„Bleibe nie länger als drei Tage in einer Stadt: Am ersten Tag kannst du dich auf deine Unkenntnis der Sprache berufen und so viel allein sein, wie du willst; am zweiten Tag kannst du die Einheimischen nach dem Weg fragen; am dritten Tag kannst du den Touristen den Weg zur Moschee zeigen, in der Taraweeh-Gebete vollzogen werden, und ihnen Auskunft über die besten Biersorten vor Ort geben. Aber am vierten Tag wird dir nichts weiter bleiben, als wegzugehen.“
* 13. Juni 2017, Mostar:
Das Wetter ist so heiß und feucht, dass mir die Kleidung am Körper klebt. Hinter dem Treiben auf den Straßen verstecken sich die Geheimnisse derjenigen, die sie überqueren und ihre Reisetaschen hinter sich herziehen. Im Fluss stoßen die Fische Sauerstoffblasen an die Oberfläche, die sich jedoch gleich wieder auflösen. Der Kellner schließt das Kassenbuch und versteckt dabei ein Lachen, das den Tisch erzittern lässt, sowie ein paar Münzen mit den Gesichtern der Könige, die nicht hören, nicht ihre Hand erheben, nicht Gehorsam fordern. In diesem Kreislauf finde ich keinen Winkel, in den ich mein an das Hineinzwängen gewöhnte Leben zwängen kann, während es auf den Jüngsten Tag wartet. Also lache ich, so laut ich will und schallend über die anderen Tische, und dann verstumme ich!![Mostar Im Vordergrund ein Feigenbaum und eine Steinmauer mit einzelnen Feigen darauf, im Hintergrund ein Gebäude aus Stein mit Holztür](/resources/files/jpg800/mostar_1-formatkey-jpg-w320m.jpg)
![Die Alte Brücke in Mostar Die berühmte Steinbrücke in Mostar, Bosnien](/resources/files/jpg800/die-alte-brcke-in-mostar-formatkey-jpg-w320m.jpg)
An einem nahe gelegenen Tisch hat einer von ihnen den beisitzenden Touristen ausführlich die bosnische Philosophie vom Tunken der Zuckerwürfel in den Kaffee erklärt, während ich versuchte ihre Worte nicht zu belauschen, indem ich mich mit dem Zählen der vom Baum reif hinabfallenden Feigen beschäftigte!
Ich öffnete eine Notiz auf meinem Handy und schrieb:
„Ich bin die Ahnungslose und ich bin der Feigenkorb…
Ich bin die Feigen…
Ich bin das, was immer abfällt, wenn es reif ist!“
Ich bin die Feigen…
Ich bin das, was immer abfällt, wenn es reif ist!“
Heute besitze ich den bosnischen Pass und meine beiden Töchter den kroatischen. Wir leben in Jordanien. Immer wenn wir uns streiten, sehe ich die Neretva zwischen uns fließen und falle auf den Boden wie eine Feige!
* 13. Juni 2018, Amman:
![Amman Ein Tisch mit zwei Kaffeetassen auf einer Terrasse mit Blick auf Amman](/resources/files/jpg800/amman-formatkey-jpg-w320m.jpg)
Immer wieder falle ich wie eine Feige auf einen Boden, der mir nicht ähnelt, und die Sauerstoffblasen in meiner Lunge erinnern mich daran, dass ich wie ein Fisch bin, der von Wasser zu Wasser springt und sich vergeblich an seiner Erinnerung und seinem Ort festklammert.
* 14. Juni 2017, Banja Luka:
Ich vermisse Amman. Meine Seele fliegt mit dem Wind zu ihr und zerstreut sich über den Gipfeln ihrer sieben Berge. Banja Luka ist zu ruhig; ruhiger als es ein Mädchen, das in Amman aufgewachsen ist, ertragen kann. Die Straßen hier sind so sauber, dass ich es vermisse mir Sorgen machen zu müssen, wenn ich weiße Schuhe trage. Wie langweilig es ist dieses strahlende Weiß zu tragen ohne die Sorge, es schmutzig zu machen! Auch die Regale meiner Großmutter sind langweilig. Es gibt hier keinen Staub, keine Sandschichten, die sich ansammeln, sobald ich die Fenster öffne. Deshalb kann ich nicht mit den Fingern darüberfahren, um ein Herz oder einen Stern zu malen! Die sauberen Regale haben keine Erinnerung und bewahren nichts Vorübergegangenes!Das Haus ist so ruhig wie die Stadt, in der es steht, als hätte es keinen einzigen Tag Krieg erlebt! Als hätte es die Geräusche von Schießpulver, Beschuss und Mienen, die den Menschen Beine und Arme abreißen, vergessen. Und als hätte es aus seinem Gedächtnis die Brände gelöscht, die zwischen 1991 und 1995 tobten und von der Geschichte verschlangen, was zu verschlingen ging.
![Der Maulbeerenbaum in Banja Luka Ein alter Maulbeerbaum](/resources/files/jpg800/der-maulbeerenbaum-in-banja-luka_1-formatkey-jpg-w320m.jpg)
![Der Maulbeerenbaum in Banja Luka Eine Hand, die mehrere reife Maulbeeren hält](/resources/files/jpg800/der-maulbeerenbaum-in-banja-luka_2-formatkey-jpg-w320m.jpg)
Heute fliehe ich vor jeder Erinnerung an den Geschmack, der an den Fingern hängenblieb. Ich betrachte den halb leeren Baumstumpf vor mir, sehe stattdessen aber den Baum, der vor dem Balkon meines Hauses in Amman steht. Ich stelle mir vor, wie ich die Fenster beider Häuser öffne und vom Winde umweht dasitze.
* 14. Juni 2018, Amman:
Ich vermisse Banja Luka. Ich sehe mich selbst, wie ich in dem Café am Fluss Vrbas sitze und die Musik einer Gruppe genieße, die alte Lieder auf dem Cello spielt. Sie erinnern mich an die Melodien, die meine Großmutter summte. Ich erinnere mich nicht, wie ich zu dem Café gekommen bin, und weiß nicht, wie ich wieder nach Hause finden werde, aber ich bin davon überzeugt, dass ich mich in den von Flüssen getrennten Städten nicht verlieren kann. Denn die einfache Gleichung ist, den Flusses entlang zu laufen oder ihn zu überqueren. Ich überlasse meine Füße dem Asphalt und den Reflektionen der Straßenlichter; lasse mich einfach vom Fluss leiten und mein Herz erfüllt sich mit Ruhe und Behaglichkeit. Ich gehe schweigend und merke, dass ich die Stimme der Frau, die mir aus meinem Telefon den Weg beschreibt, gar nicht brauche.Ich habe mich an dem Tag nicht verlaufen, aber als ich ankam und wie gewöhnlich vor den alten Mauern, rissigen Ziegeln und hochbejahrten Bäumen stehenblieb, drehten sich in meinem Kopf immer wieder dieselben Fragen: War es hier, wo ich vor vielen Jahren nur ein Kind war, das seine Spielzeuge unter dem Wasserhahn im Garten wusch? War es hier, wo meine Großmutter Tomaten, Zwiebeln und Kartoffeln pflanzte?
Vor dem Haus sind einige Steinstufen, an deren Geländer jemand eine Wäscheleine gebunden hat, die der Neigung der Stufen folgt. Dort habe ich die Kinderkleidung nass aufgehangen und sie ist noch immer nicht trocken.
Auf dem Ammaner Balkon gibt es viele Blumentöpfe, in denen ich Zwiebeln und Kartoffeln gepflanzt habe, aber der Geruch der Erde ist anders, und die Sauerstoffblasen in meiner Lunge sehnen sich noch immer nach dieser anderen Luft, dem Wasser und der Erde.
** 15. Juni 2017, Sarajevo:
Musik dringt von irgendwoher, aber ich kann ihre Quelle nicht ausmachen. Sie scheint weit entfernt zu sein, als wäre sie lediglich ein Echo. In meinem Kopf sing Fayrouz: „Sie ließen uns sehr lange warten an der Haltestelle von Darina…“. (Zeile des Liedes „Natarouna Ktir Ktir“ der Künstlerin Fayrouz)In Sarajevo gibt es keine Haltestelle mit dem Namen Darina. Das weiß ich, weil ich lange auf Karten nach ihr gesucht habe und die Namen der Bus- und Straßenbahnhaltestellen auswendig kenne. Die Straßenbahn gibt es schon seit 1885 in Sarajevo, womit die Stadt die erste in Europa und, nach San Francisco, die zweite weltweit ist, die die Straßenbahn im Verkehrssystem hat. Man kommt nicht umhin zu denken, dass die Menschen in ihr an den Straßenbahnhaltestellen schon seit Ewigkeiten warten und bis ans Ende der Zeit warten werden!
Ich drehe mich noch einmal um mich und merke erst dann, dass mein Herz seine Musik hört. Sie erklingt aus der Ferne, genauer gesagt aus Downtown Amman, aus einem Café in der Nähe vom Zitadellenhügel mit seinem Herkulestempel, der byzantinischen Kirche und dem Ummayyadenpalast. Das Lied ist ein anderes, als das, was mir durch den Kopf ging, aber das schmälert nicht die Wärme, die mein Herz durchflutet, als ich die Stimme Umm Kulthums höre, sich überschneidend mit den Stimmen von Nancy Ajram und Amr Diab, und vermischt mit den Stimmen der fliegenden Händler, die ich nach „Nanoa Eiskrem“(Nanoa ist eine in Jordanien beliebte Eiskremmarke.) und „Popcorn-Chips“ frage.
![Zitadellenhügel in Amman The Zitadelle von Amman: ein Hügel mit römischen Ruinen inmitten von Steinen und Gras; im Vordergrund gelbe Blüten.](/resources/files/jpg800/zitadellenhgel-in-amman-formatkey-jpg-w320m.jpg)
Und inmitten der Verlorenheit singt sie: „Wir kannten ihre Namen nicht, und sie kannten unsere Namen nicht“,(Zeile des Liedes „Natarouna Ktir Ktir“ der Künstlerin Fayrouz.) und ich vergaß meinen Namen!
**15. Juni 2018, Amman:
Ich hänge im Stau der überfüllten Stadt fest, beim Dakhiliyya Kreisverkehr, dem dritten und zweiten Kreisverkehr und all den anderen Kreisverkehren, die verbunden sind mit den zum Teil noch unfertigen Straßen, Tunneln und Brücken, sodass sich der Verkehr immer wieder selbst in die Quere kommt. In einem der Tunnel bewegen sich die Autos kaum voran und ich bin kurz davor zu ersticken! In solchen Momenten fällt mir der Sarajevo Tunnel ein, dessen Bau im Jahr 1993 begann, der sich vom Flughafen Butmir bis zu einem unbekannten Haus im Stadtteil Dobrinja erstreckte und durch den vier Jahre lang, während der Belagerung der Stadt, Menschen, Medikamente, Lebensmittel und Waffen geschmuggelt wurden. In jenen Tagen wurde der Tunnel mit einer Länge von mehr als 800 Metern und einer Höhe von 60 Zentimetern bei Kerzenlicht, mit Hackbeilen und Schubkarren gegraben, befestigt mit 45 Tonnen Eisen und einem Holzboden aus Haustüren und Kleiderschränken; Schwierigkeiten mit der Struktur, Belichtung, Luftknappheit im Tunnel mussten überwunden werden, sowie die Probleme das Grundwasser hinauszubefördern und die Säcke voller Sand loszuwerden, die sich beim Graben füllten. All das ist heute auf die ersten 20 Meter des Tunneleingangs reduziert, die Besuchern als Museum offenstehen, während die restlichen fast 780 Meter in Dunkelheit und die Tränen derer, die ihn vor 25 Jahren gruben, getränkt sind. Am Tunnel waren ausschließlich Bosnier beteiligt – Ingenieure, Soldaten und Zivilisten. Nur eine einzige nicht-bosnische Person war unter ihnen und zwar ein palästinensischer Arzt mit Namen Youssef Hajir. Es scheint, Palästina hat schon immer darauf bestanden anwesend zu sein, wenn es einen Kampf ums Überleben gibt!![Amman Sonnenuntergang in Amman, aus dessen Mitte sich ein Turm erhebt](/resources/files/png60/amman_2-formatkey-png-w320m.png)
**16. Juni 2017, Travnik:
![Travnik Die Dächer der hügeligen Kleinstadt Travnik, Bosnien](/resources/files/jpg800/travnik-formatkey-jpg-w320m.jpg)
![Die Berge von Travnik Eine unscharfe Aufnahme der grünen Berge von Travnik, Bosnien](/resources/files/jpg800/die-berge-von-travnik-formatkey-jpg-w320m.jpg)
**17. Juni 2018, Amman:
Ich sitze in einem Café, in dem alle ihre Zigaretten mit Feuerzeugen anzünden, und kein Honigverkäufer in Sicht.![Amman Stadtbild von Amman, mit pinken Blüten im Vordergrund](/resources/files/jpg800/amman_3-formatkey-jpg-w320m.jpg)
**18. Juni 2018, Amman:
Ich lese einen Kommentar, den ich vor einem Jahr auf meinem Handy gespeichert habe, als ich gerade im Baščaršija in Sarajevo bosnische Cevapi mit Zwiebelscheiben aß. Ich erinnere mich, dass ich an dem Tag ganz tief die Luft einatmete, die schwer war von der Feuchtigkeit des Flusses Miljacka, an der ich saß. Ich schreibe:
„Bleibe nie länger als drei Tage in einer Stadt: Am ersten Tag kannst du dich auf deine Unkenntnis der Sprache berufen und so viel allein sein, wie du willst; am zweiten Tag kannst du die Einheimischen nach dem Weg fragen; am dritten Tag kannst du den Touristen den Weg zur Moschee zeigen, in der Taraweeh-Gebete vollzogen werden, und ihnen Auskunft über die besten Biersorten vor Ort geben. Aber am vierten Tag wird dir nichts weiter bleiben, als wegzugehen.“
Jetzt – ich sitze im Restaurant Hashem in Downtown Amman – ist die Luft trocken und deshalb weiß ich nicht, woher die Feuchtigkeit kommt, die ich um meine Lunge herum spüre. Ich esse Hummus und Mutabbal und die Schwere des letzten Satzes wächst in mir. Im Kopf wiederhole ich ihn immer wieder:
„Es wird dir nichts weiter bleiben, als wegzugehen… es wird dir nichts weiter bleiben, als…wegzugehen!“
März 2018