Kunst
Auf der Suche nach Theater und dem Druck es zu verstehen

Junge Frauen bewegen sich in einem industriellen Umfeld. © Alan Proosa

Auf der Suche nach Erlebnissen im „neuen Theater“ muss man einige der bisherigen Gewohnheiten, wie den Druck alles zu verstehen, hinter sich lassen.

Heneliis Notton

Theater hat mir schon immer gefallen. Es hat mir nicht nur gefallen, ich war von Kopf bis Fuß begeistert. Ich besuchte ein Theater, das mir bekannt war, aber ich wusste, dass es irgendwo Theaterhäuser gab, in denen ein anderes Theater gemacht wurde. Was für eins? – Das wusste ich nicht genau. Das Ritual eines Theaterbesuches war für mich etwas Heiliges, etwas ganz Besonderes. Aber war es die „Theatermagie“, die es dem Publikum ermöglichte, die Schauspieler*innen aus der Ferne zu beobachten, was es so heilig machte? Oder das Buffet zwischen zwei Akten? Der Moment vor dem Applaus, wenn der*die Schauspieler*in nicht mehr in der Rolle ist? Im Anschleichmodus begab ich mich auf die Suche nach dem anderen Theater.

Die meisten Leute sind keine Theaterwissenschaftler*innen. Man könnte alles mit viel komplizierteren Worten beschreiben, aber um nicht zu verwirren, unterteile ich das Theater vereinfacht in „traditionell“ und „neu“. Mit „traditionellem Theater“ meine ich ein Theater mit einem*r Schauspieler*in, der*die eine Geschichte erzählt. Unter dem „neuen Theater“ ist jedoch eine Richtung der zeitgenössischen darstellenden Künste gemeint, die ich gleich näher erläutern werde.

Ich entdecke dieses „neue Theater“ seit einigen Jahren. Ich nahm einen Freund mit und zusammen sind wir zum Von Krahl-Theater, zur Unabhängigen Tanzbühne, zum Kanuti Gild-Saal und zum Neuen Theater Tartu gegangen. Vor kurzem habe ich angefangen beim Kanuti Gild-Saal im Zentrum für zeitgenössische darstellende Küste zu arbeiten, worauf meine Erfahrungen größtenteils basieren. Ich werde versuchen, in wenigen Punkten das „Etwas“ zusammenzufassen, was mich fasziniert und warum ich in dieser Welt geblieben bin.

Im Mittelpunkt einer Inszenierung steht normalerweise keine Geschichte

Im „traditionellen“ Theater beginnt die Inszenierung meist mit einem Text. Die Regie oder die Dramaturgie schlägt ein Theaterstück oder einen Roman vor, die Rollen werden aufgeteilt und es wird losgelegt. Im „neuen Theater“ kann ein Wort im Zentrum stehen, aber im Allgemeinen keine erzählende Geschichte – man muss nicht im Auge behalten, wer mit wem verlobt ist oder wer wen getötet hat. Das Stück entsteht nicht aus einem fertigen Text, sondern beginnt oft mit der Auseinandersetzung mit einem Gefühl, einer vagen Idee, einer Atmosphäre oder eines Phänomens.
 
Ein junger Mann im Kostüm Die Inszenierung der Unabhängigen Tanzbühne „veenus.me“ stellt die Clubkultur der Queer-Gemeinschaft in einer postpandemischen Welt dar. | © Alan Proosa
Text kann auch während der Inszenierung entstehen, wobei einige davon völlig wortlos sind. Ein solches Beispiel sind die Inszenierungen von Renate Keerd, die mir geholfen haben, den Druck des „Verstehens“ loszuwerden. Renates Aufführungen konzentrieren sich auf Körpersprache, Materialien, Musik und Details. Die Darsteller*innen verwandeln sich in Knetmasse und die Szenen sind überraschend, ziemlich absurd. Gelegentlich ist es interessant zu analysieren, zu versuchen zu verstehen, nach der Bedeutung von Zeichen zu suchen. Dabei kann es verwirrend werden. Manchmal muss man einfach da sein. Es auf seine eigene Art und Weise – subjektiv – zu verstehen, ist absolut in Ordnung. Das Theater ist keine Schule, in dem die Anforderung besteht, eine bestimmte Note erreichen zu müssen.

2020 fand das NU Performance Festival statt, bei dem ich mir schließlich die Inszenierung „Higher“ des italienischen Choreografen Michele Rizzo ansah, bei der – oberflächlich beschrieben – drei Männer einfach auf der Bühne tanzten. Durch den Minimalismus der Aufführung sind mir Elemente aufgefallen, die sonst im Hintergrund geblieben wären. Die Atmosphäre war angespannt genug, um die Bewegungen der Darsteller mit aller Aufmerksamkeit zu verfolgen.

Überraschungseffekt

„Neues Theater“ ist ein bisschen wie das Öffnen eines Überraschungseis – mal ist alles in einem Stück, mal muss man das Bild zusammensetzen. Man weiß nie genau, in welcher Form die Aufführung vorliegt. Mal findet die Aktion auf der Bühne statt, mal sind die Darsteller*innen im Publikum oder das Publikum kann sich während der Aufführung frei bewegen. Da das „neue Theater“ oft die Möglichkeit für ein kleineres Publikum bietet, kann das Potenzial unterschiedlicher Räume durch Inszenierungen zum Beispiel in einem verlassenen Gebäude, Keller oder irgendwo in einer Wohnung ausgeschöpft werden.

Etwas Persönliches

In der darstellenden Kunst gibt es viel Spielerei, aber wenig Schauspielerei. Es macht die darstellenden Künste persönlicher, weniger isoliert. Oft befinden sich die Darsteller*innen mit dem Publikum in einem gemeinsamen Raum, gehen um Menschen herum und unterhalten sich. In der zeitgenössischen darstellenden Kunst geht es nicht darum, eine Rolle (z.B. aus Tiinas „Werwolf“) einzunehmen und psychologisch darin zu leben. Der*Die Darsteller*in steht als er*sie selbst auf der Bühne – Mart ist Mart. Auch der Inhalt der Inszenierung wird oft aus eigenen Erfahrungen gewonnen.

Man geht tiefer und weiter

Das „neue Theater“ kann Themen behandeln, die in großen Theatern noch nicht gewagt werden oder die keine Ticketeinnahmen generieren. Oft wird ein enger gefasstes Thema, Phänomen oder Gefühl gewählt und es wird damit in die Tiefe gegangen. Sie sind auch politisch mutiger. Repertoiretheater sprechen LGBTQ+- oder rassismuskritische Themen eher nicht an, wohingegen dies im „neuen Theater“ häufiger vorkommt (z.B. Rene und Carmel Kösters „veenus.me“ / Jarmo Rehas „WhiteWash“).

Internationalität

Darstellende Künstler*innen gehen mit Inszenierungen viel auf ausländische Festivals, andererseits kommen auch ausländische Künstler*innen hierher, weshalb die Kommunikation mit dem Ausland enger ist als im „traditionellen Theater“. Da das Wort in der Inszenierung oft nicht im Vordergrund steht oder die Inszenierung stattdessen auf Englisch erfolgt, ist das „neue Theater“ für diejenigen leicht zugänglich, die Estnisch nicht verstehen.

„Traditionelles Theater“ und „Neues Theater“ sind in der Realität keine Gegensätze, auch verblasst diese imaginäre Grenze immer mehr. Daher lohnt es sich, sich alles anzuschauen. Irgendwann wächst ein gewisses Verständnis dafür, was spannender anzusehen ist. Mit der Zeit kommt das Verstehen entweder von selbst oder wird völlig bedeutungslos.

Ich empfehle, Plakate im Stadtraum, Festivalpläne und Programme von Theater- und Aufführungshäusern anzuschauen. Ich habe die besten Theatererfahrungen spontan gemacht, indem ich in letzter Minute entschieden habe, mir die Inszenierung eines mir unbekannten Namens anzuschauen. Deshalb werde ich Künstler*innen oder Inszenierungen nicht ausdrücklich erwähnen. Ich möchte sagen, dass ein Weg entsteht, wenn man ihn geht und die Neugier einem Flügel verleihen kann. Aber das ist wirklich ein furchtbar kitschiger Satz, deswegen sage ich ihn besser nicht.

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