Leben

Verspätetes Begräbnis

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Feierliche Stolpersteinverlegung für Gerhard und Frieda Deussing in Leipzig, Foto: © Irena Dudová

Stolpersteine sind die Gräber derjenigen, die nie ein richtiges Begräbnis bekamen. Im Oktober wurden in Leipzig an zehn Orten neue Stolpersteine verlegt – auf eine bürgerliche Initiative hin und auf der Grundlage umfangreicher Recherchen. Die DaF-Lektorin Kristina Wermes ist eine der Initiatorinnen.

Alles begann im Museum der Roma-Kultur in Brno (Brünn), wo Kristina 2009 als DaF-Gastlektorin aus Leipzig hingezogen war. „Ich fand mich in einem Raum wieder, in dem es um die Verfolgung von Sinti und Roma unter der Naziherrschaft ging. Unter anderem war das sogenannte ‚Hauptbuch‘ des Abschnitts B II im KZ Auschwitz ausgestellt. In diesem Bereich waren Sinti und Roma inhaftiert. Sie waren damals genauso wie die Juden systematisch verfolgt worden, etwa eine halbe Million Menschen verloren ihr Leben. Aus Neugier suchte ich danach, wer genau aus Leipzig nach Auschwitz deportiert worden war. Die Namen schrieb ich mir auf. Meine Idee war, weitere Forschungen anzustellen und vielleicht in meiner Heimatstadt ein Stolperstein-Projekt zu realisieren. Etwas Ähnliches hatte ich ursprünglich in Ústí nad Labem (Aussig an der Elbe) vorgehabt, wo ich nach meiner Brünner Zeit gelebt hatte. Aber dann verschlug mich das Schicksal wieder zurück nach Leipzig.“

Kristina interessierte sich für das Schicksal zweier konkreter Menschen, die eine Verbindung mit ihrer Heimatstadt hatten: Gerhard Rudolf Deussing und Frieda Loni Deussing. Der Nachname blieb ihr im Gedächtnis haften. Sie will alles, was möglich ist, über sie herausfinden. Vor allem aber noch lebende Familienmitglieder ausfindig machen. Sie beginnt zu recherchieren, wendet sich an das Stadtarchiv und die Stadtführung. Sie hört nicht auf, zu forschen. Später gesellt sich auch der Leipziger Verein Erich-Zeigner-Haus hinzu. Eines der Ziele, denen sich dieser Verein verschrieben hat, ist die Unterstützung von Werten wie Mut, Demokratie, Gewaltlosigkeit und Toleranz. Und auch die Realisierung von Projekten, die junge Leute mit der Problematik des Nationalsozialismus konfrontieren. Kristina gelingt es auch Schüler des Immanuel-Kant-Gymnasiums zu aktivieren und sie in ihre Recherchen einzubinden – auch sie können so Teil der guten Tat werden und zum Gelingen der ganzen Aktion beitragen. Sie selbst ist überrascht wie bereitwillig die Schüler sind und welch großes Interesse das Stolperstein-Projekt in ihnen weckt.

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Gerhard und Frieda Deussing, Foto: © Irena Dudová

Die Geschichte geht weiter. Nach der erfolgreichen Suche findet Kristina den Mut, die Hinterbliebenen zu kontaktieren. Sie hat herausgefunden, dass sie im niedersächsischen Städtchen Holzminden leben, 300 Kilometer von Leipzig entfernt. Sie entscheidet sich, ihnen einen Brief zu schreiben. Ihn zu formulieren ist nicht leicht, lange wägt sie ihre Worte ab. Sie schickt den Brief ab. Sie wartet. Nach einiger Zeit erhält sie eine bewegende Antwort. Die Familie der Leipziger Opfer, Christa und Peter Deussing, ist gerührt. „Zu Beginn waren wir skeptisch – was wollen die von uns?“ beschreibt Christa ihre Gefühle, nach dem sie den Brief gelesen hatte. „Irgendwo tief in uns ist immer noch eine verdeckte Angst, wissen Sie? Warum fragen sie uns wohl?“ glaubte sie nicht. „Diese Projekt kannten wir schon, aber nie haben wir daran gedacht, dass das auch uns direkt angehen könnte.“ Die Geschwister nahmen die Einladung zur feierlichen Legung des Stolpersteins gerne an. Einige Monate später fahren Christa und Peter aus Niedersachsen nach Leipzig.

Es ist ein kühler sonniger Vormittag am 1. Oktober 2015. An diesem Tag werden noch an neun weiteren Orten in der Stadt neue Stolpersteine eingesetzt. So auch in der Großen Fleischgasse, die sich direkt im Leipziger Stadtzentrum befindet. Kristina kommt mit zwei gerahmten Fotos einer lächelnden Frau und eines charmanten Mannes. Die zwei Menschen, auf die sie zufällig vor Jahren im Museum in Brno stieß. Zu ihrer Seite stehen auch Christa und Peter. Feierlich aber doch bescheiden gekleidete Gäste aus Holzminden. Es fährt auch ein roter Lieferwagen vor. Gunter Demnig steigt aus. Der Kölner Künstler ist der einzige, der die Stolpersteine in die Erde setzt. Er war bereits in mehr als 50 Städten, nicht nur einmal. Er hat bereits über 50.000 Stolpersteine gelegt, unter anderem auch in Tschechien. Er trägt einen Hut, Ohrring und Knieschützer. An diesem Tag wird er sich noch achtmal bücken müssen. Er sagt kein Wort. Aus dem Lieferwagen nimmt er Werkzeug und entfernt zwei Würfel aus dem Bürgersteig. An ihre Stelle setzt er zwei Betonwürfel mit Messingplatten und eingraviertem Text. Er klopft sich die Hände ab und fährt weiter.

Frieda Loni und Gerhard Rudolf. Die Geschwister Deussing. Diese Namen stehen auf den Messingtafeln. Geboren, gewohnt, deportiert, ermordet. Der Grund für ihre Deportation war klar: Während sich fast alle volljährigen Kinder ihrer Familie einer Zwangssterilisierung unterziehen mussten, lehnten sich Gerhard und Frieda gegen diese politische Maßnahme auf. Sie haben hier gewohnt, im Haus gegenüber, das nicht mehr steht. Christa weint gerührt. Es kommt ein Akkeordeonspieler und mit einem melancholischen, langsamen Stück endet die Feier.

„Wir danken ihnen, dass wir dabei sein durften. Dass wir bei der Entstehung des Denkmals für unsere Tante und unseren Onkel sein durften“, sagt Christa mit Tränen in den Augen. „Wir sind sehr eng verbunden in unserer Familie, und Frieda und Gerhard waren die, die wir nie kennengelernt haben. Die Tatsache, dass wir sie heute symbolisch unarmen konnten, hat mich tief berührt. Für mich war es, als hätten wir sie selbst zu Grabe getragen.“

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Die Nachfahren der Ermordeten: Christa und Peter Deussing (links im Bild), Foto: © Irena Dudová

In Leipzig werden schließlich noch insgesamt 313 Stolpersteine hinzukommen, an 127 verschiedenen Orten. „Jeder, den das Projekt interessiert, kann dazu seinen Teil beitragen. In größeren Städten gibt es Bürgervereinigungen, die gerne bei der Organisation, der Suche nach Quellen und mit dem Zugang zu Archiven behilflich sind“, sagt Kristina. Für sie ist diese Initiative ein Schlüssel: Menschen, die nicht beerdigt worden sind, gibt es viele. Für die Hinterbliebenen sind gerade die Stolpersteine eine gute Gelegenheit, um ihr Andenken zu ehren.

Die Tradition der schon gelegten Steine in Leipzig erstaunt Kristina: „Eigentlich überrascht es mich ziemlich, wie lange dieser Brauch schon in Leipzig Tradition hat. An jedem 9. November, dem Jahrestag der Reichspogromnacht, werden hier schon seit vielen Jahren die Andenken der Toten geehrt“, sagt sie.

Dieses Jahr haben sich am 9. November an den Stolpersteinen viele Menschen getroffen, denn das Gedenken hat diesmal auch eine aktuelle politische Botschaft. Die rechtspopulistische Bewegung Legida (Leipziger gegen die Islamisierung des Abendlandes) ruft wiederholt zu Demontrationen auf. Die Welle des Widerstandes gegen die Tatsache, dass Legida ausgerechnet am Jahrestag der Reichspogromnacht marschiert, hat die Gegner der Rechten mobilisiert, es finden unzählige Gegendemos statt.

Kristina ist an diesem 9. November nicht alleine an den Stolpersteinen. Passanten interessieren sich dafür, was los ist, sie bleiben stehen und stellen Fragen. Neben den Stolpersteinen brennen drei Kerzen, jemand hat weiße Blumen niedergelegt, und genau wie bei ihrer Verlegung spielt melancholische Musik. Sie vermischt sich mit dem Lärm der Demonstrationen und Gegendemonstrationen im Hintergrund.

Irena Dudová

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November 2015

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