Libanon

Feb. 2024

"Diaries from Lebanon"  2 min Eine Generation, die nicht vergessen werden will

Scene aus dem Dokumentarfilm "Diaries of Lebanon" ©Abbout Productions / GoGoGo Films

Der Dokumentarfilm "Diaries from Lebanon" von Regisseurin Myriam El Hajj begleitet drei Protagonist*innen, die aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten des Libanons stammen, über mehrere Jahre hinweg: von einer Wahlkampagne zu einer Revolution, von einer viralen Pandemie bis zur Hafenexplosion in Beirut. 

Myriam El Hajj Werk wird in der Sektion Panorama der Berlinale gezeigt. Der arabische Titel des Films lautet "Wie Liebesgeschichten". Auf Englisch hat sie sich für das einfachere "Diaries from Lebanon" entschieden. Ich habe mich im Kinosaal mit Myriam getroffen, um über ihren Film zu sprechen.

Wie hat die lange Reise von "Diaries from Lebanon" begonnen und wie hat sich der Film zu bis zu seiner finalen Form entwickelt? 

In meinem ersten Film " A Time to Rest" ging es um Personen, deren Leben mit dem Bürgerkrieg verbunden war, darunter auch mein Onkel. Das veranlasste mich dazu, die Welt um mich herum genauer zu beobachten und viele Jahre nach Kriegsende das Schicksal all derer wahrzunehmen, die daran beteiligt waren. Ich wollte die Geschichte auf eine andere Art und Weise erzählen. Daher traf ich mich mit Georges Moufarej, einem Mann, der eine Schlüsselrolle im Bürgerkrieg spielte, die aber nie aufgeschrieben wurde, weil eine Dokumentation dieser entscheidenden historischen Phase unseres Landes fehlt. Wer den Film sieht, wird mehr darüber erfahren.  

Als ich 2018 begann mit George zu filmen, nahm ich gleichzeitig eine Veränderung in der libanesischen Gesellschaft wahr und erlebte eine junge Generation, die Politik machte und bei den Parlamentswahlen gegen die immer gleichen Gesichter antreten wollte, die das Land seit dem Ende des Krieges regiert haben.  Ich hatte das Gefühl, dass sich eine Veränderung in Bezug auf die Zukunft anbahnte, während ich mich in die Aufzeichnung der Vergangenheit vertiefte, was mich dazu veranlasste, mit den Aufnahmen von Joumana Haddad zu beginnen, die die Politiker herausforderte, indem sie bei den Wahlen antrat. Weder sie noch irgendjemand von uns rechneten damit, dass sie bei Bekanntgabe der Ergebnisse dann tatsächlich gegen die alte Garde siegen würde, was aber geschah. Am nächsten Tag machte die Behörde dann eine Kehrtwende und verkündete, die Nachzählung habe ein anderes Ergebnis erbracht und Haddad habe die Wahlen verloren, die sie am Vortag noch gewonnen hatte. Ich begriff, dass die Dinge komplexer waren, als ich es mir vorgestellt hatte. Und mir wurde klar, dass ich einen Film drehen musste. 

Aber das war noch nicht alles... Es gab eine Revolution, dann eine Pandemie, dann die Explosion im Hafen von Beirut 

Das Schöne am Dokumentarfilm ist, dass sich die Ideen mit dem Fortgang der Ereignisse weiterentwickeln.  Mit den Ereignissen im Libanon während der Dreharbeiten zwischen 2018 und 2022 wollte ich zeigen, dass es für meine Generation keine zur Ablösung der immer gleichen Gesichter gibt, die wir satthaben. Die Figur Perla Joe Maalouli kam mit dem Ausbruch der Revolution in den Film und ich habe ihre Situation weiter beobachtet und verfolgt. 
Regisseurin Myriam El Hajj und Berlinale Blogger Ahmed Shawky

Regisseurin Myriam El Hajj und Berlinale Blogger Ahmed Shawky | ©Ahmed Shawky

Hatten Sie bei all diesen unerwarteten Wendungen im Libanon irgendwann das Gefühl, dass Sie nicht wussten, wie der Film enden könnte und an welchem Punkt Sie aufhören sollten zu drehen? 

Natürlich hatte ich keine Antwort auf die Frage, wann der Film enden würde. Ich war optimistisch und wollte ein Ende, das die Gefühle meiner Generation widerspiegelt. Nach der Explosion im Hafen von Beirut fühlte es sich fast wie das Ende an, aber ich wollte nicht, dass mein Film damit endet, dass unsere Träume tot sind. Ich beschloss, mir keine Fragen mehr zu stellen, sondern meiner Intuition zu folgen und die Entwicklung und Erfahrungen meiner Figuren zu begleiten. Der Film wurde zu ihrem Film. Es ging so weit, dass sie mich anriefen, um mir von Entwicklungen in ihrem Leben zu erzählen, die ich dann filmen sollte. Der Film wurde zu einem kollektiven Prozess. Erst im Jahr 2021 drehte ich eine Szene, von der ich wusste, dass sie das Ende des Films sein würde. Damit begann der lange Weg des Schnitts. 
 
Welchen Umfang hatte das gefilmte Material? 

Ich hatte mehr als 300 Stunden Filmmaterial über die Protagonisten und Ereignisse. Das sah ich mir an und legte einen großen Teil davon der Cutterin Anita Perez vor. Dann begannen wir damit, den Film zu strukturieren. Wir hatten die dramaturgische Linie für jede Figur von Anfang bis Ende geplant, aber das reichte nicht, weil die Linien miteinander und mit der Situation im Land verflochten sind. Wir beschlossen, die Geschichte chronologisch zu erzählen, indem wir zwischen den Figuren hin- und herwechselten, so dass ihre Gespräche und ihr Leben einander widerspiegeln. Wir wollten aber nicht, dass nur Aussagen und Reaktionen darauf festgehalten wurden. Vielmehr war es uns wichtig, einen organischen Verlauf darzustellen, mit all den widersprüchlichen Emotionen, die die drei Protagonisten durchlebten. 
Im Film geht es um Personen, die Ihre Vision teilen, und solche, die völlig anders sind als Sie. Wie gehen Sie mit letzteren um? 

Ganz grundsätzlich gesagt, mag ich Menschen. Deswegen mache ich Dokumentarfilme. Sie spielen auf George an, in der Tat eine äußerst schwierige Figur (Anm. der Redaktion George ist eine Person, die in Gewaltakte während des libanesischen Bürgerkriegs beteiligt war). Manche der von ihm erzählten Geschichten hätten unmöglich in den Film aufgenommen werden können. Aber ich sehe immer auch den Menschen hinter den Geschichten und deswegen kommt auch George in meinem Film vor. Der Mensch George wurde im Krieg benutzt. Das entbindet ihn nicht von der Verantwortung für seine Taten, aber in gewisser Weise ist er auch Opfer, das im Krieg instrumentalisiert wurde. Nach dem Verlust seines Beines wurde er im Stich gelassen, er verarmte und hatte keine Zukunft mehr, niemand nahm mehr von ihm Notiz. George hat mich an meine Familie erinnert, deren Geschichte ich in meinem ersten Film erzählt habe. Daher konnte ich ihn verstehen und ihn als einen komplexen Menschen begreifen und nicht nur in Schwarz und Weiß. 

Jeder Versuch, George umzustimmen, könnte ihn vernichten. 

Natürlich, ich versuche auch gar nicht, ihn umzustimmen. Es kann sich nicht ändern, sonst müsste er Suizid begehen. Was ich versuche, ist, ihn zu verstehen. Zu begreifen, was ihn dazu bringt, mit der Waffe in der Hand auf die Straße zu gehen, auf andere Bürger zu schießen und so seine Überzeugungen zu verteidigen. Übrigens, die Revolution George sehr ähnlich, nur ohne Waffe. Meine drei Protagonisten eint, dass sie mit Leidenschaft bei der Sache sind, dass sie das Land zum Besseren verändern wollen. Aber jeder von ihnen setzt auf ein anderes Mittel, zwei davon sind legal und das dritte krimineller Natur. Wenn ich das nicht sehe, kann ich keinen Film mit Figuren machen, die ich hasse oder als Vertreter des Bösen sehe. 

Glauben Sie nach all den Ereignissen immer noch daran, dass Filme auf diese Welt voller Ungerechtigkeit Einfluss haben können? 

Ich werde Ihnen eine Geschichte erzählen. Meine Schwester, die schon lange nicht mehr im Libanon war, kam zurück ins Land und saß vor dem Fernseher. Dann erzählte sie mir, dass sie das Geheimnis des Scheiterns der Revolution erkannt habe: Die Politiker den Bildschirmen saßen da und redeten über eine Revolution, die sie nicht gemacht hatten, und bewerteten die Taten der jungen Menschen, die von ausländischen Botschaften getäuscht worden seien. Die Politiker hätten gewonnen, weil sie in der Lage waren, die Geschichte auf ihre Weise zu erzählen, nachdem sie uns die Möglichkeit genommen hatten, sie zu erzählen. Damit die Geschichte nicht vergisst, was wir durchlebt haben, ist, müssen wir es erzählen. Das ist unser einziges Mittel. Wir machen Filme, damit unsere Kinder in der Zukunft nicht vorwerfen, wir hätten nicht versucht etwas zu tun.