Mal ist Forscherin an der Fakultät für Soziologie an der Universität Tallinn. In ihrer Arbeit untersucht sie, wie die Erfahrung der Frauen mit Migrationshintergrund ihre Beteiligung am feministischen Aktivismus beeinflusst, und welche Auswirkungen das auf die Gesellschaft hat.
Viktoriia
Savicheva
Frauen mit Migrationshintergrund in Estland engagieren sich oft gesellschaftlich, doch bleibt ihr Beitrag vielfach unbemerkt, ungeachtet seines wesentlichen Einflusses auf feministische und soziale Bewegungen. Mal, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin an der Fakultät für Soziologie der Universität Tallinn, versucht, auf diese Tätigkeit aufmerksam zu machen. In ihrer wissenschaftlichen Arbeit analysiert sie die Rolle der Frauen mit Migrationshintergrund im feministischen Aktivismus, indem sie untersucht, auf welche Weise ihre Erfahrungen ihr bürgerliches Engagement beeinflusst und sich auf die Gesellschaft auswirkt.
Persönliche Herangehensweise an die Untersuchung
Mals Untersuchungen konzentrieren sich darauf, wie die Migrantinnen in Estland an feministischen Aktivitäten teilnehmen, indem sie ihre Praktiken und die Schwierigkeiten, auf die sie stoßen, analysiert. Ihre Hochschulbildung im Fach Soziologie im Zusammenhang mit ihren persönlichen Erlebnissen ermöglichen es ihr, das Problem sowohl aus einem akademischen als auch aus einem persönlichen Standpunkt zu betrachten.
Zumal ich eine iranische Migrantin in Estland und Mitbegründerin einer iranischen Hilfsorganisation bin, spielt meine persönliche Erfahrung eine beachtliche Rolle in meinen Untersuchungen und Interessen.”
In ihrer Magisterarbeit untersuchte Mal, wie die Iraner die Hashtags zum Schutz der Menschenrechte nutzen, wobei sie sich zuerst auf die Proteste in Iran aus den Jahren 2019-2020 konzentriert. Allerdings, wie Mal sagte: „hat während meiner Untersuchung der grausame Tod von Mahsa Amini im September 2022 und die aufkommende Bewegung „Frau, Leben, Freiheit” alles verändert”.
Der Fall Mahsa Amini und die Bewegung „Frau, Leben, Freiheit”
Mahsa Amini, eine 22-jährige Iranerin kurdischer Herkunft starb im September 2022 nach ihrer Festnahme durch die sogenannte „Sittenpolizei“ (Gascht-e Erschad) angeblich wegen des „falschen Tragens des Hidschabs“. Ungeachtet der offiziellen Erklärung, der zufolge sie gesundheitliche Probleme gehabt haben soll, verweisen viele Aktivisten und Rechtsschutzorganisationen auf Anzeichen von Gewalt und sind der Ansicht, dass gerade das Handeln der Regierung für ihren Tod verantwortlich war. Dieses Ereignis löste massenhafte Proteste aus, und die Bewegung „Frau, Leben, Freiheit” wurde zum Symbol des Widerstandes nicht nur gegen die strengen Normen im Bereich des Tragens des Hidschabs, sondern auch gegen das gesamte System der Frauenunterdrückung. Die Proteste breiteten sich weit über die Grenzen Irans hinaus und vereinten weltweit die Diaspora und die Rechtsschutzgemeinschaften.
„Da ich Iranerin bin, war dieses Thema für mich zutiefst persönlich. Ich war Zeugin und habe die Gender-Ungleichheit selbst erfahren, was mein Interesse daran weckte, wie Frauen die Zensur überwinden, Online-Communities mobilisieren und die Narrative über die Gender-Gleichheit verändern, trotz der Repression. Ich wollte ihre Aktivität, Standhaftigkeit und strategische Methoden der Nutzung eines digitalen Aktivismus im Kampf gegen ein autoritäres Regime unterstreichen“, sagt Mal.
Projekt ELU an der Universität Tallinn
Im Rahmen des Projekts ELU (Erialasid Lõimiv Uuendus) an der Universität Tallinn untersucht Mal, wie die Frauen mit Migrationshintergrund in Estland gesellschaftliche Tätigkeit ausüben, mit welchen Schwierigkeiten sie zu kämpfen haben und welche Rolle sie in Online- und Offline-Kanälen übernehmen.
Als Migrantin verstehe ich, wie schwer es ist, sich zugehörig zu fühlen, sich Gehör zu verschaffen und Änderungen in einer neuen Gesellschaft durchzusetzen.”
Ihr Projekt ist auch eine Gelegenheit für gemeinsames Lernen, wo die Ideen der Studenten eine neue Sicht auf den Aktivismus und die Migration anbieten. Mithilfe des Projekts möchte Mal die Verbindung zwischen den Migranten und der estnischen Gesellschaft stärken, indem sie zu Diskussionen darüber anregt, wie der Aktivismus den sozialen Wandel und die Inklusion fördern kann.
Wie der Widerstand die Grenzen der Kultur und Gesellschaft überwinden und unerwartete Verbindungen ergeben kann…”
„Die Untersuchungen meiner Dissertation widmen sich dem internationalen Beitrag der Frauen zur Transformation des feministischen Aktivismus in Estland. Alles begann mit einer persönlichen Erfahrung am 01. Oktober 2023, als ich anreiste, um auf dem Freiheitsplatz in Tallinn an einem Meeting teilzunehmen, welches durch eine Gruppe von Iranern zur Unterstützung der Bewegung “Frau, Leben, Freiheit” in Iran organisiert wurde. Während dieser Veranstaltung habe ich mir die Haare abgeschnitten – das war eine starke Geste, deren Wurzeln auf die persischen Traditionen zurückreichen, die dazu dienen sollte, auf das Geschehene aufmerksam zu machen. In diesem Moment haben die wichtigsten Massenmedien in Estland kaum über dieses Meeting berichtet, und es blieb zu befürchten, dass diese Botschaft verloren gehen kann. Doch ein paar Monate später passierte etwas Unerwartetes. Auf einem anderen Meeting wurden mir nämlich die Haare anderer marginalisierter Gruppen in Estland: der russischsprachigen Frauen, der LGBTQ+-Leute und der Opfer häuslicher Gewalt überreicht. Neben ihren Haaren teilten sie auch die Botschaften, in welchen sie deutlich machten, dass sie ein Teil dieses Akts werden wollen, nicht nur als Zeichen der Solidarität mit iranischen Frauen, sondern auch, weil es ihren eigenen Kampf gegen die Problematik und den Wunsch, für ihre Rechte einzustehen, zum Ausdruck bringt. Dieser Moment hat meine Auffassung vom Aktivismus verändert. Er zeigte mir, wie Widerstandsakte die Grenzen der Kultur und Gesellschaft überwinden und unerwartete Verbindungen ergeben können. Dies ließ mich auch überlegen, wie die Frauen der internationalen Gemeinschaft den Feminismus in Estland umdenken und neue Perspektiven, Erfahrungen und Protestformen einbringen”.
Intersektionalität in der Erfahrung von Migrantinnen
Mals Untersuchungen unterstreichen die Wichtigkeit einer intersektionalen Herangehensweise an den Aktivismus der Frauen mit Migrationshintergrund: Gender, ethnische Zugehörigkeit, sozial-wirtschaftlicher Status und Migrationserfahrung überschneiden sich und bilden ein einzigartiges Bild von dem Leben in Estland; zugleich definieren diese Faktoren ihre aktive Position.
Die Frauen mit Migrationshintergrund sind dabei keine homogene Gruppe – ihr Aktivismus kann verschiedene Formen annehmen und von vielen Faktoren abhängen, einschließlich der Migrationsgeschichte, der Bildungsstufe und der sozialen Bedingungen. Solche Faktoren führen oft zur Diskriminierung und Ausbeutung und haben einen Einfluss darauf, wie die Gesellschaft diese Frauen wahrnimmt und wie aktiv sie an dem sozial-politischen Leben teilnehmen können. Aber ungeachtet aller Hindernisse, ermöglicht ihre Tätigkeit eine neue Perspektive auf feministische und Rechtsschutzbewegungen und ergänzt sie durch Fragen der Migrationspolitik und der kulturellen Barrieren.
Аktivismus der Frauen mit Migrationshintergrund: Herausforderungen und Strategien
Мal äußert sich zu den Problemen der Aktivistinnen mit Migrationshintergrund in Estland: „Ausgehend von den Angaben der Leute, mit denen ich mich traf oder die ich interviewte, gehören zu den verbreitetesten Problemen der Migrantinnen-Aktivistinnen in Estland – sprachliche Barrieren, fehlende Berichterstattung in den wichtigsten Massenmedien, Notwendigkeit der Vereinbarung einer Vielzahl an Pflichten, mit dem Migrantenstatus verbundene juristische Ungewissheit. Diese Faktoren erschweren ihre vollwertige Teilnahme am Aktivismus und die Möglichkeit, gehört zu werden. Manche von ihnen nennen auch Rassismus, Diskriminierung und stereotypisches Denken, was die Anerkennung ihrer Arbeit noch mehr erschwert”.
Doch ungeachtet dieser Schwierigkeiten finden die Migrantinnen kreative Wege, am Aktivismus teilzunehmen, oft über soziale Netzwerke, Kunst oder politische Advocacy. Mal sagt: „Ein inspirierendes Beispiel – die Veranstaltungsreihe IWNE „Treffen und Bekanntschaften” im Jahr 2024, bei welcher sich Frauen unterschiedlicher Kulturen treffen, ihre Geschichten miteinander teilen, die Verschiedenheit der Kulturen feiern und das Gefühl der Zugehörigkeit erschaffen konnten. Solche Initiativen erinnern uns daran, dass – es nicht nur Proteste sind. Es ist auch eine Gemeinschaft und Anbahnung beachtlicher Veränderungen”.
Unterstützung der Frauen mit Migrationshintergrund in Estland
Мal ist der Ansicht, dass einer der wichtigsten Schritte, die die estnische Gesellschaft zur Unterstützung der Frauen mit Migrationshintergrund unternehmen kann – das Überdenken ihrer Einstellung gegenüber den „anderen“ ist.
„Estnische Aktivisten und die bürgerliche Gesellschaft spielen eine große Rolle beim Abbau von Stereotypen und Erschaffung einer gastfreundlichen, inklusiven Gesellschaft. Kleine Fortschritte können dabei eine Änderung der Mentalität bewirken und das Gefühl der Zugehörigkeit für alle erschaffen“.
Bedeutung der Untersuchungen
„Es ist ein sehr wichtiges Thema, besonders jetzt, wo die Bevölkerung Estlands altert, und die Migration immer wichtiger wird. Die Migrantinnen gestalten jetzt schon aktiv die Gesellschaft, indem sie Gemeinschaften aufbauen, Änderungen in die Wege leiten und ihren Beitrag leisten, der oft unbemerkt bleibt.
Indem wir auf ihren Aktivismus aufmerksam machen, stellen wir nicht nur ihre Probleme fest, sondern lernen auch von ihrer Standhaftigkeit. Es geht hier nicht nur um Gerechtigkeit, sondern auch um die Zukunft. Wenn wir nicht über diese Probleme diskutieren, werden wir die Stimmen verlieren, die dabei helfen, Estland real und im beachtlichen Ausmaß zu gestalten.“
Empfehlungen für junge Frauen mit Migrationshintergrund
„Fangt klein an, aber fangt an! Das mag zunächst unmöglich erscheinen, aber eure Stimme ist wichtig. Findet eine Gemeinschaft, stellt Fragen und habt keine Angst davor, sich Gehör zu verschaffen. Vertraut auf eure Erfahrung und geht euren eigenen Weg“.
Mit ihrer Forschung und aktiver Tätigkeit macht Mal nicht nur auf die unsichtbare Arbeit der Frauen mit Migrationshintergrund aufmerksam, sondern setzt sich auch für eine tolerante, pluralistische und gerechte Zukunft für alle ein. Die Geschichten des Aktivismus dieser Frauen demonstrieren, dass ihr Beitrag ungeachtet der unzähligen Schwierigkeiten einen beachtlichen Einfluss auf die Gestaltung einer neuen gesellschaftlichen Ordnung ausüben kann, in welcher jede Persönlichkeit geschätzt wird.
Dieser Artikel erschien zuerst in der estnischen Zeitschrift Narvamus im Rahmen des von der EU kofinanzierten Projekts PERSPECTIVES für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. >>> Mehr über PERSPECTIVES
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