Möglichkeiten utopischen Erzählens
Island in the unmapped sky

Cartoon-Illustration einer kleinen Insel mit zwei Palmen, die in einem bewölkten Himmel schweben Illustration: Maria Krafft

„ATTENTION!“, brüllt ein Vogel über mir, „and it [is] as though an oboe ha[s] become articulate.“ „Here and Now!“, brüllt der Vogel weiter. Offensichtlich bin ich gestrandet! Über mir sehe ich poolblauen Himmel, ein Schmuckwölkchen, zwei abgeschnittene Palmwedel und seit wenigen Sekunden außerdem „two exquisite children looking down at [me]“.(1)

 

Charlotte Krafft

Ihr Geschlecht ist offenbar unwichtig, sie müssen auch nicht halbnackt sein, eigentlich müssen es auch gar keine Kinder sein. Ich finde, die beiden wirken sogar ziemlich alt. 

„Heaven, heaven is a place
A place where nothing
Nothing ever happens“

Talking Heads 


Dr. Mc, sagt einy von ihnen nun. Und das ist Dr. Su. Und dann („Smalltalk“ bezeichnet hier nur noch ein nischiges Fernsehshow-Genre) setzen sie sich neben mich in den Sand und erzählen mir von ihrer Insel – wie glücklich „Here and Now!“ alle sind, wie gut ihr Gesundheitssystem funktioniert, wie verlässlich der kostenlose ÖPNV ist, und so weiter. „Don't you sometimes despair?“ unterbreche ich. Sie schütteln die Köpfe. „Because we know that things don't have to be as bad as in fact they've always been. Because they are better on this absurd little island“(2). 

Damit haben sie die Funktion ihrer Insel schon gut getroffen: „Den Prozess des kritischen Vergleichens [zwischen Wirklichkeit und Utopie] in Gang zu bringen“(3), „um innerhalb des Wirklichen den Sinn für das Mögliche zu schärfen.“(4) Anders gesagt: Die Utopie ist ein Gegenbild zu gegenwärtigen Formen des Zusammenlebens. Um Gegen- sein zu können, muss sie aber auch ein -bild enthalten und ist dadurch immer auf ihren konkreten Entstehungskontext bezogen. Als solches situiertes Gegenbild ist sie erstens unerreichbar und zweitens statisch, das sind ihre wesentlichen Merkmale, wobei das zweite das erste bedingt. „It is nowhere. It is pure model; goal“, erklärt Dr. Su, dey ist Experty für Trauminseln. „Utopia is uninhabitable“, „static perfection is an essential element of [that] non-inhabitability“(5)„Here and Now“, schreit der Vogel.

Als Gegenbild zu „things in fact“ steht „this absurd little island“ natürlich in einer Tradition, führt Dr. Su fort. Pala im 16. Jhd. hätte Utopia oder Nova Atlantis geheißen und wäre ein Inselstaat gewesen – eine notwendig isolierte, totalitär regierte Gesellschaft, in der subjektive Interessen und Gemeinwohl jedoch derart in eins fallen, dass man wirklich von Glück sprechen kann. Stasis durch Kontrolle, Wunschlosigkeit durch staatlich geregelte Wunscherfüllung. 

Die Palas des 18. Jhd. unterschieden sich von ihren Vorgängern in Hinblick auf die abgebildeten Formen des Zusammenlebens kaum. Allerdings waren sie nicht mehr im Raum verortet, sondern in der Zeit, was u.a. auf die Säkularisierung (der jüdisch-christlichen Eschatologie) zurückzuführen ist, mit der ein neues Menschenbild sowie ein neues Verständnis von Geschichte als Fortschrittsprozess einherging. Utopien (und Utopiekritik) gaben notwendige Antworten auf die Frage nach dem Ziel dieses Fortschritts. 

Mit dem Wandel wurde jedoch ein Widerspruch immer deutlicher ... Dr. Su steht auf und reicht mir eine Hand. „Die Feststellung Rousseaus, dass Subjekt und Gesellschaft in ihren Interessen nicht zur Übereinstimmung gebracht werden können, wenn das Subjekt in seiner Eigenart ernst genommen wird, führt zur Entdeckung der grundlegenden Dialektik der Utopie“(6), und damit zu einer neuen Selbstreflexivität des Genres, sagt dey, während wir an einer Herde Giraffen von der Größe ausgewachsener Rehpinscher vorbei spazieren. Die literarische Konsequenz dessen ist eine Dominanz der Dystopien. Hier, in den Anti-Utopien wie H.G. Wells Time Machine oder E.M. Forsters The Machine Stops schlägt die Utopie um zum Schreckbild, in dem sich die Degeneration der Beherrschten als Konsequenz eines radikalen Fortschrittsdenkens zeigt.

Wie kommt man da nun wieder raus, frag ich.
Indem man die utopische Erzählung öffnet und mit ihr auch ihre Bedingungen erzählt, antwortet Dr. Su. So wie Le Guin in The Dispossessed, sagt Dr. Mc. Oder Jewgeni Samjatin in Wir. Für sie war die Verbindung von Utopie und Anti-Utopie, das Mitdenken der Gefahr eines Umschlagens die Bedingung für utopisches Erzählen. Man könnte auch sagen: Kontingenz wurde zum utopischen Programm.

Und warum gibt es solche kontingenten Utopien heute kaum noch, frage ich. Dr. Su bläst die Backen auf. Lies Fredric Jameson, lies Mark Fisher, sagt sie, mein Hals ist trocken. In einem geschichts- wie zukunftslosen Zustand der Stasis, wie Fisher die Gegenwart beschreibt, ist es eben schwierig, sich etwas qualitativ völlig anderes vorzustellen. Allerdings tauchen doch immer wieder Zerrbilder alter Utopien innerhalb zeitgenössischer Science Fiction auf, wobei eine Umkehr der Kausalität zwischen Perfektion und Stillstand auffällt. Virtuelle Inseln, auf denen man verschwinden kann(7), Insel-Gemeinschaften ohne Missverständnisse(8), sind statisch und deshalb perfekt – nicht andersrum. Passivität bis hin zur Selbstauflösung – das ist der Traum. „It's easier to imagine the end of the world“(9), sagt Dr. Mc, als ein Zusammenleben, in dem unsere größte Sehnsucht nicht ist, uns aufzulösen. Dr. Su streichelt mir über den Kopf. Kein Wunder, dass es unmöglich scheint, ein utopisches Gegenbild zu entwerfen in einem System, das sich durch Endogenisierung jeder Systemkritik stabilisiert. Die Utopie als Kritikform ist da keine Ausnahme, sagt dey, schnippst mit den Fingern und eine Collage aus Artikeln, Büchern, Talkshows und Harald-Welzer-Interviews erscheint auf einem holografischen Display, durch den ein Schwarm Kakadus fliegt. Wer will nicht alles wissen, dass es uns an Utopien fehlt. Aber gedacht wird hier vom Weg her, nicht vom Ziel. Die Frage ist: Was fehlt? Die meisten ergänzen stumm: zum Weitermachen. Die anderen brüllen: zum Systemchange. Wobei eine Antwort auf die zweite Frage eben allzu leicht zur Antwort auf die erste werden kann. Das System hat sich sozusagen die Kontingenz zum Programm gemacht. Macht das Sinn? Jedenfalls scheint Huxley diese Vereinnahmung der Utopie bereits geahnt zu haben. So ist das Ende von Island – die Invasion der Ausbeuterys nicht nur als Kritik am Imperialismus zu lesen: Jene Mächte erobern und zerstören mit dem alten Pala auch die Vorstellung der perfekten Stasis. Um diese drohende Vereinnahmung darzustellen, zieht sich Huxley auf erzählerische Muster der Vergangenheit zurück und überprüft ihre Gültigkeit in der Gegenwart. Noch einmal greift er das Prinzip der Raumutopie auf, um es anschließend neu begründet wieder zu verwerfen. Seine utopische Erzählung wird zur „Erzählung über die Möglichkeiten utopischen Erzählens“(10), aus der man schlussfolgern könnte: Die Utopie muss sich verändern.

Und vielleicht darf sie gar nicht mehr aufhören, sich zu verändern. In einem dynamischen System muss sich womöglich auch die Utopie dynamisieren, um sich zu entziehen. Wer hat das jetzt gesagt, fragt Dr. Su. Ich, sag ich. Wenn wir uns von unserer Jetztzeit aus keine perfekte Stasis vorstellen können, dann sollten wir uns doch zunächst an (Nicht-)Orte denken, an denen dies möglich ist (war). Die „unerledigte Jetztzeit der Toten“ auszugraben, die unter „dem Jetzt der Lebenden“(11) sich ausbreitet, könnte auch bedeuten, ein Fundament zu schaffen für utopisches Denken. „The porcupine goes consciously backward in order to speculate safely on the future, allowing him to look out at his enemy or just the new day“(12). Ich möchte mich wie Huxley zurückziehen auf die „Jetztzeit der Toten“, um mir von hier aus Bilder und Gegenbilder des Jetzt der Lebenden zu machen. Gemeint ist damit keine Enthistorisierung. Es geht im Gegenteil darum, vergangene Utopien als Produkte ihrer Zeit zu be-handeln, sie gegen den entzeitlichenden Zugriff nostalgischer Moden zu wappnen, indem man sie offenhält, indem man sie ständig weiter- und anders erzählt, in Zusammenarbeit. Die Methode, die ich vorschlage, ähnelt dem wissenschaftlichen Arbeiten als einer Praxis des Aufgreifens und Anknüpfens, auch in der Hinsicht: Sie beruht auf Kollaboration und bietet dadurch Sicherheit – die Sicherheit, dass die Geschichten immer weiter gehen – die Sicherheit, „es nicht alleine schaffen“(13) zu müssen, dass jemand meine Gegenbilder mit anderen ergänzt – die Sicherheit, dass jemand sehend ist, wo ich blind bin. Kritik ist hier nur in der Hinsicht eine Bedrohung, als dass sie meine unperfekte Vorstellung einer perfekten Stasis infrage stellt, sie aber auch rettet, indem sie sie in immer neue unperfekte Vorstellungen vom perfekten Nicht-Ort eingehen lässt. 

Kollaborative Fanfiction nenne ich diese Methode, und ich habe sie mir nicht ausgedacht. Donna Haraway und ihre Kollegys praktizieren in Staying with the Trouble ähnliches. In der Künstlys-Bubble sind „Hauntology und Erzählen im Sinne eines Anknüpfens“(14) Trendthemen. Und in Subreddits wie r/Futurology, auf orions-arm, in den Star Trek-Foren und -Fanzines wird schon seit Jahrzehnten mit Formen kollaborativen Erzählens fiktiver, potentiell unendlicher und teils utopischer Geschichten experimentiert, sage ich, etwas außer Atem. Es gibt sie! Die Utopien, man muss nur an den richtigen Stellen suchen, und anknüpfen ... Inzwischen sind wir am Rand eines Canyons angelangt, in dem ein paar Leute eine Art Hüpfburg aufblasen. Während ich mich auf den Boden setze, sehe ich, wie eine Gestalt in einem weiten T-Shirt in den Canyon hinabsteigt. Als sie uns sieht, bleibt sie stehen und winkt. Sie trägt das gleiche T-Shirt wie ich, nur ist ihres grüner als meins. Wer ist das, frag ich. Meine Begleitys lachen. Du hast doch nicht geglaubt, dass du die erste hier bist. 
Fuck was?
 

   
Logo Das Wetter © Das Wetter
Dieser Artikel wurde in Zusammenarbeit mit Das Wetter – Magazin für Text und Musik beauftragt und erstellt.

Das könnte euch auch gefallen

Deep Dream Image (Zuschnitt) von Hieronymus Boschs „Garten der Lüste“ ( Zuschnitt)
© Kyle McDonald via Flickr: https://www.flickr.com/people/kylemcdonald/
Der Zuschnitt eines Fotos zeigt eine Adler-Schreibmaschine als Requisite aus dem Kubrick-Film „The Shining“.
Foto: © Flickr User Seth Anderson