Migration im Kreis

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Der deutsch-kosovarische Lehrer Muhamet Idrizi: „Jede Erfahrung der Migration kann genutzt werden.“ Foto: © privat

Vor allem nach den Jugoslawienkriegen fanden viele Kosovaren Zuflucht in Deutschland. Viele von ihnen begannen später, an Aufbau und Entwicklung ihres Heimatlandes mitzuwirken. Die kreisförmigen Migrationsbewegungen zwischen Deutschland und dem Kosovo zeigen, dass von der Migration beide Länder profitieren.

In einem schattigen Gartenrestaurant im kosovarischen Ort Prizren sitzt der 31-jährige Jetmir mit zwei älteren deutschen Pfarrern, den Zwillingsbrüdern Karl und Günther, bei gegrilltem Fisch und kosovarischem Bier. Jetmir Krasniqi, 31, ist im Kosovo geboren, lebt in Deutschland und begleitet Karl und Günther Berger auf ihrer Reise in den Kosovo und nach Albanien. Die Brüder recherchieren hier Dokumente der Kirchengeschichte und vertiefen eine Kirchenpartnerschaft.

„Ich kam als 15-jähriger nach Deutschland, wir flohen vor dem Krieg“, erzählt Jetmir. „Schule war erst einmal ein Schock, ganz ohne Sprachkenntnisse. Ich wurde automatisch der Hauptschule zugeordnet und schien nicht allzu gute Perspektiven zu haben.“ Dass Jetmir heute, nach einer erfolgreichen Berufsausbildung, studiert, sei primär Karl und Günther zu verdanken, sagt er. Sie unterstützten die Kinder von Asylbewerbern in schulischen Dingen, halfen beim Erlernen der Sprache. Heute ist es Jetmir, der seine Urlaubszeit, nicht ohne Geduld und Humor, wiederholt in kosovarischen und albanischen Kirchenarchiven verbringt und die Brüder sprachlich und akademisch bei ihren Reisen unterstützt.

Im Moment lebt Jetmir in Deutschland, kann sich aber gut vorstellen, in den Kosovo zurückzukehren und dort beispielsweise ein eigenes Kleinunternehmen aufzubauen. In jedem Fall aber möchte er intensive Kontakte zu beiden Ländern behalten.

Die Diaspora hält den Kontakt in die Heimat

Die Themen Flucht, Migration, Neuanfang und das Aufbauen von Freundschaften und Netzwerken, die beide Länder umspannen: Der Kosovo hat damit eine langjährige Erfahrung. Etwa 800.000 Kosovaren leben in der Diaspora, zwei Drittel davon in Deutschland und der Schweiz. Eine große Migrationsbewegung entstand in Folge der wirtschaftlichen und politischen Marginalisierung der Kosovo-Albaner in den 1980er und 1990er Jahren und der Aufhebung der Autonomie des Kosovo. Eine weitere Phase verstärkter Migration folgte im Zuge des Kosovokonflikts 1999.

Die Beziehungen der in Deutschland lebenden Kosovaren zum Herkunftsland sind meist sehr rege, umgekehrt zieht es heute noch viele Kosovaren nach Deutschland. Bei der jüngsten Auswanderungsbewegung handelt es sich vor allem um die „temporäre Migration von hoch gebildeten Kosovo-Albanern, die das Land verlassen, um in Europa oder den USA zu studieren.“ Auch die soziale Lage – 34 Prozent der Kosovaren leben in absoluter Armut – ist ein kontinuierlicher Pushfaktor.

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Eine Apotheke in der Nähe der kosovarischen Stadt Mitrovice. Die Verbindungen nach Deutschland sind allgegenwärtig. Foto: © privat

Integrationskraft des Sports

Auf den Straßen des Kosovo sind unzählige Autos mit deutschen oder Schweizer Kennzeichen zu sehen (neben Deutschland ist die Schweiz ein bevorzugtes Zielland); kommt man mit Kosovaren ins Gespräch, wird schnell ins Deutsche gewechselt. Viele halten enge Beziehungen zu beiden Ländern aufrecht, engagieren sich auch sozial und kulturell nicht nur an einem Ort. Ein Beispiel hierfür ist der Realschullehrer Muhamet Idrizi. Muhamet ist Anfang 30, lebt im baden-württembergischen Eppingen und organisiert Bildungsprojekte, die beide Länder umspannen, inspiriert von seiner eigenen Migrationsgeschichte.

Geboren ist er in der kosovarischen Stadt Mitrovica, als Neunjähriger kam Muhamet 1993 mit seinen Eltern in die Landeserstaufnahmeeinrichtung nach Karlsruhe: Die Eltern hatten einen Asylantrag gestellt, da sie als politisch Aktive unter starken Benachteiligungen und Repressalien nach der Autonomieaufhebung im Kosovogebiet durch Milošević zu leiden hatten. Nach der ersten Zeit im Aufnahmelager zog die Familie in eine Kleinstadt auf der schwäbischen Alb, das Einleben wurde durch den örtlichen Elektriker und Fußballtrainer beschleunigt, erinnert sich Muhamet: „Der Elektriker kam bei uns vorbei um etwas zu reparieren, sah mich und fragte meinen Vater, wie alt ich denn sei. Dann zeigte er auf ein Paar Fußbälle – am nächsten Tag stand ich auf dem Feld. Sport – elf Jungs, ein Ball, Tore, gewinnen wollen, fertig ist die Diskussion.“

Lehrer als interkulturelle Multiplikatoren

Neben der Integrationskraft des Sports war es die Schule, in der durch einzelne Lehrerpersönlichkeiten die Weichen für die weitere Entwicklung Muhamets gelegt wurden. Als Flüchtlingskind kam er automatisch auf die Hauptschule. In der Hauptschule zwischen Klasse 7 und 9 hatte Muhamet einen Lehrer, der ihn sehr unterstützt hat – so kam er auf eine weiterführende Schule und machte sein Abitur. Eine andere Lehrerin weckte in der Oberstufe sein bis heute andauerndes intensives Interesse an Politik, Ethik und Deutsch. Seine positiven Erfahrungen mit Pädagogen inspirierten ihn, selbst Lehrer zu werden und andere junge Menschen zu unterstützen.

Heute ist es ihm wichtig, angehende Lehrer auf ihre Aufgabe in der interkulturell geprägten Welt vorzubereiten: Sie sollen Schüler darin unterstützen, sich in unterschiedlichen kulturellen Kontexten zu orientieren und vorbereitet sein auf Erfahrungen außerhalb des ihnen bekannten Rahmens. Hierfür hat er an seiner Schule in Eppingen eine deutsch-kosovarische Lehreraustauschinitiative gegründet. „Meine Vision ist es, langfristig meine Schule zur ersten Ausbildungsschule für Lehramtsstudenten aus dem Kosovo zu machen, die hier Praktika machen können und dann die hier gemachten Erfahrungen wieder bei sich als Multiplikatoren ins Land bringen und so einen kontinuierlichen Austausch zu fördern.“

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Schüler des Gymnasiums Xhuvani im kosovarischen Podujeve nach einem Gespräch mit der deutschen Lehrerelegation aus Eppingen, organisiert von Muhamet Idrizi. Foto: © privat

Zuletzt organisierte Muhamet Idrizi in Kooperation mit Andreas Hemming als Vorstand der Deutsch Albanischen Freundesgesellschaft e.V. (DAFG) eine Tagung an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg zum Thema „Deutsche im Kosovo, Kosovaren in Deutschland: Arbeit, Leben und Bildung im transkulturellen Raum“. Sie soll unter anderem eine Plattform sein, um Best-Practice-Erfahrungen in beiden Ländern auszutauschen. In Anbetracht der aktuellen Flüchtlingssituation plädiert auch der Präsident des Deutschen Lehrerverbands Josef Kraus für eine „multiethnische Schulung“ angehender Lehrer, was ein Projekt wie das von Muhamet Idrizi bereits in kleinerem Rahmen leistet. Ab dem kommenden Schuljahr startet Muhamet außerdem ein Pilotprojekt mit albanischem Sprachunterricht für Schüler mit kosovarischem oder albanischem Hintergrund an seiner Schule, unterstützt vom baden-württembergischen Schulamt.

„Jede Erfahrung der Migration kann genutzt werden.“

Muhamet sieht Migration vor allem als ein kreisförmiges, nicht lineares Konzept, bei dem man immer wieder zum Ausgangspunkt zurückkehrt, Gelerntes nutzt, reflektiert und weitergibt. „Circular migration“, eine Auffassung von Migrationsbewegungen, die ebensolche Dynamiken berücksichtigt, vertritt auch der Wissenschaftler und Kosovoexperte Michael Sauer. Er stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen junge Menschen (temporär) in den Kosovo zurückkehren, um ihr Know-how, das sie erlangt haben, in ihrem Herkunftsland anzuwenden (Michael Sauer (2016): Background Paper on the MLSW’s Circular Migration Approach). In dem Zusammenhang befasst Sauer sich auch, wie Muhamet Idrizi, mit dem Bereich Schule und Ausbildung: „Eine Idee ist, Ausbildungsstandards zu vereinheitlichen und Bildungsangebote aufeinander abzustimmen. Das würde bedeuten, dass ein Wechsel von einem System ins andere leichter wäre. Und natürlich bemühen wir uns allgemein um eine noch bessere Qualität der Bildung.“

Jetmir Krasniqi, die Brüder Karl und Günther und die gegenseitige generationsübergreifende Unterstützung bei Bildung und Forschung, Muhamet Idrizi und die von ihm gegründeten deutsch-kosovarischen Bildungsprojekte, die von Michael Sauer betreute Initiative zur Erleichterung von Circular Migration – all das hat eines gemeinsam: Migration als einen beidseitigen Gewinn betrachten, Individuen und Gesellschaften darin unterstützen, von Migrationsprozessen zu profitieren. Oder, wie Muhamet Idrizi sagt: „Jede Erfahrung der Migration kann genutzt werden.“

Klára Hošková

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April 2016

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