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"Sich selbst verstehen und weiterkommen": Ein Interview mit Natalia Skvortsova

"Sich selbst verstehen und weiterkommen" ©

Unsere Autorin Viktoriia Savicheva sprach mit der praktizierenden Psychotherapeutin Natalia Skvortsova über die aktuellen Themen im Bereich der psychischen Gesundheit und über die Besonderheiten der Arbeit mit Jugendlichen.

Viktoriia Savicheva

Viktoriia: Wie sind Sie zu Ihrem Beruf gekommen? Was hat Sie inspiriert?
Natalia: Meine Inspiration kam aus meiner Familie. Ich bin in einer Ärztefamilie groß geworden, wo das Thema Gesundheit allgegenwärtig war. Aber, um ehrlich zu sein, wollte ich nie Medizin studieren. Stattdessen begeisterte ich mich für die Literatur, besonders für Dostojewski, den man oft als einen Tiefenpsychologen bezeichnet. Seine Bücher halfen mir, die menschliche Natur kennenzulernen. Und ein weiterer wichtiger Moment war die Bekanntschaft mit den Arbeiten Freuds im Teenageralter, die ich dank dem Samisdat (d.h. „Selbstverlag“ offiziell nicht zugelassener Literatur in der UdSSR) lesen konnte. Alle diese Faktoren kamen zusammen und haben mich auf die Psychologie gebracht.


Viktoriia: Mit welchen Problemen haben die Jugendlichen heute zu kämpfen?
Natalia: Sehr verbreitet ist das Problem der Wahl des Lebensweges. Junge Leute spüren einen starken Druck, schon frühzeitig genau erkennen zu müssen, wer sie werden wollen. Dadurch entsteht eine unnötige Spannung und Angst. Doch in Wirklichkeit ist Selbstfindung – ein langwieriger Prozess. Man muss den Jugendlichen erlauben, sich selbst auszuprobieren, eigene Fehler zu machen und ihren eigenen Weg zu finden.

Ich bin oft mit Beispielen konfrontiert worden, dass die Leute schon von vorn herein wissen wollen, ob ihnen etwas gelingen wird, aber in Wirklichkeit, fangen wir erst an, uns zu festigen, wenn wir uns in ein neues Feld vertieft haben. So fangen etwa Studierende mit viel Enthusiasmus ihr Studium an, aber dann kommen sie nicht klar mit dem Stress.

Man muss verstehen, dass man nur das wollen kann, was man kennt. Wenn du noch nichts mit diesem Gebiet zu tun hattest, kannst du dich nicht festlegen, ob es dir gefällt oder nicht. Aber der Wunsch selbst reicht nicht aus – man muss die Kraft aufbringen, eine Sache zu Ende zu führen. Und hier entsteht die Frage: wer braucht das? Es kommt vor, dass Menschen eine Universität beenden, aber dann nicht in ihrem Fachgebiet, sondern in einem anderen Fachgebiet arbeiten.

Heute begeistern sich viele für solche Ideen wie Motivation, Inspiration und schnelle Entscheidungen. Ich nenne das „Welt der Informationsmanipulation“. Es ist wichtig, die Realität nüchtern zu sehen und ein ruhiges Verhältnis zur Selbstfindung zu haben. Fehler und Misserfolge sind ein Teil des Weges. Wichtig ist nur weiterzugehen und nicht Halt zu machen. Mein Beruf zum Beispiel erfordert ständiges Lernen, und ich setze dieses Lernen bis heute noch fort.

Und noch ein Problem, mit welchem junge Leute konfrontiert werden, ist eine instabile Selbsteinschätzung. Die Jugendlichen sind oft unzufrieden mit sich selbst – mit ihrem Äußeren, ihrem Charakter, ihrem Status. Wenn bei ihnen etwas geklappt hat, schießt ihre Selbsteinschätzung hoch: „Ich bin schon fast ein Gott!“, und wenn sie stolpern – „Ich bin ein niemand“. Sie pendeln dann zwischen diesen Extremen, die sie sich selbst setzen, was für eine ständige innere Spannung sorgt.

Viele Probleme sind auch mit Beziehungen verbunden: angefangen mit der ersten, persönlichen, romantischen Beziehung bis hin zum Umgang mit der Umgebung. In den letzten Jahren bemerke ich auch eine Zunahme von besorgniserregenden oder depressiven Störungen bei den Jugendlichen. Diese Beobachtungen werden durch die Daten der WHO bestätigt. In 10 Jahren hat sich die Anzahl von depressiven Störungen bei Jugendlichen verdreifacht. Suizide, beunruhigende Störungen – das alles wird zu einem echten Problem. Vieles davon ist mit dem Fehlen richtiger Orientierung sowie mit mangelndem Verständnis, wie man mit Schwierigkeiten fertig wird, verbunden.

Viktoriia: Welche Einstellung haben die Jugendlichen heute zur Psychotherapie?
Natalia: Sicherlich ist die Psychotherapie inzwischen mehr ins Bewusstsein getreten und ist offener geworden. Junge Leute müssen keine Angst mehr davon haben, darüber zu reden, dass sie Psycholog*innen besuchen, und oft wenden sie sich ganz bewusst an uns, um sich Hilfe zu holen. Aber es gibt auch noch Mythen. So glauben manche, dass ein*e Therapeut*in schon in der ersten Sitzung alle ihre Probleme löst. In Wirklichkeit ist aber die Psychotherapie ein Prozess, der Zeit und Arbeit an sich selbst abverlangt.

Manchmal werde ich auch mit Erwartungen konfrontiert, dass man die „Therapeut*innen sofort mögen muss“ oder dass „schon das erste Treffen Erleichterung bringen soll“ – das ist nicht immer leicht und angenehm. Es ist ein Prozess, der viel Kraft abverlangt. Und manchmal passiert auch etwas anderes: junge Leute kommen und fangen an, sich selbst zu kritisieren. Sie erzählen, dass bei ihnen die Haare, die Nase, der Charakter nicht so sind, wie sie sein sollten – und erwarten eine sofortige Lösung. Aber Psychotherapeut*innen erteilen keine Ratschläge. Seine Aufgabe ist es, dem Menschen zu helfen, über sich selbst klar zu werden und an sich zu arbeiten.

Und eben die Irrmeinung, dass man alles in einer Sitzung lösen kann. Wobei selbst eine kurzfristige Therapie mindestens 8-10 Sitzungen andauert, um Kontakt aufzunehmen und anzufangen, Probleme zu klären. Aber es ist erfreulich, dass die Jugendlichen von heute bewusster und offener geworden sind, als es früher der Fall war. Wobei es da auch die andere Seite gibt: manche kommen schon mit selbstgestellten Diagnosen, die sie dem Internet entnehmen. Sie bringen diese dann mit in die Therapie und erwarten eine sofortige Leistung. Aber man muss bedenken, dass die Ausbildung von Psychotherapeut*innen mindestens 12 Jahre dauert, ihr Wissen also viel tiefer ist als die Kenntnisse aus YouTube.

Viktoriia: Warum ist es wichtig, sich um seine mentale Gesundheit zu kümmern?
Natalia: Sich um seine mentale Gesundheit zu kümmern ist ähnlich, wie sich um seine Hygiene zu kümmern. So putzt man sich zum Beispiel jeden Tag die Zähne, weil man versteht, dass es wichtig für die körperliche Gesundheit ist. Und genau so ist es mit der Psyche. Wenn man etwa die grundlegende „Schlafhygiene“ vernachlässigt, so wird das schon am nächsten Tag Auswirkungen auf das Lernen, die Aufmerksamkeit und auf den allgemeinen Gesundheitszustand haben.

66% der Jugendlichen schlafen nicht aus, wobei sie es freiwillig tun. Sie denken nicht daran, dass ein chronischer Schlafmangel in Zukunft nicht nur zur Schlaflosigkeit führen kann, sondern auch schon in der Gegenwart ernste Probleme mit sich bringen kann. Daher ist es wichtig, zu verstehen, dass die Fürsorge für seine mentale Gesundheit keine einmalige Maßnahme ist, sondern ein systematisches Vorgehen. Und dazu gehört nicht nur der Schlaf, sondern auch die emotionale Hygiene, körperliche Aktivität und ein bewusster Umgang mit sich selbst.
Außerdem gibt es noch eine wichtige Regel: auf Schädliches verzichten und Nützliches bewusst hinzuzufügen. So sind zum Beispiel Bewegung und Zeitvertreib draußen, unter freiem Himmel von kolossaler Bedeutung. Auch wenn die Motivation, sich mit Sport zu befassen oft mit dem Schönheitsgedanken verbunden wird, ist es trotzdem nützlich für die Gesundheit. Körperliche Aktivität hilft dabei, die Erregung und das Abbremsen im Organismus zu harmonisieren, was für eine gute Entspannung sorgt und den allgemeinen Zustand verbessert.

Viele junge Menschen streben nach starken Emotionen und gehen dabei manchmal bis zum Äußersten: Sie nehmen Drogen oder erschöpfen sich emotional durch Dramatisierung. Es ist jedoch wichtig zu verstehen, dass man Emotionen erkennen und als Signal nutzen können muss. Emotionale Hygiene bedeutet Bewusstsein, das Verstehen der eigenen Gefühle und die Fähigkeit, anderen gegenüber aufmerksam zu sein. Wenn wir lernen, diese Aspekte zu berücksichtigen, lassen sich viele Störungen vermeiden.

Viktoriia: Wodurch unterscheidet sich ein Gespräch mit Familienangehörigen, Freunden, Bekannten von einem Gespräch mit Psychotherapeut*innen?
Natalia: Ein Gespräch mit Familienangehörigen oder Freunden ist zweifellos wichtig. Aber sie sind oft voreingenommen. So kann eine liebende Mutter, die ihr Kind unterstützen will zu ihm sagen: „Du bist die*der Schönste für mich!“, wenn es sich über sein Äußeres beklagt. Das ist keine objektive Hilfe, sondern Schutz. Freunde gehen genauso vor, sie bieten mehr emotionalen Halt als objektive Einschätzung.

Psychotherapeut*innen dagegen sind unvoreingenommen und arbeiten auf der Grundlage professioneller Kenntnisse. Außerdem stützen sich Familie und Freunde für gewöhnlich auf ihre eigenen subjektiven Erfahrungen, während Therapeut*innen sich auf Kenntnisse und Methodiken stützen, die durch Untersuchungen bewiesen sind. Obwohl ich immer auch sage, wenn ein freundschaftliches Gespräch oder die Unterstützung der Eltern hilft – das ist ganz wunderbar. Es ist wichtig, dass der Mensch weiß: es gibt auf der Welt einen Person, die einen unterstützt, selbst in den schwersten Zeiten.

Viktoriia: Woher weiß man, wann es an der Zeit ist, sich an Psychotherapeut*inen zu wenden?
Natalia: Zuerst sollte man versuchen, selbst zurechtzukommen. Das ist normal. Aber wenn alle Versuche – Gespräche mit Freunden, Ratschläge der Eltern – zu keiner Besserung führen, wenn man immer wieder in dieselben Fallen tappt, die eigenen Fehler wiederholt oder wenn der Schmerz nicht nachlässt, dann sollte man sich Hilfe holen.

Eine Psychotherapie beginnt beginnt mit einer Frage. Keine Frage an die Welt, sondern an sich selbst. Wenn das Bedürfnis entsteht, sich selbst zu verstehen, die Ursachen der eigenen Probleme abzuklären, dann ist dies der Bereich der Psychotherapie. Aber wenn man einfach nur getröstet werden will, ist das die Aufgabe der unterstützenden Umwelt und nicht von Psychotherapeut*innen. Wichtig ist, dass man sich des Bedarfs nach Veränderung bewusst wird.

Viktoriia: Worauf sollte man bei der Wahl der Psychotherapeut*innen achten?
Natalia: Es ist wichtig, Spezialist*innen mit bestätigter Qualifikation zu wählen. So gibt es zum Beispiel in Estland das Register VATEK (Eesti Vaimse Tervise ja Heaolu Koalitsioon), in dem zertifizierte Spezialist*innen erfasst sind, die die erforderliche Ausbildung absolviert haben und regelmäßig geprüft werden. Dies garantiert, dass die Person über bewährte Arbeitsmethoden verfügt.

Außerdem sollten sich Therapeut*innen ständig weiterbilden. Nach dem Absolvieren eines Kurses fängt ein neuer an. Das gewährleistet ein hohes berufliches Niveau und die Bereitschaft, den Patient*innen zu helfen.

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Dieser Artikel erschien ursprünglich in der Jugendzeitschrift Narvamus aus Narva im Rahmen des von der EU kofinanzierten Projekts PERSPECTIVES für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. >>> Mehr über PERSPECTIVES


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