Im Widerschein des Niedergangs der Mittelschicht

Pavel Baloun, www.socsol.czWo früher eine antirassistische Veranstaltung stattfand, stehen nun Teilnehmer einer Antiromademonstration. Sommer 2013, Budweis, Südböhmen. © Pavel Baloun, www.socsol.cz

Wo früher eine antirassistische Veranstaltung stattfand, stehen nun Teilnehmer einer Antiromademonstration. Sommer 2013, Budweis, Südböhmen. © Pavel Baloun, www.socsol.cz

Anti-Roma-Demonstrationen fanden in diesem Jahr an mehreren Orten in der Tschechischen Republik statt. Es waren nicht nur Rechtsextremisten und ihre Anhänger, die daran teilgenommen haben, sondern auch so genannte „normale“ Bürger. Was treibt sie dazu, auf die Straße zu gehen, und worin besteht das Problem im Zusammenleben zwischen der Mehrheit und dieser Minderheit?

Die Kneipe Bivoj befindet sich in einem Stadtteil von Havířov mit einem hohen Anteil an armen Roma-Familien. Solche sozial „abgeschriebenen“ Problemviertel sind in den letzten Jahren immer häufiger Zielscheibe für Hass-Märsche geworden. Mitte Oktober wurde hier allerdings ein anderes Programm veranstaltet. Die hiesigen Roma haben sich in bisher nie gesehener Zahl auf den Weg zur Wahlveranstaltung der Partei der Bürgerrechte - Zemanovci (SPOZ) [Zeman-Anhänger, Anm. d. Red.] gemacht, für die bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus Noch-Innenminister Martin Pecina kanditierte.

Gerade Pecina wurde von seinen Parteikollegen als Held dargestellt, der als einziger fähig sei, den Roma mehr Sicherheit zu gewährleisten, Sicherheit, die für sie unabdingbar ist. Während andere nur reden, handelt Pecina, hieß es. Als Innenminister habe er sich nämlich angeblich um das Verbot der Partei Dělnická strana (DS), der rechtsextremen Arbeiterpartei, verdient gemacht, deren Mitglieder viele gewaltsame Demonstrationen in den verwahrlosten Problemvierteln initiiert haben – und einige ehemalige Mitglieder dieser Gruppierung, fahren damit fort. Daher kann nur SPOZ – so präsentierten sich die Kandidaten dieser Partei im Wahlkampf – den Roma eine Lösung für die „Missklänge zwischen der Mehrheit und der Roma-Gemeinschaft“ garantieren, wie sie die rassistischen Übergriffe auf die Roma nannten.

Verzweifelt über die feindliche Stimmung in der gesellschaftlichen Entwicklung, belohnten die anwesenden Roma die Redner mit begeistertem Applaus. Auch sie haben Erfahrung mit Hass und Gewalt gemacht, und zwar direkt in ihrer Siedlung. Vor einigen Jahren hielten hier zwei Autos an, eine Gruppe von Männern sprang heraus und überfiel einen willkürlich ausgesuchten Rom und fügten ihm derartige Verletzungen zu, dass er ohne eine zügige Behandlung den Überfall ziemlich sicher nicht überlebt hätte. Genauso abschreckend wirkte der zu trauriger Berühmtheit gelangte Brandanschlag im nah gelegenenen Vítkov. Damals erlitt die zweijährige N. Siváková Verbrennungen an über 80 Prozent ihres Körpers.

Die Plattenbausiedlung Máj in Budweis. © Pavel Baloun, www.socsol.cz

Die Plattenbausiedlung Máj in Budweis. © Pavel Baloun, www.socsol.cz

Die Anti-Roma-Demonstrationen bewirken ein fatales Gefühl der Entfremdung und ein wachsendes Misstrauen ihrer Opfer in die tschechische Gesellschaft. Und das vor allem in einer Situation, in der sich den Protesten Leute anschließen, die im Grunde keinerlei direkte Verbindung zu rechtsextremen Kreisen haben. In der öffentlichen Debatte haben sich für diese Menschen die Bezeichnungen „normale Bürger“ oder auch „anständige Leute“ eingebürgert.

Rechtsextreme und „anständige Leute“ gemeinsam gegen Roma

Die Demonstrationen der Rechtsextremen in den sozial abgeschriebenen Problemvierteln haben eine recht lange „Tradition“. Um das Jahr 2007 wurden sie eingeführt von der heute nicht mehr existierenden Národní strana, der Nationalpartei, die in der Vergangenheit ähnlich erfolglos in den Wahlen war wie die Arbeiterpartei (DS). Damals gingen die Demonstrationen allerdings noch gewaltlos über die Bühne. Das änderte sich mit dem Protest „Gegen positive Diskriminierung und Polizeigewalt“, der am 17. November 2008 von der DS in Janov, einem Viertel des nordböhmischen Litvínov, veranstaltet wurde. Die Medien tauften den Protest mit Blick auf die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Aktivisten und der Polizei „Schlacht um Janov“. Der noch etwas interessantere Apekt war allerdings die Unterstützung der rechtsradikalen DS durch einige Vertreter der Mehrheitsgesellschaft. Gerade sie hatten den Hauptanteil an der Organisation der späteren Protest-Treffen und der Anti-Roma Ausfälle im Schluckenauer Zipfel, die durch die Polizei gestoppt werden mussten.

Bisher gibt es noch keine Untersuchungen, die die Gründe für die Beteiligung dieser „normalen Bürger“ an den Hass-Demonstrationen beleuchtet haben. Einige Soziologen haben jedoch darauf hingewiesen, dass die negative Haltung gegenüber Roma, dieser am wenigsten beliebten Bevölkerungsgruppe, im Wesentlichen auf dem gleichen Niveau bleibt. Das, was sich verändere, seien die immer tiefer gehende Unsicherheit und ein Niedergang von Teilen der Mittelschicht. Es ist also recht wahrscheinlich, dass sich gerade aus dieser Gruppe die Teilnehmer der Proteste rekrutieren. Für sie haben die Roma die Funktion des berüchtigten Sündebocks, eines Objektes, an dem sich jene Frustration entlädt, die aus der problematischen Situation der Mittelschicht herrührt.

Die „Übervorteilung der Parasiten“ und die Unzufriedenheit der arbeitenden Armut

Im Allgemeinen werden die Roma in Tschechien beschuldigt, sie seien die Parasiten der Gesellschaft – man wirft ihnen vor, sie würden die Sozialleistungen missbrauchen, ja sogar eine ganz spezielle Art dieser staatlichen Unterstützung einstreichen. Natürlich ist das Phantasie, denn solche Sozialleistungen gibt es nicht – mit Ausnahme der eingeschränkten Unterstützung für Mittelschüler und Hochschulstudenten aus der Roma-Minderheit. Auch die Arbeitslosigkeit unter den Roma hat ihre Gründe vor allem darin, dass keine adäquaten Arbeitsplätze zur Verfügung stehen.

Zum Glück gab es auch einige antirassistische Demos. © Pavel Němeček, A2

Zum Glück gab es auch einige antirassistische Demos. © Pavel Němeček, A2

Das Märchen von der „positiven Diskriminierung der Roma“ erteilt uns dennoch eine wichtige Lektion. Sie verweist auf die Unzufriedenheit eines Teils der Bürger, eine Unzufriedenheit, die durch eine Prekarisierung der Arbeit, das Sinken der Reallöhne und die Ausbreitung von Teilzeitbeschäftigung entstanden ist. Soziologen bezeichnen diese Gruppe von Menschen, denen die Arbeit nicht das nötige Einkommen für den täglichen Bedarf sichert, als die arbeitende Armut. Die Vorstellung, dass Roma auf Kosten der anderen faulenzen, liegt dann sehr nahe. Eine Reihe von Reportagen von den Orten, an denen die Hass-Märsche stattfinden, hat gerade auf diese allgemeine Unzufriedenheit hingewiesen, die auch jene zum Mitmarschieren gebracht hat, die sich von den Aktivitäten der Rechtsextremen eher fernhalten. Die Rechtsextremen werden in der Öffentlichkeit in etwa ähnlich negativ gesehen wie die Roma.

Trostpflaster Null-Toleranz

Damit soll allerdings nicht gesagt werden, dass Anti-Ziganismus nur eine Ausdruckform gesellschaftlicher Frustration ist. Auch wenn diese Frustration die Situation zweifellos befeuert, so sind doch Vorurteile und Stereotypen gegenüber Roma in der tschechischen Gesellschaft tief verwurzelt. Davon zeugt unter anderem auch, welche Strategie sich die kommunale Selbstverwaltung an vielen Orten nach den Anti-Roma-Protesten zurecht gelegt hat. Anstatt sich an die Lösung der Probleme wie Wohnungssituation und Arbeitslosigkeit zu machen, wurde das „Null-Toleranz-Motto“ ausgerufen, das zum Ziel hat, Roma aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen und die Kontrolle durch Polizei und Sozialarbeiter zu erhöhen. Einige Meldungen sprechen direkt von einer Schikane der Roma jenseits aller Gesetze.

Eine Reportage von „Čhikatar het / Z bahna ven“ in Duchcov in Nordböhmen. Diese Veranstaltung stellte sich gegen rassistisch geladene Demonstrationen.

Falls dem tatsächlich so ist, dann wäre das zweifellos ein Sieg der Rechtsextremen, denn gerade ihre Ideologie beruht darauf, die Bürger in verschiedene Kategorien oder Klassen einzuordnen. Die „Null-Toleranz“ verstärkt das Misstrauen der Bürger untereinander und verhindert auf diese Weise die Erarbeitung einer sinnvollen Lösung. Das kann nur ein Eindämmen der ethnischen Diskriminierung sowie eine Reduzierung der Armut leisten, einer Armut, an der beide Seiten dieses Konfliktes leiden. Es ist offensichtlich, dass eine solche Lösung über das schlichte Nachdenken über „Missklänge“ im Zusammenleben der Ethnien hinaus gehen muss.

Der Autor hat Sicherheits- und Strategiestudien an der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Masaryk-Universität in Brno (Brünn) studiert. Gegenwärtig absolviert er ein Aufbaustudium der Politologie an derselben Fakultät. In seiner Dissertation untersucht er die Bedeutung von Sicherheit im Zusammenhang mit sozial abgeschriebenen Vierteln. Dafür führt er Langzeit-Feldforschungen durch und veröffentlicht zu diesem Thema Fachbeiträge.

Václav Walach
Übersetzung: Christian Rühmkorf

Copyright: jádu / Goethe-Institut Prag
November 2013

    Themen auf jádu

    Gemischtes Doppel | V4

    Vier Kolumnisten aus der Slowakei, Tschechien, Polen und Ungarn schreiben über die Bedeutung Europas, Rechtspopulismus, nationale Souveränität, gesellschaftlichen Wandel, die Arroganz des westlichen Blicks – und brechen damit staatliche und gedankliche Grenzen auf. Mehr...

    Heute ist Morgen
    Oder ist es umgekehrt?! Und war nicht auch gestern schon mal Morgen? In was für einer Welt wollen wir gerne leben? Und wie lange wollen wir warten, bis sie Wirklichkeit wird? Mehr...

    Im Auge des Betrachters
    … liegt die Schönheit. Da liegt aber auch die Hässlichkeit – und alles dazwischen. Als Betrachter sind wir jedoch nur selten allein. Und als Betrachtete sowieso nicht. Mehr...

    Dazugehören
    Seit gesellschaftliche Akteure jeder Couleur ihre Forderung nach Integration einem Mantra gleich herunterbeten, gerät viel zu oft in Vergessenheit, dass Integration ein individueller Prozess ist, der auch von uns selbst etwas verlangt. Mehr...

    Themenarchiv
    Ältere jádu-Schwerpunkte findest du im Themenarchiv. Mehr...