Aids, Krebs oder Läuse…?

© Verlag Walter de GruyterFoto: © Janika Rehak
In der Regel gut gefüllt und für alle Eventualitäten gerüstet: die Hausapotheke eines Hypochonder. Foto: © Janika Rehak

Hypochonder werden gerne belächelt. Doch die Angst, ernsthaft erkrankt zu sein, ist für die Betroffenen alles andere als lustig. In besonders schweren Fällen, sind Hypochonder tatsächlich ernsthaft krank – allerdings nicht auf körperlicher Ebene, wie sie befürchten.

Die allererste Bekanntschaft mit dem Phänomen namens Hypochondrie machte ich in der dritten Klasse – und lernte es gleich als eine Art Kollektivphänomen kennen. Eine Mitschülerin kraulte einer anderen in der Pause die Haare und sprang dann plötzlich kreischend zurück: „Igitt! Du hast ja Läuse!“ Das angeblich verlauste Mädchen bekam einen hysterischen Schreikrampf und musste nach Hause geschickt werden.

Im Laufe der folgenden Stunde hoben sich diverse Finger – aber keineswegs, um etwas zum Thema beizutragen: „Frau Lehrerin? Bei mir juckt‘s…!“ – „Ja, bei mir auch!“ – „Und bei mir!“

Auch mir behagte die Vorstellung von kleinen Krabbelviechern auf der Kopfhaut überhaupt nicht. Und ohne es zu merken, begann auch ich mich zu kratzen. Der Unterricht für diesen Tag war jedenfalls gelaufen.

Alles nur Einbildung (?)

Im alltäglichen Sprachgebrauch bezeichnet Hypochondrie die Neigung, sich alle möglichen Krankheiten einzubilden, ohne dass dafür ein Befund auf organischer Ebene vorliegt. Der Betroffene neigt zu einer verstärkten Selbstbeobachtung und interpretiert kleinste körperliche Signale sofort als Symptom einer schweren Krankheit, zum Beispiel Krebs oder Aids. So wird aus dem leichten Kopfschmerz in der Vorstellung des Betroffenen prompt ein Gehirntumor und ein leichtes Sodbrennen nach dem Essen weist wenigstens auf Gallensteine hin, wenn nicht gar auf Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium.

Häufig beginnt dann eine Odyssee von einem Arzt zu nächsten. Wenn dieser auf körperlicher Ebene nichts feststellen kann, so ist das für den Patienten nicht etwa eine Beruhigung: Vielmehr wird eine solche Diagnose als Beweis für die Unfähigkeit der Ärzteschaft ausgelegt. Frei nach dem Motto: „Ich spüre doch, dass da etwas ist, also muss da auch etwas sein!“

Ich kenn‘ da wen, da war es Krebs…!

© Verlag Walter de GruyterDas fehlende Vertrauen in die Kompetenz des behandelnden Arztes führt oft dazu, dass Betroffene sich selbst „informieren“ und manchmal mit frei verfügbaren Medikamenten auch selbst „therapieren“. Hypochondrisch veranlagte Menschen sind oft wahre Experten darin, Krankheitssymptome zu „erkennen“ und zuzuordnen. Musste früher der Psychrembel, ein umfassendes medizinisches Nachschlagewerk, bemüht werden, so reicht heute oft schon eine kurze Google-Suche. Ärzte raten von dieser Art der Informationsbeschaffung im Internet dringend ab, und das mit guten Grund: Inzwischen hat sich als Folge dessen nämlich eine neue Form vom Hypochondrie entwickelt: die Cyberchondrie. In diversen Foren treffen sich vermeintliche Patienten und tauschen sich über ihr Leiden aus. Chronischer Husten, Blässe, Unterleibsschmerzen: für jede Symptomuntergruppe ist hier etwas dabei – und es findet sich unter Garantie auch jemand, der mit traumwandlerischer Sicherheit die dramatische Verdachtsdiagnose Krebs in den Raum stellt: „Ich will hier ja niemanden beunruhigen“, heißt es dann, „ aber der Onkel meines besten Kumpels hatte das auch und bei dem hat man dann einen Tumor im Lungenflügel gefunden, groß wie eine Orange…!“.

Ein Abgleich der Symptome mit Internetseiten, egal wie seriös diese aufbereitet sein mögen, kann jedoch keineswegs den Arztbesuch ersetzen. Aber meistens ist man da ja schon gewesen - und der Doc hat ohnehin keine Ahnung! Oder man bekommt im Netz bestätigt, was man ohnehin schon zu wissen glaubte: Man ist sterbenskrank. War ja klar. Also wozu noch Zeit bei Ärzten verschwenden, die einem ohnehin nicht mehr helfen können?

Hypochondrie – nichts zum Lachen!

Hypochondrisch veranlagte Menschen werden gerne mal belächelt, sie werden als Simulanten verschrien oder gelten als Sensibelchen, die sich und ihre Wehwehchen eindeutig zu ernst nehmen – und die deshalb wiederum niemand mehr ernst nehmen kann. Auch bei Ärzten sind sie alles andere als beliebte Patienten: Sie stehen ständig mit irgendwelchen neuen Zipperlein auf der Matte, haben längst ihre eigene Diagnose gestellt und manchmal sogar in Form eines ausgedruckten Wikipedia-Artikels gleich mitgebracht.

Wenn sie nicht so tragisch wäre, könnte Hypochondrie ja tatsächlich lustig sein. Das Heimtückische an einer hypochondrischen Störung ist jedoch, dass der Patient sich seine Schmerzen keineswegs „nur“ einbildet, sondern dass ebendiese Schmerzen in seiner Wahrnehmung tatsächlich da sind. Die Betroffen haben tatsächlich Kopf- oder Bauchschmerzen, ein Stechen in der Herzgegend oder ein Ziehen im Unterbleib.

Natürlich war nach dem „Läusevorfall“ bei meiner Mitschülerin auch keineswegs die ganze Klasse von einem Moment auf den anderen verlaust. Trotzdem spürte jeder von uns den Juckreiz ganz deutlich – mich eingeschlossen.

Foto: Gilles San Martin, CC BY-SA 2.0
Weibliche Kopflaus, Foto: Gilles San Martin, CC BY-SA 2.0

Die Gesundheit im Blick haben? Ja, aber in Maßen!

Den eigenen Körper und die Gesundheit im Blick zu haben, ist sicherlich in Ordnung. Und auch die Neigung sich zu sorgen an der seltenen, unheilbaren Krankheit zu leiden, über die man gerade in einer Zeitschrift gelesen hat, ist durchaus noch im Rahmen des „Normalen“.

Problematisch wird es, wenn die Selbstbeobachtung zum Zwang wird und die Angst vor Krankheiten den Alltag bestimmt. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) liegt eine hypochondrische Störung dann vor, wenn die Angst, an einer schweren Krankheit zu leiden, an den meisten Tagen der Woche auftritt, über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten.

Tatsache ist, dass aus einer hypochondrischen Störung tatsächlich eine Krankheit werden kann, wenn auch nicht auf der physischen, sondern auf der psychischen Ebene. In schweren Fällen kann daher eine Psychotherapie sinnvoll sein, manchmal auch unterstützt durch die Beigabe von Medikamenten.

Und die Läuse…?

Übrigens: Der Läusevorfall in unserer Klasse war gar keiner. Vermutlich hatte sich besagte Schülerin auf dem Pausenhof irgendein Käferchen eingefangen, das in ihren Haaren herumkroch und versehentlich mit einer Laus verwechselt wurde.

Trotzdem: Ich selbst ärgerte mich noch bis zum Schlafengehen mit dem lästigen Kopfjucken herum. Und als ich meinen Eltern beim Abendessen von dem „Läusefall“ erzählte, fingen sie prompt auch an, sich zu kratzen. Und das, obwohl mein Vater, seit Jahrzehnten mit einer Glatze geschlagen, doch gar keine Haarpracht mehr hatte, in der eine Laus sich hätte häuslich niederlassen können…


Copyright: Goethe-Institut Prag
Mai 2013

    Themen auf jádu

    Gemischtes Doppel | V4

    Vier Kolumnisten aus der Slowakei, Tschechien, Polen und Ungarn schreiben über die Bedeutung Europas, Rechtspopulismus, nationale Souveränität, gesellschaftlichen Wandel, die Arroganz des westlichen Blicks – und brechen damit staatliche und gedankliche Grenzen auf. Mehr...

    Heute ist Morgen
    Oder ist es umgekehrt?! Und war nicht auch gestern schon mal Morgen? In was für einer Welt wollen wir gerne leben? Und wie lange wollen wir warten, bis sie Wirklichkeit wird? Mehr...

    Im Auge des Betrachters
    … liegt die Schönheit. Da liegt aber auch die Hässlichkeit – und alles dazwischen. Als Betrachter sind wir jedoch nur selten allein. Und als Betrachtete sowieso nicht. Mehr...

    Dazugehören
    Seit gesellschaftliche Akteure jeder Couleur ihre Forderung nach Integration einem Mantra gleich herunterbeten, gerät viel zu oft in Vergessenheit, dass Integration ein individueller Prozess ist, der auch von uns selbst etwas verlangt. Mehr...

    Themenarchiv
    Ältere jádu-Schwerpunkte findest du im Themenarchiv. Mehr...