Ich kenn dich nicht, komm, koch mit mir!

Foto: © Foto: © Janna Degener
Drei jumpingdinner-Mitesser von jádu-Autorin Janna, Foto: © Janna Degener

Drei Gänge in drei Wohnungen mit vielen unbekannten Menschen, das ist die Grundidee des „blinden Abendessens“. Anmelden kann sich jeder, der gerne kocht und neue Leute in seiner Stadt kennenlernen möchte.

Etwas seltsam ist das schon, dass ich gleich mit einem wildfremden Mann einen Auflauf kochen werde, denke ich mir noch, während ich mich in den vierten Stock einer Berliner Altbauwohnung schleppe. Doch dann läuft alles wie am Schnürchen: Florian entpuppt sich als sympathischer Typ und wirft auch gleich den Gasherd an. Ich schnipple Kartoffeln und Zucchini, er brät ein paar Scheiben Kassler an. Das fertige Menü muss dann noch zwei Stunden im Backofen warten. Denn jetzt machen wir uns erst mal auf den Weg zu unserer Vorspeise, die Mäx und Christine einige Straßenblöcke weiter für uns und vier weitere unbekannte Gäste vorbereitet haben.

Drei Gänge, drei Wohnungen

Unser heutiger Abend ist exakt durchgeplant: Um 17.20 Uhr gibt es gefüllte Champignons und Tomatensuppe im Berliner Stadtteil Schöneberg, um 19.45 Uhr folgt der Hauptgang bei Florian im benachbarten Wilmersdorf, um 22 Uhr erwarten uns Tiramisu und Wassermelone bei Paolo in Prenzlauer Berg. Und ab Mitternacht folgt dann das Come Together in einer Friedrichshainer Bar, wo wir alle Esspartner wiedertreffen werden. Wir selbst haben uns nur auf der Website jumpingdinner.de angemeldet, für die Organisation des Abends war Philip Peterich zuständig. Seit etwa zehn Jahren sorgt er dafür, dass Freunde der Kochkunst gesellige Abende mit Menschen verbringen, die sie nie zuvor gesehen haben.

„Ich habe früher mit Freunden häufiger gemeinsame Kochabende organisiert und hatte dann Idee, dass man so etwas auch in größerem Rahmen veranstalten könnte“, hat Philip mir am Telefon erzählt. Inzwischen könne er seinen Lebensunterhalt sogar von den Beiträgen der Teilnehmer bestreiten, denn jedes Jahr nehmen bundesweit rund 3.000 Menschen teil und jeder einzelne davon zahlt dafür 26 Euro an Philip. Doch die Zahl derjenigen, die sich dann und wann für ein „blindes Abendessen“ entscheiden, ist noch viel höher: Neben jumpingdinner.de gibt es ähnliche Angebote, wie Flying Dinner, Running Dinner oder Rudi rockt, die zum Teil kostenlos sind.

Unzählbar viele Eindrücke

Unter den zwölf Leuten, mit denen ich heute Abend diniere, sind Neugierige und welche, die zum wiederholten Mal mitmachen. Es werden Geschichten erzählt über Gastgeber, die zur Vorspeise nur eine Dose Mais hatten, oder sozial inkompetente Kochpartner, die das Event als Datingplattform verstehen. Doch ich habe Glück und erlebe mein blindes Abendessen als einen spannenden Blick hinter die grauen Fassaden der Berliner Wohnhäuser: Das Menü beginnt in der schicken Maisonette-Wohnung eines Architekten und endet im schlichten Wohnheimzimmer eines Radiologie-Doktoranden.

Ich spreche mit einer 22-jährigen Studentin, die auf einen Masterplatz in Berlin hofft, und lasse mich von einem graumelierten Postmitarbeiter im Dienstwagen zum Abendessen bringen. Ich lerne eine Tierärztin kennen, die ihr Gehalt lange Zeit mit Arbeitslosengeld II aufstocken musste und einen Wirtschaftsjournalisten, dessen Freundin in Kiew lebt und sich gerade gegen den russischen Pass entschieden hat. Im Laufe des Abends erfahre ich außerdem, dass es in Kasachstan unterirdische Kaufhäuser gibt, dass es im Berliner Tanzlokal Clärchens Ballhaus einen 90-jährigen Türsteher gibt und dass Altkleiderspenden entgegen meiner Annahme doch nicht der Textilindustrie in Afrika schaden. Ich habe viel Spaß dabei, weil meine Gastgeber sich rührend um das Wohl ihrer Besucher kümmern, und ich nehme sogar jede Menge toller neuer Rezeptideen mit nach Hause. Fazit: Ein rundum gelungener Abend.

Janna Degener

Copyright: jádu / Goethe-Institut Prag
September 2014

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