Aus dem Internet in den Stadtrat
Die Piraten wollen die Kommunalpolitik erobern
Seit die Menschen Boote bauen und sich auf das Meer hinaus wagen gibt es sie: Piraten. Bis heute verbreiten sie Angst und Schrecken, aber ebenso speisen sie seit eh und je romantische Legenden von gewaltigen Schätzen, von unerschrockenen Seefahrern, die allen Stürmen zu trotzen wissen, von heldenhaften Kapitänen, in welche sich die entführten, unglaublich hübschen Töchter reicher Zeitgenossen unweigerlich verlieben. Sebastian Beitlich ist ein Pirat der anderen Sorte. Er wagt sich mit seiner Mannschaft in die Niederungen der Gothaer Kommunalpolitik.Piraten ist seit einigen Jahren auch ein Synonym für eine junge politische Partei. Ihre Ursprünge liegen im Internet. Im Jahr 2006 bildete sich in Schweden als Widerstand gegen ein strengeres Urhebergesetz eine Gruppe, die Keimzelle der Piratenpartei. Der vorerst lose Zusammenschluss von verschiedensten Webnutzern verstand sich von Anfang an als eine internationale Bewegung, der sich immer mehr anschlossen. Der Wille, auf politischer Ebene etwas zu bewegen, erzwang die Organisation als Partei. Mit der Namensgebung reagierte sie auf Vorwürfe, dass sie wie die Freibeuter der Meere Eigentum entwendeten, in diesem Fall geistiges Eigentum. Der sensationelle Erfolg der Piraten bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus katapultierte die Partei in Deutschland endgültig ins Zentrum der medialen Aufmerksamkeit.
Aber auch abseits der Hauptstadt und der immer wieder geäußerten bundespolitischen Ambitionen weiten die Piraten derzeit ihre Aktivitäten aus. Sie wollen in den nächsten Jahren auch in der Kommunalpolitik eine wichtige Rolle übernehmen. Dazu braucht es, wie in jeder Partei, engagierte Einzelkämpfer. Einer von ihnen ist Sebastian Beitlich, Gründungsmitglied der Thüringer Piratenpartei seit 2009. Sein Geld verdient der 35-Jährige als Informatiker. Zur Zeit ist er dabei, einen Kreisverband für Gotha zu organisieren. Mittlerweile zählen die Piraten in der thüringischen Kleinstadt bereits 28 Mitglieder.
Kompromisslose Transparenz
„Wir verstehen uns als Mitmachpartei. Jeder kann bei uns Vorschläge einbringen. Jeder ist uns willkommen“, sagt Sebastian Beitlich. „Transparenz ist für uns kein leeres Wort. Per Internet kann jeder sehen und zuhören, wenn wir über die ein oder andere Sache diskutieren. Bei uns gibt es keine Sitzungen hinter verschlossenen Türen oder Klausurtagungen unter dem Ausschluss der Öffentlichkeit. Wir wollen, dass die Gespräche, die geführt werden müssen um eine Entscheidung herbeizuführen, öffentlich geführt werden. Wir wollen, dass die Bürger nicht erst mit den Ergebnissen konfrontiert werden, wenn nichts mehr zu machen ist. Beispielsweise wollen wir wissen, was ein Bürgermeister mit einem zukünftigen Investor bespricht. Natürlich wollen auch wir persönliche Angelegenheiten so weit wie möglich ausklammern. Aber bei Dingen, die alle betreffen, sehen wir keine Alternative. Nur kompromisslose Transparenz macht die Dinge nachvollziehbar und beugt Missverständnissen und Korruption wirksam vor.“ So erklärt sich auch der kommunalpolitische Anspruch der Partei, die lange Zeit vor allem als globale Kämpferin gegen Zensur und ein in Zeiten des WWW veraltetes Urheberrecht wahrgenommen wurde.
Auch wenn die Piraten in Gotha noch keine Mandate im Stadtrat haben, versuchen sie durch die Teilnahme an öffentlichen Rathaussitzungen Einfluss zu nehmen. Es sei vor allem diese Forderung nach Transparenz, die von den übrigen Parteien aufgegriffen wurde, sagt Beitlich. Seiner Aussage zufolge, wenden sich auch in der Landespolitik die etablierten Parteien regelmäßig mit inoffiziellen Anfragen zu internetspezifischen Themen an die Piraten. Ein erster Erfolg, findet Sebastian Beitlich. In Zukunft wolle seine Partei aber auch ihr Profil in der Bildungspolitik schärfen, kündigt er an. Zum Beispiel trete man für eine spätere Aufteilung der Kinder auf die verschiedenen Schultypen ein.
Mitläufer und Mitmacher
Angesichts der jungen Mitgliederstruktur der Piraten, klingt Beitlichs Einordnung in das etablierte Parteienspektrum zunächst überraschend: „Wir sind eine konservative Partei. Wir wollen Werte erhalten. Rechts und links sind für uns überholte Kampfbegriffe. Wir geben großen Teilen des Mittelstands eine politische Heimat. Gerade von dort kommen jetzt die meisten neuen Mitglieder, die spätestens durch unseren Wahlerfolg in Berlin auf uns aufmerksam geworden sind. Seitdem hat das Interesse von Leuten, die nicht direkt mit dem Internet zu tun haben, erheblich zugenommen.“ Diesen Zustrom sieht die Partei mit gemischten Gefühlen. Einerseits ist die wachsende Mitgliederzahl willkommen, anderseits wissen die Piraten der ersten Stunde auch um die Gefahr die darin liegt. Es sei schwierig die Mitläufer von echten Mitmachern zu unterscheiden, gibt Beitlich zu.
Die ursprüngliche Forderung, das Patentrecht und Urheberrecht zu vereinfachen, spielt immer noch eine zentrale Rolle im Programm der Partei. Die derzeitige Handhabung macht in den Augen der Piratenpartei für jeden Nutzer den freien, ungehinderten Zugang zu Wissen unmöglich. Uneingeschränkte Informationsfreiheit sei für eine zukünftig immer stärker vernetzte Gesellschaft unumgänglich, ist Sebastian Beitlich überzeugt. „Das heißt für uns völlige Freiheit, keine Zensur oder irgendeine Kontrolle. Jeder soll jede Information bekommen, die er braucht. Alles, was die Staaten - denn das betrifft ja nicht nur Deutschland - in Richtung Einschränkung des Internets unternehmen, lehnen wir daher ab. Wir sind für den selbstbestimmten Menschen. Dafür muss eben auch das Urheberrecht geändert werden. Den Einwand, dass der Künstler oder Wissenschaftler mit seinem Urheberrecht auch Geld verdienen muss, verstehen wir. Aber ein Tischler, der einen Stuhl herstellt, verkauft ihn nur einziges Mal. Er bekommt keine Vergütung von Jenen, die sich im Laufe der Zeit auf den Stuhl setzen. Warum soll also ein Künstler mit einem einzigen Lied, das ständig in den Medien läuft, über zig Jahre Geld verdienen?“
Einen wesentlichen Unterschied zu den etablierten Parteien sehen die Piraten auch darin, dass sie Koalitionszwang und Parteidisziplin bei Abstimmungen ablehnen. Sebastian Beitlich sagt es so: „Jeder ist seinem eigenem gesunden Menschenverstand verantwortlich. Sich gegenseitig zu behindern bringt niemanden weiter. Wir versuchen uns immer von der Vernunft leiten zu lassen.“ Diese Abstimmungen finden übrigens ganz traditionell mit Zetteln statt. „Das ist effektiv und sicher. Computer, das wissen wir am besten, können immer manipuliert werden“, sagt Beitlich.
Eine neue Partei für jede Generation
Die Offenheit und die internationale Aufstellung der Partei haben Sebastian Beitlich anfangs am meisten angezogen. Inzwischen ist er ein begeistertes Mitglied, das seine Zeit gern in den Dienst der Partei stellt, und das sind mittlerweile etwa 20 bis 30 Stunden pro Woche. Sein Ziel: bei den nächsten Kommunalwahlen in Thüringen 2014 wollen die Piraten in die Parlamente einziehen und bei der kommenden Bürgermeisterwahl 2018 einen eigenen Kandidaten aufstellen.
Ganz blauäugig ist Beitlich aber auch trotz der jüngsten Erfolge nicht. Wie bei vielen anderen Parteien, die mit dem Anspruch die politische Kultur zu verändern angetreten waren, sei es nicht ausgeschlossen, dass auch die Piraten auf die alten Gleise von Macht und Machtmissbrauch gerieten. „ Aber dann wäre es nicht mehr meine Partei. Dann würde es Zeit, eine neue Partei zu gründen. Vielleicht ist es überhaupt gut, wenn jede Generation ihre eigene neue Partei gründet, um auf die speziellen Probleme ihrer Zeit zu reagieren.“