras nicht verstehen, ist, dass Zeit nicht nur eine Gliederung der Rotation und der Umlaufbahn der Erde in überschaubare Einheiten ist, um unser tägliches Leben zu strukturieren. Es ist ein notwendiges und anpassungsfähiges Werkzeug, um in einer Gesellschaft oder vielmehr einem ganzen Universum die Kontrolle zu behalten, in dem sich so viel außerhalb unserer Kontrolle befindet.

Das Leben steuern

Ja, hier liegt ganz offensichtlich ein Paradox vor: Ich sage, dass unser – nennen wir ihn: flexibler – Umgang mit Zeit ein Weg ist, Kontrolle über die Tatsache zu behalten, dass wir nichts kontrollieren können. Mit anderen Worten: Während Deutsche definitiv besser darin sind, die Lebensbereiche zu kontrollieren, die kontrolliert werden können, haben wir in Indien gemeinsam eine Art spirituelle Immunität gegen die Einschränkungen der Zeit entwickelt: um mit der Tatsache fertigzuwerden, dass das Leben in Indien jederzeit weniger kontrollierbar ist als in Deutschland. Und wenn das nicht der Fall ist, dann nur, weil unangemessene Geldbeträge und / oder billige Arbeitskräfte beteiligt sind, wie beispielsweise Bangalores Hubschraubertaxis zur Überlistung des Verkehrs oder Kindermädchen, die Kleinkinder in klimatisierten SUVs durch die Stadt kutschieren.
 
In diesem Szenario ist Pünktlichkeit – für alle, die sie leben, sowie für jene, die davon profitieren – in erster Linie ein Luxus in einem Umfeld, in dem man sich nicht mit chronisch unzuverlässiger und ungerechter Regierungsführung auseinandersetzen muss, mit unterbezahlter Arbeit, überteuerten Waren, aufdringlichen Schwiegereltern, Stromausfällen, Bestechung, niederschmetterndem Verkehr, der schlecht durchdachten Umsetzung von Gesetzen, Hitze und Staub in den meisten Monaten, dürftigen sanitären Einrichtungen, giftiger Luft, unsauberen Lebensmitteln, einem Mangel an öffentlichen Räumen, Wasserknappheit et cetera, um mit einem gewissen Grad an Sicherheit und Würde zu funktionieren.

Indiens Nationalsport

In zweiter Linie und leider wird Zeit somit zu einem nützlichen Werkzeug für all jene, die ihre Macht und Dominanz über andere um jeden Preis geltend machen wollen. Sei es der VIP, der Stunden zu spät auf der Eröffnungsfeier auftaucht, der Baraat, der erst am Veranstaltungsort der Braut erscheint, als die meisten Gäste bereits betrunken sind und über eine Scheidung nachdenken, oder der IAS-Beamte, der sicherstellt, dass man sich gründlich von der Sinnlosigkeit des Lebens überzeugt hat, ehe er einen endlich in seine heilige Kammer ruft – jemand anderen (normalerweise weiter unten in der Hackordnung) warten zu lassen, ist unser Nationalsport. Als ich einmal länger als eine Stunde in der Post warten musste, obwohl nur eine Handvoll Kund*innen vor mir war, rief einer der Postangestellten seinem neuen Kollegen auf Hindi zu – in einer Lautstärke, mit der er garantierte, dass all wir frustrierten, wartenden, zunehmend mörderischen Trottel ihn hörten: „Versuch bloß nicht, zu effizient zu sein. Sonst lässt du mich schlecht aussehen.“

Drei Bidis

Wie wir mit Zeit umgehen, bestimmt, wer wir als Gesellschaft sind. Aber vielleicht ist es eine Illusion, eine westliche Einbildung, dass Zeit kontrolliert werden kann und sollte. Wer ist glücklicher – der Pendler, der Überraschungen hasst und sich über einen Zug aufregt, der zwei Minuten zu spät ist, oder der Bittsteller, der weiß, dass das Leben sinnlos ist und man trotzdem weitermachen muss?
 
Vor einigen Jahren habe ich in Palitana einen alten Mann getroffen. Ich versuchte, von den Tempeln zurück zum Gästehaus zu finden, und fragte ihn, wie weit ich von meinem Ziel entfernt sei. Er dachte einen Moment nach und sagte dann: „Drei Bidis entfernt.“ Wir sollten uns bewusst machen, dass sich unsere Kontrolle über die Zeit in diesem Universum immer auf drei Bidis beschränkt.

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