Durchs Fenster in die Seele
Unser Fenster sagt mehr über uns, als wir ahnen. Davon ist Ivana Hermová überzeugt. Die Sozialanthropologin forscht seit Jahren zu Fenstern, schreibt darüber ein Theaterstück und ein Buch über Geschichten von Menschen und ihren Fenstern.
Eine schöne Aussicht aus dem Fenster ist für manche lebenswichtig, andere legen nicht so viel Wert darauf, weil sie eigentlich nur zum Schlafen sind. „Aber auch jene, die behaupten, das Fenster nicht wahrzunehmen, leben aktiv mit ihm“, sagt Ivana Hermová. Sie möchte den Blick aus dem Fenster im breiteren Zusammenhang der menschlichen Existenz betrachten und zeigen, was für eine wichtige Rolle er spielt. jádu-Autorin Alice Zoubková hat mit Ivana darüber gesprochen.
Die Untersuchung des Fensters aus anthropologischer Sicht ist sowohl im tschechischen, als auch im internationalen Kontext ein einzigartiges Vorhaben. Wie kamst du darauf, dich diesem Thema zu widmen?
Vor fünf Jahren bin ich mit meinem Mann umgezogen und wir haben uns zwischen zwei Wohnungen entscheiden müssen. Eine war renoviert und günstiger, aber wenn man aus dem Fenster sah, hatte man die Wand des gegenüberliegenden Hauses vor sich. Die zweite Wohnung war zwar teurer und in einem Plattenbau, aber sie war im zwanzigsten Stock und man hatte einen Ausblick auf ganz Prag. Mein Mann wollte lieber die erste, aber ich habe gesagt, dass ich dort nicht einziehen werde. Wir sind also in den Plattenbau gezogen. Er selbst hat anerkannt, dass das eine gute Wahl war, aber im Unterschied zu mir war das für ihn nicht von Anfang an selbstverständlich. Deshalb habe ich mich entschieden, dieses Thema aufzugreifen und wollte herausfinden, welche Beziehung die Menschen eigentlich zum Fenster haben. Ich habe mich an die Aussicht aus meiner Kindheit erinnert, die sehr weitläufig war, und ich habe überlegt, wie uns das formt und unser Denken beeinflusst.
Was erzählen dir die Menschen meistens, wenn du mit ihnen über ihre Fenster sprichst?
Wenn ich zu jemandem komme, sagt er oder sie mir gewöhnlich: „Ich sage dazu nichts, hier ist das Fenster, schau es dir an.“ Aber sobald ich die Menschen frage, was sie sehen, hören oder fühlen, tauchen nach und nach Geschichten auf und die Menschen stellen fest, wie wichtig das Fenster ist. Auf irgendeine Art und Weise hat nämlich jeder einen Bezug zum Fenster, auch wenn das unbewusst ist. Ein Teil der Menschen sieht gern aus dem Fenster und verbindet wunderbare Geschichten damit – im Grunde genommen leben sie durch das Fenster auf der Straße und wissen alles. Es gibt aber auch solche, die mit dem Fenster Probleme haben, weil sie etwas stört. Oft sind das auch verhältnismäßig intensive soziale Situationen, zum Beispiel Streit mit den Nachbarn.
Neben dem Interview wendest du auch die Methode des sogenannten „participatory sensing“ (auf Deutsch: partizipatorische Erfassung) an. Was ist das?
Das bedeutet, dass ich bei den Menschen zu Hause bin, dass ich zum Beispiel mit ihnen koche oder wir über alltägliche Sachen sprechen, das Gespräch verläuft also spontan und die Menschen vergessen, dass ich sie aufnehme. Es ist aber nicht nötig, auf einer festen Methode zu beharren. Einmal hat sich jemand so sehr für seine Aussicht geschämt, dass wir uns zum Gespräch in einem Café getroffen haben. Schlussendlich war das eines der interessantesten Gespräche, denn er hat mir, weil ich das Fenster selbst nicht sehen oder öffnen konnte, sehr viel Persönliches erzählt und mir alles gesagt, was er fühlt.
Das kommt mir schon fast wie eine psychologische Arbeit vor, bei der man ins Innere des Menschen gelangt.
Dabei befrage ich sie aber nur über das Fenster. Die Menschen müssen sich nicht bedroht fühlen, ich will von ihnen keine Erklärung für ihr früheres Handeln haben. Das, was in ihnen vorgeht, zeigt sich aber trotzdem durch ihre Haltung in Bezug auf das Fenster. Wenn vielleicht jemand durch das Fenster beobachtet wurde, oder er selbst jemanden beobachtet hat, hat er für gewöhnlich die Tendenz, sich hinter Gardinen und Vorhängen zu verstecken. Jene hingegen, die solche Erfahrungen nicht gemacht haben, kümmern sich darum gar nicht und sind sich oft nicht einmal bewusst, dass sie jemand beobachten kann.
Haben die Menschen das Bedürfnis, über verschiedene Dekorationen und Verzierungen zu sprechen, die sie in den Fenstern haben?
Weil ich die Fenster fotografiere, tendieren die Menschen oft dazu, selbst alles zu beschreiben und zu erklären. Wenn sie das nicht tun, frage ich sie danach. Sie haben auf jeden Fall oft das Gefühl, dass man eine schöne Aussicht haben sollte. Falls dem nicht so ist, dann versuchen sie es zu erklären oder sich zu rechtfertigen, denn im Grunde genommen drückt das Fenster unseren sozialen Status aus. Auf der anderen Seite muss man sagen, dass die Menschen oft gut damit umzugehen wissen. Wenn ihre Aussicht auf eine graue Wand geht, dann schmücken sie das Fenster mit verschiedenen Artefakten oder sie besorgen sich interessante Vorhänge, so dass es schließlich hübsch aussieht.
Beschäftigst du dich auch mit dem Unterschied zwischen offenem und geschlossenem Fenster?
Selbstverständlich, und sogar intensiv. Zum einen ist das eine starke Metapher, zum anderen auch ein interessanter Faktor im Kontext der Beziehungen der Menschen, die hinter dem Fenster leben. Wenn sie sich zum Beispiel streiten, haben sie die Tendenz das Fenster zu schließen. Ebenso kommt es vor, dass ein Teil eines Paares – meistens die Männer – das Fenster ununterbrochen offen haben will zum Lüften, aber den Frauen ist kalt und sie machen das Fenster immer wieder zu. Dadurch, dass man das Fenster entweder schließt oder öffnet, sucht man sich aus, ob man die Stadt hereinlässt und Teil eines größeren Raumes wird, oder nicht.
Unterscheidet sich die grundlegende Wahrnehmung des Fensters abhängig davon, ob die Menschen in einem Einfamilienhaus oder in einer Stadtwohnung leben?
Wenn man eine Wohnung in der Stadt hat, ist das Fenster zugleich die Grenze des eigenen Raums. Das Einfamilienhaus hingegen ist meistens noch von einem Grundstück umgeben, das einem gehört, und wenn man aus dem Fenster schaut, sieht man da noch etwas, das einem selbst gehört. Außerdem kennt man die Nachbarn meistens und man schaut, was sie tun; die Stadt hingegen ist anonym. Manche Menschen haben oft nicht mal Vorhänge, weil es ihnen egal ist, dass sie jemand sehen kann.
Hast du dich neben der Aussicht aus dem Fenster auch anderen Orten als den Wohnungen der Menschen gewidmet? Ich denke dabei zum Beispiel an Seniorenheime oder Krankenhäuser.
Die Menschen sprechen oft über diese Orte, wenn ich sie frage, welche Fenster sie in ihrem Leben beeindruckt haben. Krankenhäuser werden dann oft genannt, genauso wie Seniorenheime, als sie dort zum Beispiel jemanden besucht haben. Aber genauso stark wirken die Fenster der Büros, in denen die Menschen arbeiten. Ich glaube, dass die Aussicht aus dem Fenster die Leistung und das ganzheitliche Gefühl der Menschen am Arbeitsplatz stark beeinflusst. Den einen inspiriert das Fenster, den anderen stört es, aber es ist interessant, wie stark das ausgeprägt ist.
Hast du festgestellt, dass sich die Beziehung des Menschen zum Fenster im Laufe des Lebens irgendwie verändert?
Bestimmt, und das ist auch eine meiner Schlussfolgerungen. Einen bestimmten Zeitabschnitt lang passt es dir, dass du die Stadt hörst oder dass du den Menschen vom Souterrain aus auf die Füße schauen kannst. Und dann wieder willst du die Welt von oben sehen und so ein kostenloses Gefühl von Macht haben, bei dem dir alle Probleme ganz einfach erscheinen. Mein Ziel ist es, an den Geschichten konkreter Leute zu zeigen, wie sie damit arbeiten.
Und was geschieht dann weiter mit den Fenstern, wenn du dein Buch und deine Dissertation abgeschlossen haben wirst?
Ich mag es, wenn sich alles, was man macht, zu einem größeren sinnvollen Ganzen zusammenfügt. Wenn das Buch fertig ist, dann möchte ich statt einer Lesung lieber verschiedene leer stehende Räumlichkeiten mit interessanten Fenstern zugänglich machen. Die Bücher würden dann dort zur Verfügung stehen, die Leute könnten sie lesen und dann vielleicht aus einer etwas anderen Perspektive nach draußen schauen.
Meine weitere Vision ist dann die Schaffung spezieller Orte – ich würde sie „window retreats“ nennen. Dort könnten die Menschen kreieren, was sie gerade möchten. Verschiedene Typen von Aussichten inspirieren nämlich zu verschiedenen Tätigkeiten und jeder Raum ist für eine bestimmte Tätigkeit vollkommen. Einige dieser „window retreats“ wären dynamisch, andere hingegen statisch, offen, aber auch geschlossen. Im Grunde genommen wäre das eine Art kreatives Asyl. Oft muss man nämlich nur irgendwohin, um sich zu beruhigen und allein zu sein, und ein Fenster kann einem so etwas auf jeden Fall geben.