Bruch der Kodierung
Die Ästhetik des Fehlers

Fehler als Inspiration Foto (Detail): © Colourbox

Die Ästhetik des Fehlers, Scheiterns, Abbrechens oder Zusammenbrechens ist eine mannigfaltige Erscheinung, die sich sowohl durch ganz verschiedene Aspekte unseres Alltagslebens als auch durch die Kunst im Allgemeinen und die mediale zeitgenössische Musik im Speziellen zieht. Neben dem destruktiven, zerstörerischen Element des Fehlers bietet dieser immer auch die Chance, hinter die Fassaden zu schauen und den Mechanismus der Systeme zu verstehen.
 

Alexander Schubert

Sobald eine Funktion gestört ist oder sich fehlerhaft verhält, lernen wir auf diese Weise etwas über die Wirkungsweise des Systems – sei es in der Biologie, Psychologie, Informatik oder jedem anderen Wissenschaftszweig. Im Besonderen gilt das auch für medial vermittelte digitale Inhalte. In einer Realität, die zunehmend stärker auf digital transportierte Inhalte setzt, gewinnt dieser Aspekt eine wachsende soziale und damit auch künstlerische Brisanz. Dieser Text stellt die Konzeption und Konnotation des Fehlers dar, insbesondere im Bereich digitaler Medien. Daraus resultierende Implikationen für die Kunst sowie Möglichkeiten, diese Eigenschaften von Fehlern nutzbar zu machen, werden anhand von Beispielen erörtert. Abschließend lege ich dar, wie diese Überlegungen zum Prinzip des Fehlers auch meine eigenen Stücke ganz wesentlich bestimmen.

Fehlerarten und Prinzipien

Per Definition haftet dem Fehler zuerst einmal Negatives an. Er steht für das Abweichen von einer Regel, von einer Erwartung oder von einer Voraussage. Funktioniert etwas nicht so, wie wir es erwarten oder uns wünschen, dann wird dies erstmal als enttäuschend empfunden. Doch in allen Disziplinen kann dem Scheitern auch immer etwas Positives abgewonnen werden, da auf diese Weise eine Situation oder ein Ablauf neu beleuchtet und hinterfragt werden kann. Viele Erfahrungen und Erkenntnisse beruhen auf Fehlern –, ob sie nun in Kauf genommen wurden (Trial and Error), kalkuliert waren (Versuchsanordnung) oder überraschend eintreten (Scheitern).
 
Nehmen wir einen Fehler wahr, so zeigt uns das zuerst, dass wir eine Annahme oder ein Vorwissen zu einem Ereignis oder zu einer Funktion hatten. Nur dann können wir einen Fehler ausmachen. Diese Annahme kann sowohl bewusst als auch unbewusst sein. Gerade im unbewussten Fall ergibt sich aus der Fehlerbeobachtung ein tieferes Verständnis für die Ausgangssituation, denn nun wird durch das Erkennen des Fehlers ein unbewusstes Wissen reflektiert.
 
Doch es können nicht nur bestehende Annahmen enttäuscht werden – es können auch unvorhersehbare Verhaltensmuster zu Tage treten. So wird vielleicht in einer Theateraufführung eine neue Kategorie offengelegt oder ein Baustein eines Computerprogramms erkennbar, der vorher nicht sichtbar war. In einem solchen Fall lernen wir etwas über das zugrunde liegende Prinzip beziehungsweise die Eigenschaften eines solchen Systems. Dies ist besonders dann der Fall, wenn ein Fehler nicht global auftritt, sondern den Teilbereich eines Systems betrifft. Auf diese Weise wurden zum Beispiel in der Medizin nach Unfällen durch Erkennen von Fehlfunktionen bestimmter Gehirnregionen deren Aufgaben klassifiziert.

Fehlergründe

Die Gründe für das Auftreten von Fehlern sind vielgestaltig: Komponenten oder relevante Informationen können fehlen, Teile defekt sein oder Vorgänge gestört werden. Partielle Fehler, die zu keinem Komplettversagen führen, bergen besondere Chancen für einen Erkenntnisgewinn, da sie oftmals eine Lokalisierung zulassen und damit Komponenten aufzeigen. Dies offenbart Einblicke in ontologische Strukturen oder technische Konstruktionsweisen. Nicht umsonst werden beim „Debugging“ von Software sukzessive Abschnitt um Abschnitt beziehungsweise Modul um Modul überprüft. Auf ähnliche Weise konnte anhand von Krankheiten verstanden werden, welche Gehirnregionen für Sprachgenese und -verständnis notwendig sind.
 
Nicht immer führt der Teilausfall nur zu einer partiellen Störung – ein kaputtes Rad kann auch die ganze Maschinerie zum Erliegen bringen. Dabei lernen wir vielleicht weniger über die Funktionsweise als über die Relevanz einer Komponente, ihre Unabdingbarkeit. Im Zweifelsfall ist aber auch hier die positive Schlussfolgerung möglich: das Anerkennen einer technischen, sozio- logischen, ästhetischen oder politischen Funktion, Untereinheit oder Gruppierung. Als Beispiele im gesellschaftlichen Bereich denke man an die Finanzkrise, Burnouts und Streiks einzelner Berufsgruppen.
 
Neben dem Ausfall einer Komponente kann ein gestörtes Zusammenspiel auch Ursache eines Fehlers sein. Ein reiches Spektrum an fehlerhaften Kommunikationskanälen und damit verbundenen Problemen kann in technischer und zwischenmenschlicher Vermittlung vorgefunden werden.

Analoge und digitale Medien

Technische Fehler und mediale Dysfunktionen kann man – vergleichbar mit partiellen und umfassenden Fehlern – in die komplementären Klassen „analog“ und „digital“ einteilen. Ein analoges System, und damit auch der in ihm auftretende Fehler, beruht auf einer kontinuierlichen (und nicht diskreten) Repräsentation. Daraus ergibt sich, dass Störungen eher als Verzerrung oder Modulation erlebt werden und nicht als inhaltlicher, stufenweise auftretender Sprung wie im Fall digitaler Systeme. Ein saturiertes Tonband oder eine zerkratzte Schallplatte führen zu einer sukzessiven Änderung des Klangresultats – es ist eine kontinuierliche Veränderung des Mechanismus. Im Extremfall kann auch im Analogen ein Sprung oder Riss auftreten – aber das Charakteristische ist stetige Änderung, welche vor allem in der kongruenten Kodierung der Inhalte liegt. Ein gestörtes analoges Funksignal wird eher verzerren oder verrauschen und erst im Extremfall zu einem Abbruch führen. In der digitalen Welt ist es häufig andersherum: Speicherung und Repräsentation sind gerade nicht analog. Somit kann es, wenn die Kodierung zu sehr gestört ist, leichter zu einem Komplettausfall kommen. Die Fehlerkorrekturen, zum Beispiel in CD-Spielern, überbrücken diese Schwelle und tolerieren einige Fehler, bis sie dann sprunghaft sehr starke Beeinträchtigung zeigen oder unvermittelt einfach den Geist aufgeben. Die Komprimierung und kompaktere Kodierung der Daten ist folglich die Achillesferse des digitalen Systems.

Scheitern als Chance Foto (Detail): © Colourbox In der Musik ist der Umgang mit absichtlich herbeigeführten Fehlern von Tonträgern und technischen Musikgeräten eine inszwischen etablierte Praxis, die eigene Genres ausgebildet haben, etwa Glitch, Noise oder Digital Noise. Diese Ästhetik ist mittlerweile auch zunehmend im Mainstream von Musik, Film und anderen Sparten angekommen.
 
Künstler wie Yasunao Tone (geboren 1935) oder das Musikprojekt Oval (1991–96) haben sich ausgiebig dieser Techniken im digitalen Segment bedient. Martin Arnold (geboren 1959) und Raphael Montañez Ortiz (geboren 1934) spielten mit ähnlichen Eindrücken, basierend auf der Manipulation von Videomaterial. Bernhard Lang (geboren 1957) übertrug dieses Modell teilweise auf komponierte Werke. 
 
Einerseits entstanden so neue Klangformen. Das harte und kreischende Geräusch eines digitalen Fehlers war eine willkommene Erweiterung klanglicher Möglichkeiten. Doch auch die inhaltliche und narrative Ebene eines so bearbeiteten Quellmaterials wurde maßgeblich geändert. Das resultierende Springen, Zerhacken und Loopen ändert Chronologie, Dramaturgie und Wahrnehmung des Stücks fundamental. Das Resultat kann amüsant, bedrohlich, verstörend oder schön sein. Aber fast immer blicken wir anders auf das Ausgangsmaterial und sind gezwungen, einen Schritt zurückzutreten und mit einem distanzierten Blick auf den Inhalt zu schauen. Verständlicherweise sind deshalb diese Tools auch als ein beliebtes Remix-Werkzeug etabliert worden.

Kodierung

Neben der musikalischen und konzeptuellen Veränderung geben diese Werke immer auch einen Blick frei hinter die Kulissen des Abspiel-, Speicher-, Darstellungs- oder Kommunikationssystems. Am bekanntesten ist die oben erwähnte springende CD und das zugrunde liegende blockweise Speichern und Abtasten von Musik.
 
Nach der CD-Kodierung ist wahrscheinlich das MP3-Format der am weitesten verbreitete Audio-Codec. Die verlustbehaftete Speicherform beinhaltet hier einen (in Kauf genommenen) Fehler, welcher je nach Komprimierungsgrad präsenter oder nahezu unhörbar wird. Hannes Seidl hat in seinem Stück Mehr als die Hälfte genau die fehlenden Teile, die der Algorithmus bewusst zur Speicherminimierung weglässt, von einem Orchester spielen lassen. Jedes Modell und jede Approximation nimmt einen Fehler (wissentlich oder unwissentlich) in Kauf – und Seidl lenkt unser Augenmerk auf diese verschwundenen Anteile. Das Fehlen eines kaum hörbaren, aber quantitativ gewichtigen Teils des Gesamtklangs deutet Seidl als politische Metapher für ein System, in dem ein Großteil der Stimmen vernachlässigt werden. Ein willentlich in Kauf genommener Fehler wird hinterfragt.

Ein markanter Fehler im digitalen Video findet sich aufgrund des relativen Speicherns von Videobildern in Bezug auf den sogenannten Key Frame. Hierbei wird zum Beispiel nur jedes 15. Bild komplett gespeichert, während die folgenden 14 Bilder lediglich die Veränderung aufzeichnen. Somit wird die Datenmenge bei unveränderten Bildanteilen erheblich reduziert. Wird nun dieses Referenz-Frame falsch gespeichert oder ist nicht vorhanden, so nehmen die folgenden Bilder auf ein falsches Bild Bezug und es kommt zu einer fehlerhaften, amorphen und surrealen Darstellung, in welcher Hintergründe, Gesichter und Objekte ineinander verschwimmen. Nicolas Provost hat diese Ästhetik in Long Live the New Flesh (2009) aufgegriffen und Filmsequenzen aus David Cronenbergs Videodrome (1983) diesem Fehler unterzogen. Die Thematik der Verschmelzung von Körper und Technik des Originalfilms wird durch diese Morphingfehler weiter verstärkt.
 
In Alvin Luciers Klassiker I am Sitting in a Room (1969) werden vorrangig Charakteristika von Raum, Sprache und Audiotechnik hervorgehoben. Die enthaltene Verstärkung des Fehlers von Aufnahme- und Wiedergabeapparat ist hier allerdings ebenfalls enthalten. Diverse Arbeiten setzen sich mit dem Prinzip „Generation Loss“ auseinander – also dem Qualitätsverlust bei wiederholtem Kopieren (zum Beispiel von VHS-Kassetten). Die Fehler schleichen sich sukzessive ein, destabilisieren das Bild und verzerren den Ton. In dem digitalen Äquivalent Video Room 1000 lädt ein YouTube- Nutzer ein Video bei der Videoplattform hoch, um es (nachdem es von YouTube eingepflegt und umkodiert wurde) erneut herunterzuladen. Diesen Vorgang wiederholt er tausend Mal, um so – analog zu Lucier – die Kodierungsfehler hör- und sichtbar zu machen.

Die Ästhetik des Fehlers Foto (Detail): © Colourbox Dan Tramte (geb. 1985) stellt in seiner Lecture-Performance Cancellation Artifacts verschiedene Beispiele vor, in denen transformiertes und damit fehlerbehaftetes Material wieder rücktransformiert wird. Das Ergebnis ist das Ursprungsmaterial zuzüglich der Artefakte, die durch die Bearbeitung entstanden sind. Es ergibt sich folglich so etwas wie ein digitaler Fußabdruck der verwendeten Manipulationen (und Fehlerartefakte).

Hinter den Kulissen

Aus der Arbeit mit manipulierten und zerstörten digitalen Medien haben sich seit Bestehen der Technologien, wie oben erwähnt, sofort eigene Kunstformen gebildet. In einer zunehmend virtuellen, editierbaren und medialen Welt ist der Glitch aber nicht nur ein Mittel des Sounddesigns, sondern ein Werkzeug, um das Konstruktivistische unserer Umgebung offenzulegen und zu thematisieren.
 
Eine Retuschierpanne oder die übertriebene Anpassung eines Models mittels Photoshop wird zum Sinnbild für die allgegenwärtige Manipulation von Körperbildern. Ein abgestürzter Bankautomat mit einer Windows-Fehlermeldung führt uns vor Augen, dass hinter der seriösen, klinisch unantastbaren Oberfläche der Finanzwelt doch nur ein fehleranfälliges und nicht selten hackbares Betriebssystem liegt. Die allmächtige Wirtschaftsfassade schrumpft so sinnbildlich zu einem fragilen Personal Computer.
 
David O’Reillys Videoarbeiten sind gespickt mit Glitch- und Noise-Elementen. In dem eher ruhigeren und poetischen Video-Loop Black Lake (2010) wird zuerst eine gerenderte nächtliche Seenlandschaft mit Vögeln gezeigt. Allmählich schleicht sich ein Darstellungsfehler ein, und wir sehen statt der Szenerie die dahinter liegenden Bewegungsvektoren und Objektgitter. Die Virtualität wird uns explizit vor Augen geführt und entwickelt in diesem Fall eine zur Ästhetik des vorherigen Abschnitts passende Einsamkeit und Leere.

Post-Internet

Nach dem vollständigen Einzug des Internets und digitaler Kommunikationsmittel sind Post-Internet-Konzepte auch in der Kunst angekommen und etablieren sich zunehmend als eine Komponente der jüngeren Kompositions- und Kunstszene. Auch in diesem Kontext taucht der Fehler immer wieder als Impulsgeber auf, der dazu einlädt, die Verzahnung von virtueller Welt und Realität zu hinterfragen.
 
Nicht selten führen Softwarefehler zufällig zu künstlerisch spannenden Ergebnissen – und diese Erkenntnis lässt sich auch auf fast alle bisher beschriebenen Beispiele ausweiten. Viel diskutiert wurde die anfänglich besonders artefaktbehaftete Maps Applikation von Apple. Hier wurden Texturdaten und Höheninformationen bei der 3-D-Ansicht von Karten häufig fehlerhaft zusammengetragen. Als Ergebnis entstanden geometrisch unmögliche pseudoreale Darstellungen von der Erdoberfläche. Fehlpaarungen von Datensätzen stellen auch im Allgemeineren eine typische digitale Fehlerquelle dar.
 
Helmut Smits dreht wiederum in seiner Arbeit Dead Pixel in Google Earth (2008) den Spieß um, indem er auf einer realen Wiese ein Quadrat von 82 cm Kantenlänge abbrennt und somit schwarz färbt. Dies entspricht bei einer Ansicht aus einem Kilometer Entfernung mit Google Maps genau einem Pixel. Diese Arbeit im Bereich der Landscape Art simuliert im realen einen virtuellen Fehler – und bei erneuter Erfassung durch Satellitenfotos ist dieser nicht mehr von einem realen Pixelfehler zu unterscheiden.
 
Umgekehrt kam es schon vor, dass ein Fehler im Google-Navigationssystem dazu führte, dass sehr viele desorientierte Autofahrer bei einer Stauumleitung wie Lemminge vor einer Fußgängerbrücke im Wald endeten und so unfreiwillig zum Spielball eines (in diesem Fall noch) folgenlosen und absurden Fehlers wurden.

Virtuelle Systeme und Erwartungshaltungen

In meinen eigenen Kompositionen spielt das Thema des Fehlers eine kontinuierliche Rolle. Da ich mich vorrangig mit digitalen Medien und medialen Repräsentationen beschäftige, entspringt die Form des Fehlers in meinen Stücken auch immer der computerbasierten Kodierung.
Ausgangspunkt eines Werks ist bei mir meistens das Erstellen eines Settings / einer Szenerie. Diese Ausgangssituation kann szenisch, gestisch, musikalisch, visuell oder inhaltlich sein. Aber in allen Fällen wird dieses Setting mithilfe von Technik, Programmierung und digital gesteuerten visuellen Inhalten realisiert und vermittelt. In diesem Prozess liegt etwas generell Artifizielles und Konstruiertes. Dieser Kreationsprozess und die Verbindung der verschiedenen Inhalte (mittels Technik) ist erstmal nicht zwingend, sondern arbiträr. Es geht mir folglich darum, ein System mit virtuellem Charakter herzustellen und eine dazugehörige Erwartungshaltung zu provozieren. Das kann zum Beispiel die technische Kopplung von Gesten zu klanglichen Ereignissen sein, das Setting einer Lecture oder der Einsatz von Video-Zuspielungen.
 
In meinen sensorbasierten Stücken Weapon of Choice (2009) und Laplace Tiger (2009) wurden durch Bewegungssensoren Gesten in Klänge (und Licht) übersetzt. Zuerst ermöglichte dieses Setup ein expressives, improvisatorisch steuerbares Hybrid-Instrument, und die Technik sollte als Verlängerung und Erweiterung des Interpreten fungieren. Point Ones (2012) und dann verstärkt Serious Smile (2013–14) spielen mit der Interaktion zwischen einem sensorgestützten Dirigenten und einem Ensemble. Die Beliebigkeit, ob das Ensemble oder die Elektronik spielt und in welcher Form die Setzung der Elektronik frei belegbar ist, zeigt sich zum Ende des Stücks, wenn die Dirigiergesten nur noch Fehlermeldungen generieren und zunehmend asynchron wiedergegeben werden. Die Ebenen des Zusammenspiels laufen sowohl technisch als auch bezüglich der Interaktion aus dem Ruder. Die Nutzung des Fehlers unterstreicht in diesem Falle das konstruktivistische des Setups.

Narrativer Absturz

Die oben beschriebenen Stücke konzentrierten sich hauptsächlich auf gestische Interaktion, technische Steuerung und nonverbale Vermittlung von Inhalten. Sie spielen mit den sich hieraus ergebenden Erwartungshaltungen.
 
Ein inhaltlicher Bruch ist nicht zwangsläufig an einen technischen Fehler gebunden, kann aber durch einen solchen herbeigeführt werden. In meiner Lecture Performance Star Me Kitten (2015) wird der Computerfehler zu diesem Zweck eingesetzt. Zu Beginn des Stücks wird ein mehr oder weniger glaubwürdiges Setting durch einen musikwissenschaftlichen Vortrag etabliert, in welchem das Ensemble thematische Inhalte illustriert. Es wird eine Theorie benannt und eine Reihe von Symbolen werden vorgestellt und musikalisch interpretiert. Es ergibt sich daraus ein halbwegs geschlossenes Setting, welches nach einem Drittel des Stücks zu einem Absturz der Powerpoint-Präsentation führt. Ab diesem Zeitpunkt wird der Blickwinkel gewechselt – einerseits in „das Innere“ des Computers – denn ab nun besteht das musikalische und visuelle Material zum großen Teil aus Warnmeldungen und Fehlerklängen. Außerdem sieht man immer wieder hinter die Kulisse der Präsentation: die Folien bei der Bearbeitung, das Editieren in Photoshop, die das Notensatzprogramm sprengenden Notenberge – und immer wieder die Fehlermeldung des Beamers und der verwendeten Programme. Doch der Bruch und der damit verbundene Blickwechsel ereignet sich parallel hierzu und vor allem auf narrativer Ebene. Die im Vorfeld etablierten Symbole und Bedeutungseinheiten werden ab dem Zeitpunkt in einen anderen Kontext gesetzt und entsprechen nicht mehr dem sachlichen Vortrag. Mit dem Abbruch des Programms eröffnet sich ein Bewusstseinsstrom und man schaut hinter die Fassade der Vortragenden, in eine hinter der Kulisse existierende emotionale Parallelwelt. Neben seiner Funktion als Umschalter und Materialaggregator fungiert der Fehler auch als post- modernes Werkzeug für schnelle, kontrastierende Schnitttechniken. So wie ein Fehler im Alltag ungewollt eine andere Eigenschaft bloßlegen kann, so ermöglicht der Fehler auch den schnellen Sprung zu einem gegenübergestellten Inhalt. Das Verhalten des dysfunktionalen Computers ist immer sprunghaft und überraschend. In diesem Fall offenbart er neben der technischen Komponente auch das Subjekt wie auch die Emotion hinter der Oberfläche.
 
Einen ähnlichen Ansatz verwende ich in dem Stück F1 (2016), in welchem zu Beginn ein zu spät eintreffender Musiker auf die Bühne eilt, der Länge nach hinfällt und von dort an leblos liegen bleibt. Der Fehler findet hier direkt zum Beginn des Stücks statt, bricht so direkt mit der Erwartung an ein klassisches Musikstück und etabliert von vornherein ein eigenes Setting. Auch in diesem Fall folgt dem Fehler augenblicklich eine düstere Reise durch eine morbide Gedankenwelt von Tod, Täuschung und Verlust.

Künstliche Körper und Aufführungsmaschinen

Nach den sensorgestützten Werken habe ich mich weiter mit dem Körper auf der Bühne und der Gestik der Performer beschäftigt. Den Arbeitsansatz der synchronisierten Choreografie, gekoppelt mit einer Lichtprogrammierung, habe ich in den Stücken Sensate Focus (2014) und Scanners (2013/16) entwickelt. In diesen Arbeiten befinden sich Musiker auf einer vollkommen dunklen Bühne und führen neben Spielbewegungen auch artifizielle Gesten aus. Zu jeder Aktion wird der Spieler für die Dauer der Handlung von einem Spotlight beleuchtet. Somit entstehen kurze Ausschnitte, die einen Teil der Kontinuität der Performance und körperlichen Präsenz in einer Video-Clip- oder GIF-Ästhetik wiedergeben. Der Mensch auf der Bühne wird so als visuelles Sample wahrgenommen und zu einem unpersönlichen Abziehbild diskretisiert und diskreditiert. Die zunehmend maschinenhaften Bewegungen führen in Sensate Focus zu einer vehementen Beschleunigung, die für einen Menschen unausführbar ist und in einer unspielbaren Passage endet. Die Instrumentalisten werden hier in Bezug auf die Geschwindigkeit ans Limit geführt, und es resultiert in einem Fehler, einem Heißlaufen des Getriebes.
 
Mit Codec Error (2017) wird dieser Ansatz der synchronisierten Choreografie und Beleuchtung fortgesetzt und zu einem vorläufigen Abschluss gebracht. Das Grundsetting ist hierbei das gleiche, nur dass die Bühne auch in ihrer Tiefe genutzt wird und die Scheinwerfer beweglich sind, somit jeden beliebigen Punkt beleuchten können. Die zwei Schlagzeuger und der Bassist können folglich auf jeder Position von jedem Licht angestrahlt werden. Dies gibt ihnen die Freiheit, sich zu verschiedenen auf der Bühne verteilten Instrumenten zu bewegen. Die Motivation, in einer Live-Situation eine Video-Darstellung zu vermitteln, wird hier zugespitzt. Jegliche Positionswechsel der Performer auf der Bühne erfolgen nach dem Stop-Motion-Prinzip. Im Stroboskoplicht bewegen sich die Musiker unmerklich vorwärts und vermitteln so den Eindruck eines im Dunklen verschobenen unbelebten Gegenstands. Die Performer wirken daher entmenschlicht und ähneln einem Hologramm. Dieser Eindruck wird auch durch das Wechseln des Aufenthaltsorts im Dunkeln unterstützt, was den Eindruck von Diskontinuität weiter verstärkt. Dem Titel des Stücks entsprechend wird eine Kodierung – explizit eine Videokodierung – der Musiker auf der Bühne angestrebt.
 
Nach einem Drittel des Stücks kommt es zum ersten Fehler: Die Spielbewegungen sind nun ähnlich einer springenden CD – besser: DVD – in Mikro-Loops unterteilt und gleichen einem kaputten Abspielapparat, der in einer Schleife festhängt. Das Bild einer nicht richtig ausgelesenen Videodatei soll noch expliziter werden. Die Clip-hafte Darstellung der Performer hat einen Wiedergabefehler und führt zu einer dysfunktionalen Repräsentation der Menschen auf der Bühne. Verstärkt wird dieser Effekt durch den Einsatz des Lichts in dieser Passage. Einerseits wechseln die Lichter nun in verschiedenen Patterns zwischen den Grundfarben Rot, Blau und Grün. Jeder Lichtblitz führt zu einer instantanen Momentaufnahme – und folglich in der Analogie des Videos zum Generieren eines Frames. Das Wechseln zwischen den RGB-Mischfarben emuliert so einen klassischen Videofehler (und auch Videoeffekt) – das Prinzip des Farb-Channel-Offsets. Des Weiteren sind auf jeden Musiker zu jedem Zeitpunkt mindestens drei Scheinwerfer aus (möglichst) orthogonalen Winkeln gerichtet. Wenn diese nun ebenfalls in bestimmten Abfolgen die Musiker beleuchten, hat das zur Folge, dass die aufeinanderfolgenden Momentaufnahmen den Spieler aus verschiedenen Winkeln beleuchten. In der Summe sehen wir beispielsweise zuerst nur die Rückseite des Performers in Rot, dann die linke Seite in Blau und abschließend einen blauen Lichtblitz aus der gegenüber- liegenden Richtung. Auf diese Weise soll ein Kodierungsfehler einer Videodatei nachempfunden werden. Mit analogen Mitteln wird auf diese Weise ohne den Einsatz von Projektion die Ästhetik einer kaputten Videodatei generiert. Das Erscheinungsbild springender Frames und fehlerhafter Körperdarstellungen entsteht – und dies in einer möglichst abstrakten Darstellung.
 
Exakt zur Mitte des Stücks mündet diese Fehlfunktion in eine Art Systemabsturz mit anderthalbminütiger Stille und die Präsentationsform wird invertiert. Ab diesem Zeitpunkt finden alle Handlungen grundsätzlich auf einer flächig beleuchteten Bühne statt. Das Stück beginnt nun (nicht identisch, aber vom Ablauf ähnlich) noch einmal von vorne. Wieder bewegt sich der Bassist in Zeitlupe auf das Publikum zu – doch nun sehen wir alles klar erkennbar beleuchtet. Grundsätzlich hat dieser Absturz einen Wechsel der Perspektive zur Folge. Der Betrachter kann noch einmal anders auf das Geschehen und Setting blicken und es neu beurteilen. Der Aufführungsapparat ist offen exponiert und dadurch entzaubert. Markierungen auf dem Boden, Mikrofone an den Handgelenken der Musiker, Tabletcomputer auf dem Fußboden und kaschierte Scheinwerfer sind nun sichtbar. Die Hologramm-Black-Box und auch die damit verbundene sensorische Überwältigung ist in sich zusammengefallen. Zum Ende des Stücks wird dieser Umstand zugespitzt, wenn nach einem weiteren Absturz nun der Click-track über die Lautsprecher im Saal hörbar wird. Diese Audiospur beinhaltet auch die Anweisungen, die die Musiker per Kopfhörer zugespielt bekommen, um im Dunkeln ihre Einsätze zu finden. Damit ist der letzte Teil des Geheimnisses des generierten virtuellen Settings offengelegt.
 
Nun ändert sich nicht nur der Blick auf das Setting, sondern insbesondere der Blick auf die Musiker. In der ultra-abstrakten Darstellung im ersten Teil des Stücks hat man die Musiker nicht als Menschen wahrgenommen, sondern eher als Projektion eines Menschen. Im zweiten Teil blickt das Publikum nun lange auf die Körper und es erschließt sich so eine persönlichere, emphatischere Sichtweise. Der Fokus springt von der digitalen Repräsentation zum eigentlichen Menschen zurück. Komplementär zum Ausgangssetting erlischt nur gelegentlich das Arbeitslicht auf der Bühne und beleuchtet dann nur in kurzen Blitzen die Musiker per Spotlight.
 
Ausgehend von einer natürlichen Betrachtung der Musiker auf der Bühne wechselt, einem Fehler gleich, die Sichtweise / Darstellung des Interpreten schlagartig und gibt das digitale Abbild preis. Das Preisgeben des Clicktracks und der Täuschungsmechanismen – was in der Regel immer ein Fehler ist – lässt den Zuhörer hier nun auf den Kontrollapparat des Werks blicken und versucht auf diese Weise eine allgemeingültigere Metapher darzustellen.

Ausblick

Die uns umgebende Welt wird zunehmend virtueller, artifizieller und oberflächlich perfekter. Mediale Inhalte sind präsenter denn je zuvor, und für die Kunst kann darin die Chance liegen dazu beizutragen, dieses System zu reflektieren. Nie zuvor war die Verwendung multimedialer Mittel in der zeitgenössischen Kunst einfacher und nahe liegender als heute. Das birgt die Gefahr der Affirmation und unreflektierten Übernahme. Doch spektakuläre Soundeffekte oder rechenintensive Videobearbeitungen sind zur Massenware geworden und als Material genauso etabliert wie Helmut Lachenmanns Spieltechniken. Wenn der Neuheitswert der Technik aufgebraucht ist, wird die Verwendungsart der Mittel zum eigentlichen Thema. Hier ist das Besteck der Medienkunst im Kontext der zeitgenössischen Musik endlich als Inhalt und nicht als Dekor nutzbar geworden. Das kreative und reflexive Potenzial ist in diesem Kontext nicht zu unterschätzen. Konstruktivistisch gestaltet sich unser Lebensraum, und durch das Scheitern einer Oberfläche lassen sich diese Methoden und Vereinbarungen hinterfragen und durchbrechen. Perfektion, oder besser: Makellosigkeit, ist allgegenwärtig, doch sollte das nicht mehr das (alleinige) Ziel der Kunstmusik sein.
 
An diesem Punkt kann das Konzept des Fehlers ansetzen und mit Konventionen und Kommunikationen brechen. Der Fehler ist als Material bereits durchdekliniert – der Glitch als visuelles oder klangliches Element ist halbwegs erschlossen. Doch als Werkzeug ist er heute berechtigter denn je. Wie kann es Kunst schaffen, auf die Täuschung, Perfektion, Bevormundung, Suggestion, Überwachung und Körperbilder aufmerksam zu machen, diese offenzulegen und sie zu kritisieren?
 
Im Zusammenbruch sehen wir, was uns umgibt, was wir von uns abverlangen und wie wir uns täuschen lassen. Virtuelle und medial vermittelte Realitäten werden auf allen technischen Ebenen zunehmend stärker etabliert und proklamiert, Authentizität als (oft manipulierte) Währung gehandelt. Auf emotionaler Ebene stellt sich beim Auftreten eines Fehlers unmittelbar eine Enttäuschung ein. Auf medialer Ebene erleben wir, analog zum eigentlichen Wortsinn, ebenfalls eine Aufhebung der Täuschung.

So können wir hinter die Fassade blicken und in das Abgründige, auf das Kaputte sehen. Hinter dem Abstrakten liegt das Emotionale, hinter dem Mächtigen das Fragile, hinter der Perfektion das Eigentliche. Nicht selten fährt ein fehlerhaftes System irgendwann selbst vor die Wand. In den anderen Fällen dürfen die Künstler, die Hacker und die Aktivisten nachhelfen.

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