Vergessene Geschichten

Vergessene Geschichten © Goethe-Institut / Max Mueller Bhavan | Rai

Ich kehrte 2005 nach Afghanistan zurück, in das Land meiner Geburt. Nach Jahrzehnten des Konflikts erwartete ich Bitterkeit und Misstrauen vorzufinden, stattdessen erlebte ich ein Land voller Hoffnung, bereit, neues Vertrauen zu fassen.
 
Es mag verwundern, dass ich in einer Zeit wie dieser, voller grauenhafter Schlagzeilen, meine positiven Erlebnisse schildern möchte. Wenn ich darauf bestehe, dass Afghanistan ein herrliches Land ist, wird mir Schönfärberei vorgeworfen, sogar Realitätsverweigerung. Doch was vielen so unglaublich erscheint, ist in der Tat der wirklichste Teil meines Lebens in Afghanistan.
 
In den Jahren nach meiner Heimkehr sah ich viele Afghanen aus dem Exil in Nachbarstaaten zurückströmen. Frauen fühlten sich sicher genug, um die Arbeitswelt zu erobern und afghanische Unternehmen florierten.
 

Es geschieht Schreckliches in Afghanistan, doch die Menschen des Landes schreiten voran und schreiben ihre eigenen Geschichten.

The Missing Stories


Ich zelebrierte die Wochenenden mit Picknicks in der üppigen Natur. Meine Freunde und ich ließen uns köstliches Obst und saftige Kebabs mit frischgebackenem Brot schmecken. Ich besuchte Kunstausstellungen und Landwirtschaftsmessen und kaufte herrliche Stoffe und Möbel. Ich traf friedliche Demonstranten und Aktivisten und hörte im Schein des Mondes fantastische Live-Musik. Ich entdeckte meine Liebe zur Dichtkunst von Neuem und lernte von meinen Landsleuten, die Zeit mit geliebten Menschen wertzuschätzen.
 
Dieses offenbar 'radikale' Bild von Afghanistan als einem wundervollen Land von Dichtern und Revolutionären ist nicht weniger wahr als das des desolaten Kriegsgebiets, an das die meisten gewöhnt sind. Ich bin nicht wirklichkeitsfremder, als die Nachrichten pessimistisch sind. Die Fortschritte an relativer Sicherheit in den letzten zwei Jahrzehnten sind genauso real wie die schwerwiegenden Rückschläge. Es geschieht Schreckliches in Afghanistan, doch die Menschen des Landes schreiten voran und schreiben ihre eigenen Geschichten - Geschichten,  die nicht mit der weitverbreiteten Ansicht übereinstimmen, dass in Afghanistan nichts als Krieg ist.
 
Ich liebe es, Geschichten zu teilen, wie die des preisgekrönten Mädchen-Robotik-Teams oder der begeisterten Zuschauer bei nationalen Fußballturnieren. Geschichten über das Gelächter bei morgendlichen Radiosendungen oder Komödien im Fernsehen. Mir wird vorgeworfen, ich würde ein falsches Bild zeichnen. Dass meine Beschreibungen zu viel ausließen.

Aber ich frage: Wo bleibt dieselbe Reaktion, wenn der Krieg als einzige Realität verkauft wird? Die Stärken Afghanistans zu verschweigen, wenn wir über seine Probleme sprechen, ist nicht genauso schlimm - es ist viel schädlicher.
 
Diskussionen über die Zukunft Afghanistans werden überall und mit Heftigkeit geführt. Dabei geht die afghanische Perspektive leicht verloren im Chor ausländischer Akademiker, die uns beredt vor unserem bevorstehenden Verderben warnen, dabei aber die Resilienz und den Friedenswillen Afghanistans kaum erwähnen. Oder Bewegungen wie den 700 Kilometer langen Friedensmarsch von Helmand nach Kabul, an dem afghanische Männer, Frauen und Kinder sowie Menschen mit Behinderungen teilnahmen, um friedlich für ein Ende der Gewalt zu demonstrieren.
 
Ich gebe zu, dass jede Sichtweise ihre Beschränkungen hat, aber ich kann nicht über den mangelnden Willen sich tiefergehend zu informieren hinwegsehen. Die ganze Welt interessierte sich dafür, was die Menschen in Afghanistan fühlten, wer sie waren und wie ihr Leben aussah, als die einzige zu erwartende Antwort lautete: „Danke für die Hilfe.“ Es ist nicht hinnehmbar, dass dieselben Menschen nun ignoriert werden.
 
Vielleicht halten manche von Ihnen dies nicht für den richtigen Zeitpunkt um über Picknicks oder Musikkonzerte zu sprechen. Ich kann verstehen, dass der Kontrast zu Staub und Geschosssalven der gängigen Nachrichtenbilder zu groß erscheint. Trotzdem muss mehr von Afghanistan in den Narrativen über Afghanistan auftauchen. Wer sich für das Land interessiert, sollte zumindest afghanische Journalisten zu Rate ziehen, um die Ereignisse zu verfolgen; sollte Bücher von Afghanen lesen, die in Afghanistan leben und mit ihnen sprechen.
 
Sie sind es sich schuldig, sich ein vollständigeres Bild zu machen als es die Mainstream-Medien bieten. Gehen Sie über Themen wie Entwicklungszusammenarbeit und Hilfsausgaben, Streitkräfte und Militärstrategien hinaus. Tauchen Sie ein in die Beinahe-Erfolgsgeschichte der Befreiungs- und Friedensbemühungen in Afghanistan. Wenn sie fehlschlugen, fragen Sie warum. Was bedeutet es für die Weltsicherheit, wenn eine so breite Staatenkoalition ein so kleines Land nicht nachhaltig befrieden kann? Stellen Sie all diese Fragen. Machen Sie sich bewusst, was ein Scheitern für die Menschen in Afghanistan und für Sie selbst bedeuten würde. Wenn Sie sich die Zeit nehmen, die Wahrheit hinter den Schlagzeilen zu suchen, werden Sie auch einen Blick erhaschen auf all das Schöne, das ich beschrieben habe.

— Juli 2021

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