Österreich: Kleine aufstrebende Szene mit feinen Comics


© Ulli Lust
Für das Spring-Magazin, © Ulli Lust

Unter dem Eindruck der steigenden Popularität von Graphic-Novels hat auch die bescheidene österreichische Comicszene einen beachtenswerten Aufschwung erlebt.

Ulli Lust: Heute ist der letzte Tag vom Rest deines LebensBemerkenswert ist dabei, dass zwei der international bekanntesten Zeichner, Nicolas Mahler und Ulli Lust, auf je unterschiedliche Weise einen Umweg übers Ausland beschritten haben. So konnte Mahler bereits lange zuvor in Frankreich und Canada Erfolge erzielen, bevor er in Österreich wahrgenommen wurde. Die gebürtige Wienerin Lust hingegen hat ihre zeichnerische Laufbahn im Umfeld der Berliner Comicszene begonnen.

Erster Zeitungsstrip in Österreich


Dabei genoss der Comic in Form des Zeitungsstrips in Österreich bereits in der Frühzeit des Mediums einmal eine erstaunliche Popularität. In den 1930er Jahren schuf der Zeichner Ladislaus Kmoch alias Ludwig Kmoch (1897-1971) die Comicfigur Tobias Seicherl mit Hund Struppi. Der erste Tagesstrip dazu erschien zwischen 1930 und 1939 in der österreichischen sozialdemokratischen Boulevardzeitung Das Kleine Blatt (zwischen 1958 und 1961 sporadisch in unterschiedlichen Zeitungen). Die Figur Seicherl besaß besonders in den ersten Jahren als Verkörperung des dumpfen Nazisympathisanten, dem Struppi als Hund mit Hausverstand gegenübergestellt, politische Brisanz. Eine besondere Note erhält der Strip dadurch, dass er im Wiener Dialekt verfasst ist.

Comicstrips sind in heutigen österreichischen Zeitungen kaum zu finden. Neben Rudi Kleins Der Lochgott in der österreichischen Tageszeitung Der Standard ist Thomas Kriebaums Gustl in der Wiener Obdachlosenzeitung Der Augustin zu nennen. Dieselbe Zeitung stellt die Rückseite des Blattes der Malerin Magdalena Steiner für ein außergewöhnliches Comicprojekt zur Verfügung: Seit 2007 setzt Steiner hier in collageartigen Bild-Text-Tafeln Hauptwerke der Weltliteratur um. Nach Robert Musils Mann ohne Eigenschaften und James Joyces Ulysses befasst sich die Zeichnerin seit Anfang 2012 mit dem Roman Die Schwerkraft der Verhältnisse der österreichischen Schriftstellerin Marianne Fritz.

Die Stars der österreichischen Szene


MOFF. Haderers feines Schundheftl. © WikipediaDer Linzer Karikaturist Gerhard Haderer, der auch Comics zeichnet, gehört zu den international bekannten Zeichner-Koryphäen Österreichs. Sein Bekanntheitsgrad als Karikaturist trägt dazu bei, dass Haderer (im Gegensatz zu anderen ZeichenkollegInnen) auch als Comiczeichner Aufmerksamkeit genießt. Hätte ihn sein 2002 erschienener Comic Das Leben des Jesus nicht ohnedies in die Schlagzeilen gebracht. Das unorthodoxe Bild eines ausschweifenden Jesus als Hippie wurde nicht nur von Österreichs katholischer Kirche als heftige Provokation aufgenommen, in Griechenland wurde der Autor 2005 wegen Verletzung religiöser Gefühle zu sechs Monaten Haft verurteilt, bevor das Urteil knapp drei Monate später allerdings aufgehoben und Haderer freigesprochen wurde. Zwischen 1997 und 2000 sowie seit 2008 bringt der Zeichner unter anderem auch ein eigenes Comicheft zu aktuellen Themen des Alltags heraus: MOFF. Haderers feines Schundheftl.

Nicolas Mahler, der zuletzt dreimal in Folge mit dem Max-und-Moritz-Preis ausgezeichnet wurde, ist zweifellos der international bekannteste österreichische Zeichner. Unverwechselbar sind sein sparsamer Strich und seine Figuren ohne Augen, Ohren und Münder, doch mit desto ausgefalleneren Frisuren. Mahlers Comics sind über ihren eigentümlichen Humor und Witz hinaus stets feinsinnige Studien menschlicher Verhaltensweisen. Die Palette seiner Comics reicht u.a. von Autobiografie (Kunsttheorie versus Frau Goldgruber), Humor-Zeichnung (Das Unbehagen), Genreparodie (Engelmann: Der gefallene Engel) bis Comicadaption (Thomas Bernhards Alte Meister). Seine Flaschko-Reihe wurde als Trickfilme, sein Comic Kratochvil als Marionettenstück adaptiert.

Schlagartig bekannt wurde die in Berlin lebende Comicautorin Ulli Lust 2009 mit ihrem rund 450 Seiten umfassenden autobiografischen Comicroman Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens, der in den deutschsprachigen Feuilletons als Sensation gefeiert wurde. Das Erzählen steht in diesem Comic im Vordergrund, in dem es um eine Jugendeskapade mit einschneidenden Folgen geht. Bezeichnend für ihre Zeichnungen mit Bleistift ist ein dokumentarisches Gespür, das die Online-Verlegerin zuvor auch in kleineren Comicarbeiten zum Ausdruck brachte.

Wichtige Vertreter der heimischen Comicszene

©  Leopold Maurer: Mann am Mars
Mann am Mars, © Leopold Maurer


Einen markant eigenen Zeichenstil prägen die Comics des Grazer Zeichners Jörg Vogeltanz, der in Zusammenarbeit mit verschiedenen Autoren (zuletzt Thomas Ballhausen) mehrere Bände Anger Diaries vorgelegt hat. In ganz anderer Weise schafft die Künstlerin Linda Bilda mit ihren sperrigen Comics seit Mitte der 1980er Jahre (versammelt in Keep it real) ein eigenes Universum ästhetischer Zeichen, die um die Analyse von Geld, Macht und Politik kreisen.

In jüngster Zeit sind es Zeichner wie Leopold Maurer und Michaela Konrad, die die Aufmerksamkeit auf sich lenken konnten. Maurer hat zwei Comics (Miller & Pynchon und Mann am Mars) vorgelegt, die mit klaren Linien eine eigene Sprache voll absurdem Witz sprechen. Stilistisch und technisch sticht Die Mondwandler der Künstlerin Konrad, eine Fortsetzung des Multimediaprojekts Spacelove, aus der österreichischen Comiclandschaft hervor. Die aus Original-Zitaten von Astronauten komponierte Erzählung einer Mondreise ist ein atemberaubender Comic über die Kunst des Staunens.
Zu den erstaunlichsten Comicarbeiten gehören die experimentellen Text-Bild-Geschichten der Autorin Brigitta Falkner, die in der Comicszene allerdings bisher kaum Beachtung gefunden haben. Unter Verwendung von Lipogrammen, Palindromen, Anagrammen etc. organisiert die Autorin ihre Texte strengen experimentellen Regeln gemäß und kombiniert sie mit ihren klar liniierten Zeichnungen.

Comicmagazine, Verlage, Festivals und Ausbildungsstätten

Neben Murmel (Wien) oder Unkraut (Linz) ist das Grazer Comicmagazin Tonto von Edda Strobl und Helmut Kaplan hervorzuheben, das vor allem auch durch sein Konzept, seine Beiträge (vornehmlich auch von internationalen Zeichner) thematisch und formal zu einem Gesamtkunstwerk zu orchestrieren, überzeugt. Seit 2009 gibt es das TV-Magazin Comicinsel auf Okto.tv.
Einen dezidierten Comicverlag, von Eigenverlagen abgesehen, gibt es in Österreich nicht. Nur wenige Verlage bringen auch Comics heraus: der Luftschacht Verlag oder Milena, eine umso wichtigere Funktion erfüllt daher der Vertrieb Pictopia.

Seit 2009 freut sich die österreichische Comic-Szene über ein eigenes international ausgerichtetes Comicfestival, NextComic, das seither jährlich in Linz stattfindet. Erwähnenswert ist ebenso das Wiener Kabinett für Wort und Bild, begründet von Rudi Klein, Nicolas Mahler, Heinz Wolf, inzwischen als Passage im Museumsquartier der Stadt betrieben. Seit Kurzem kann man in Österreich Comic auch als Fach studieren: Seit 2009 an der kunstschule.at und seit 2010 an der Zeichenfabrik.
Martin Reiterer
Studium der Germanistik und Philosophie in Wien und Berlin, mehrere Jahre Universitätslektor in Polen und Großbritannien, lebt in Wien.

Copyright: Goethe-Institut e. V., Internet-Redaktion
März 2012

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