Niemand ist eine Insel
Sideræl

Deep Dream Image (Zuschnitt) von Hieronymus Boschs „Garten der Lüste“ ( Zuschnitt) © Kyle McDonald via Flickr: https://www.flickr.com/people/kylemcdonald/

Bu wachte auf mit zitterndem Körper. Was war das? War alles okay? Bu schaute atemlos auf die eigenen Hände und spürte eine Enge. Bu versuchte, einen nach dem anderen, die Finger zu bewegen. Sie gehorchten, erleichtert pustete Bu die Luft aus den Lungen und schaute Su an. Sus kleiner Körper hebte und senkte sich, die Atmung ging ruhig, die Augen waren geschlossen, es war alles in Ordnung. Bu wollte sich nun also erinnern, fast immer entkamen die Träume Bus Erinnerung bereits Momente nach dem Aufwachen. Aber nicht dieser. Offenbar lag hinter ihm versteckt eine große Menge an Bedeutung.

Sascha Ehlert

Bu überlegte kurz, das Handy aus dem Wohnzimmer zu holen und zu versuchen ihn aufzuschreiben – vielleicht war dieser Traum ja ein guter Anfang für eine neue Geschichte. Also stand Bu auf, schaute nur kurz aus dem Fenster, die Sonne war schon aufgegangen und am Himmel war keine Wolke zu sehen. Dennoch erschien es Bu, als wäre das Draußen genauso Grau wie gestern. Kurz spürte Bu Zufriedenheit, als der Nespresso aus der Kapsel aus recyceltem Aluminium in die Tasse gespült wurde. Als die Maschine fertig war, schaute Bu auf das Telefon. Ausnahmsweise keine Eilmeldungen auf dem Sperrbildschirm. Gut, gut. Hätte Bu jetzt begonnen Nachrichten zu lesen, die Erinnerung hätte ihn wohl direkt verlassen. Aber so legte Bu sich zurück zu Su, stellte den Kaffee neben sich und öffnete Notizen.

Ich wachte auf und wusste sofort wo ich war. Ich schwebte über einer Insel in der Luft. Die ganze Welt war in absurd gesättigten Farben gezeichnet, so als wäre die Insel, aus der diese ganze Welt bestand, nicht die Idee eines Gottes, sondern die eines Menschen gewesen. Das heißt, die Insel sah eigentlich komplett uninteressant aus, zumindest von hier oben. Ich befand mich wohl in mehreren Tausend Metern Höhe – und das beruhigte mich. Ich hätte einfach hier oben bleiben können und wäre vielleicht für immer zufrieden gewesen. Wenig später würde ich meine Neugier verteufeln, aber in diesem Moment, in dem ich sie sah, arbeiteten mein Gehirn und mein Körper wie das eines gewöhnlichen Menschen. Irgendwas war dort unten los. Etwas, das nicht ins Bild passte. Ich wusste, dass es auf der Insel Menschen gab, wie könnte es auch anders sein. Andere Säugetiere und Fische, die gab es auch, aber die waren eigentlich nur Kulisse. Diese mir stets so artifiziell erscheinende Welt drehte sich um die Menschen. Ich wusste, warum sie dort waren, also auf dieser Insel. Schon seit Ewigkeiten spielten sie dort ihr Spiel, Runde nach Runde, nach den immer gleichen Regeln. Allerdings sahen die nicht das vor, was ich nun sah. Es war etwas, das ich nicht beschreiben konnte, etwas, bei dessen Anblick mir die Sprache abhanden kam. Ich spürte einen inneren Drang, dem, was ich sah, näher zu kommen, denn vielleicht, so dachte ich, würde ich so die Worte finden, die mir gerade fehlten. Also setzte ich mich in Bewegung. Ich ging runter, erst langsam, dann immer schneller, mein Bewusstsein setzte aus und ich wurde ein Gefangener meines Schreckens. Ich flirrte nun also kreuz und quer über die Insel, um mir einen Reim aus dem zu machen, was ich sah. Fratzen, die mich für immer verfolgen würden, weit aufgerissene Münder, kaputte Körper, einsam in der Welt stehende Symbole der luxuriösen Vergangenheit dieser Welt, die nun im Begriff schien sich selbst zu verschlingen. Es war schrecklich, aber ich wollte immer mehr von diesen Menschen sehen, mit denen Unbeschreibliches zu geschehen schien. Was hatten Sie nur getan? 

War das hier nicht alles nur ein Spiel? Warum ging das Spiel nicht weiter? Ob Fisch, ob Vogel, ob Mensch, alles war wie eingefroren, als wäre die Welt einfach stehen geblieben, weil sie all das nicht mehr ertragen wollte. Ich flirrte weiter und suchte nach Indizien, die mir verraten könnten, was all das ausgelöst hatte. Aber ich blieb erfolglos. Stattdessen befiel mich mehr und mehr ein düsteres Gefühl, das sich unwiderruflich in meinen Gedanken einnistete. Diese Fratzen. Ich versuchte weg zu sehen, aber ich konnte nicht. Atom Atom Atom. Wieder verließ mich meine Sprache.

Als ich begann wieder zu mir zu kommen, nach jenen Momenten des Wahnsinns, fragte ich mich wie ich meiner Verantwortung würde gerecht werden können. Was könnte ich tun, um diese Insel, die eine ganze Welt war, zu retten? Ein ganz und gar dummer Gedanke – oder nicht? War nicht alles nur ein Spiel ohne Konsequenzen? Nein, das bläute mir in diesem Moment mit all dem Gewicht, die das Erkennen einer Wahrheit mit sich bringt. Ich musste diese Welt retten, koste es was es wolle. Aber dann … auf einmal durchzuckte meine Gedanken ein Schmerz. Und das war’s. 

Bu schloss Notizen, nickte zweimal zufrieden für sich selbst und fühlte sich nun gut. Dann beschloss Bu Su zu wecken. Es war ja schon fast Mittag. 


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Dieser Artikel wurde in Zusammenarbeit mit Das Wetter – Magazin für Text und Musik beauftragt und erstellt.  

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