Aug. 2022

Corona-Spezial  5 min Mentale Gesundheit: Was die Pandemie mit unserer Psyche angestellt hat

Mentale Gesundheit
Mentale Gesundheit © Canva

Der Mensch ist ein soziales Geschöpf – durch die COVID-19 Pandemie dürfte dies allen auf schmerzliche Weise klar geworden sein. Isolation, Social Distancing, fehlender Körperkontakt und das Verstecken hinter der Maske gehen gegen die menschliche Natur. Natürlich erfordern „ungewöhnliche Zeiten ungewöhnliche Maßnahmen“, doch wenn diese Maßnahmen zum Alltag werden und wir im Umgang mit ihnen ganz allein dastehen, dann kosten sie uns mehr nur als Selbstdisziplin; sie kosten uns unsere mentale Gesundheit.

Die Pandemie ist ein Lehrbuchbeispiel für das sogenannte kollektive Trauma“ oder „Massentrauma“, das eine ganze Gruppe von Menschen gleichzeitig erleidet, wenn sie ein traumatischen Ereignis erlebt. In unserem Fall betrifft es die gesamte Menschheit. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) meldete bisher über 588 Millionen Infektionsfälle, darunter mehr als sechs Millionen Todesfälle (Stand August 2022). In Wirklichkeit dürften diese Zahlen jedoch sehr viel höher liegen, da die Datensammlung von einem Land zum anderen qualitativ und quantitativ stark variiert. Mittlerweile kennen fast alle von uns mindestens eine Person, die COVID-19 hatte oder hat. In vielen Fällen waren wir es sogar selbst. Auch kennen immer mehr Menschen jemanden, häufig einen lieben Menschen, der den Komplikationen der Krankheit erlegen ist.

Verlust und Tod sind uns natürlich nicht fremdes, doch die Bedingungen, die die Coronapandemie geschaffen hat, sind abgründig. Menschen, die Komplikationen der Infektion erlitten, endeten innerhalb weniger Tage im Krankenhaus, wurden auf Sonderstationen isoliert und durften keinen Besuch empfangen. Wer verstarb, war allein und konnte seinen Liebsten nicht Lebewohl sagen. Bestattungen, die nicht den Toten, sondern den Hinterbliebenen zur Verarbeitung des Verlusts und zum Trost dienen, durften nicht stattfinden.

Besonders schwer ist die psychische Last für diejenigen, die die Infektion nach Hause zu ihren Eltern oder Großeltern brachten, die sich erholten, aber zusehen mussten, wie die Älteren den Kampf verloren. Möglicherweise fühlen sie sich verantwortlich für den Tod ihrer Liebsten oder verspüren sogar Schuldgefühle, selbst noch am Leben zu sein, was man als Überlebensschuld-Syndrom bezeichnet.

Nichtregierungsorganisationen (NGOs) weltweit haben kostenlose Supporthotlines eingerichtet, um Hinterbliebene von Opfern der Pandemie zu unterstützen. Die ägyptische NGO Mersal bietet zum Beispiel kostenlose Therapiesitzungen für Menschen in der Krise an, ob diese durch Verlust oder andere Ereignisse traumatisiert sind.
 
Die Pandemie setzt vor allem auch medizinisches Personal unter enormen Druck: angefangen beim hohen Infektionsrisiko bei der Arbeit über wahnwitzige Überstunden bis hin zum Tod von Patient*innen und Kolleg*innen, die sie tagtäglich miterleben müssen. Im Gesundheitsbereich, besonders auf den Notfall- und Intensivstationen der Krankenhäuser, ist der Tod nie weit entfernt, doch während der Pandemie war und ist das Ausmaß erschreckend. In den sogenannten Entwicklungsländern haben Mitarbeiter*innen des Gesundheitssystems mit noch heikleren Bedingungen zu kämpfen. Sie riskieren ihr Leben für Hungerlöhne in medizinischen Einrichtungen, denen es oft an Ausstattung oder Materialen fehlt. Deshalb hat das ägyptische Generalsekretariat für psychische Gesundheit und Sucht eine Hotline eingerichtet, wo sie kostenfreie psychologische Betreuung erhalten.

Wirtschaftliche und soziale Auswirkungen

Die Auswirkungen der Pandemie hören beim Verlust Nahestehender und Burnout noch lange nicht auf – sie sind auch auf sozioökonomischer Ebene spürbar. Der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) zufolge sind 2020 im Vergleich zum vierten Quartal des Vorjahrs „8,8 Prozent der globalen Arbeitsstunden verloren gegangen“, was 255 Millionen Vollzeitstellen und 114 Millionen Menschen betroffen habe. Der Verlust habe „zu einem Abfall globalen Arbeitseinkommens (vor Einbezug von Unterstützungsmaßnahmen) von 8,3 Prozent geführt, was 3,7 Billionen US-Dollar oder 4,4 Prozent des globale Bruttoinlandsprodukts (BIP) gleichkommt“. Weiter schätzt die IAO, dass die globalen Arbeitsstunden im Jahr 2021 „4,3 Prozent unter dem Niveau vor der Pandemie, was 125 Millionen Vollzeitarbeitsplätzen entspricht,“ lagen. Noch signifikanter ist jedoch, dass die IAO vor „einer starken Divergenz“ zwischen Industrie- und Entwicklungsländern bei den Trends der Wiederherstellung von Arbeitsplätzen warnt: „Europa und Zentralasien haben im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie den kleinsten Verlust an geleisteten Arbeitsstunden verzeichnet (2,5 Prozent). Darauf folgt Asien-Pazifik mit 4,6 Prozent. Afrika, die Amerikas und die arabischen Staaten haben jeweils einen Rückgang von 5,6 Prozent, 5,4 Prozent und 6,5 Prozent verzeichnet“.

In den arabischen Ländern reißen sich NGOs die Beine aus, um die von der Pandemie Betroffenen, allen voran Tagelöhner, zu unterstützen. In Algerien versorgen Initiativen wie Le cœur sur la main und SOS Kabylie Familien in Not mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Schulmaterialen, bis sie wieder auf eigenen Beinen stehen können. Statistiken der IAO zeigen jedoch, dass viel mehr staatliche Unterstützung notwendig ist, um die Menschen durch die von der Pandemie verursachte Wirtschaftskrise zu bringen.

Auch diejenigen, die während der Pandemie weder Nahestehende noch ihre Arbeit verloren haben, können Opfer des kollektiven Traumas sein, hat sich doch wieder einmal gezeigt, dass Verunsicherung noch ansteckender sein kann als jede Mikrobe. Die Medien haben eine wichtige Rolle bei der Schaffung eines Klimas der Angst gespielt, insbesondere zu Beginn, als sich selbst seriöse Quellen uneinig über wichtige Fragen, wie nach der Notwendigkeit von Masken, waren. In dieser Zeit entstanden zahlreiche „Fake News“, in denen Meinungen und Empfehlungen geäußert wurden, die nicht wissenschaftlich belegt werden konnten.

Die Wirkung von Lockdowns auf die Psyche

Als die empirische Forschung schließlich so weit war, um mit Sicherheit sagen zu können, dass die Virusinfektion für viele tödlich endete, und die Sterberaten exponentiell anstiegen, ging ein Land nach dem anderen in den Lockdown. Dieser Zustand allein stellte für uns alle eine enorme psychische Belastung dar. Kinder konnten nicht zur Schule gehen und viele begannen Anzeichen psychischer Störungen an den Tag zu legen; davon waren besonders Kinder betroffen, die schon vorher mit Verhaltensproblemen zu kämpfen hatten. Die Kinderärztin und Psychotherapeutin Dr. Amal Nofal fasste diese Misere wie folgt zusammen:

„[Aufgrund der COVID-Beschränkungen] blieben Kindern nur Handys und Computer, um sich zu unterhalten. Viele Kinder verbrachten den ganzen Tag damit, Kampspiele zu spielen, Youtubern zu folgen und Cartoons zu schauen. Dies hat sich in ihren sozialen Kompetenzen niedergeschlagen, sie aggressiver gegenüber andern gemacht und ihren Widerwillen, zur Schule oder zu Trainingsstunden zu gehen, zu lernen und im Haushalt zu helfen, gestärkt. Andere Kinder wiederum litten zuhause unter einem Klima der Angst und Nervosität, so zum Beispiel infolge des Todes von Verwandten und Bekannten durch COVID. Ich habe einen Anstieg an Fällen von OCD [obsessive-compulsive disorder bzw. Zwangsstörung] und Depressionen bei Kindern feststellen können.“

Die Isolation vom sozialen Umfeld wirkte sich auch spürbar auf Jugendliche und junge Erwachsene aus, Altersgruppen, für die Aktivitäten mit Freunden mindestens genauso wichtig für eine gesunde soziale Entwicklung sind wie für Kinder. Dazu sagt Dr. Nofal:

„Auch Jugendlichen blieb nichts anderes übrig, als sich mit soziale Medien und Elektronik zu beschäftigen, was für sie verschiedene schwerwiegende Folgen hatte, wie die Entfremdung von der Familie, denn ihre Ideen und Gedanken wurden zunehmend von sozialen Applikationen und virtuellen Freunden beeinflusst. Spiel- und Internetsucht haben sich stärker verbreitet. Ein unzureichendes Privatleben und Zukunftsängste führten immer häufiger zu Depressionen und Angstzuständen“.

Einige der wichtigsten Ereignisse im Leben von jungen Menschen, wie das erste Jahr an der Uni, Abschlussfeiern oder Hochzeiten, konnten aufgrund der COVID-Restriktionen nicht oder nur im beschränkten Rahmen stattfinden. Eine Metaanalyse von 48 Studien in 204 Ländern, die das Journal The Lancet im Oktober 2021 veröffentlichte, verglich die Verbreitung von Depressionen und Angststörungen vor und während der Pandemie. Die Studie verwies auf einen Anstieg von 27,6 Prozent von Depressionsfällen und 25,6 Prozent von Angststörungen im Zusammenhang mit der Pandemie. In Ländern, die am stärksten von COVID-19 betroffen waren, zeigten sich auch die höchsten Raten psychischer Krankheiten, darunter waren die nahöstlichen Länder Ägypten, Irak und Saudi-Arabien. Die Studie zeigte weiter, dass Frauen und junge Menschen anfälliger für Pandemie-bedingte Depressionen und Angststörungen waren. Doch eigentlich geht es nicht um Altersgruppen: Lockdowns waren eine stressvolle Erfahrung für alle, vor allem die sozioökonomisch und psychisch Hilfsbedürftigsten unter uns.

Regeln, neu gewonnene Freiheiten und „Sich-Anpassen“

Zu Beginn der Pandemie erfasste uns alle eine Panik und der Überlebensinstinkt setzte ein. Interessanterweise zeigte sich dies am deutlichsten in den Supermärkten. Möchte man hier etwas Positives entdecken, dann vielleicht darin, dass die Menschen sich stärker an die Regeln hielten. Vor zwei Jahren war man noch viel eher gewillt, Gesichtsmasken zu tragen und Desinfektionsmittel zu benutzen, einfach weil die Situation neu war und als gefährlich empfunden wurde. Im Angesicht des Unbekannten neigen wir dazu, anderen zu folgen, besonders sogenannten Experten. Dabei handelt es sich um ein Phänomen, das die Psychologie „informativer gesellschaftlicher Einfluss“ nennt. Doch heute ändert sich die Einstellung der Menschen zu COVID schleichend; der Kreis der Gegner von Maßnahmen und Impfkampagnen wird größer, obwohl die Pandemie noch nicht überstanden ist. Immer häufiger werden die Gesundheitsvorkehrungen nicht mehr als Schutz, sondern als Freiheitsbeschränkung wahrgenommen.

Dank zahlreicher Neuerungen wie Homeoffice und Online-Unterricht, und dem Lockern der Maßnahmen, in dessen Folge nicht-essenzielle Läden wieder öffnen durften und das Reisen erneut möglich wurde, fand ein Prozess der Anpassung statt, mitunter ganz unbewusst. Der Mensch ist ein Meister der Anpassung – aber ist die Anpassung an ein traumatisches Erlebnis wirklich möglich? Natürlich ist sie das. Diese Fähigkeit nennen wir „Resilienz“. Der Lancet-Studie zufolge hat die Pandemie bei Millionen klinische Depressionen und Angst ausgelöst. Diese Menschen brauchen erst einmal Hilfe, denn nur mit einem gesunden Kopf können sie den Prozess der Anpassung an die neue Realität beginnen. Wer nach dem Verlust eines lieben Menschen oder der Arbeit an Depressionen leidet, ist nicht in der Verfassung, sich anzupassen.

Die wichtigere Frage lautet: Wer wird nun, nach all den Lockdowns und Maßnahmen, mit denen Regierungen den Zusammenbruch der Gesundheitssysteme verhindern wollten, den Preis für das verursachte Massentrauma bezahlen? Doch wieder dieselben Gesundheitssysteme, oder etwa nicht?!

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